Polens Kritik an Deutschland - Gekaufte Sozialdemokraten

Das Urteil über die deutsche Ukraine- und Russlandpolitik ist in Polen vernichtend. Im Zentrum der Kritik stehen die Sozialdemokraten. Aber auch Angela Merkel bekommt ihr Fett weg.

Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda mit Präsident Frank-Walter Steinmeier in Warschau im April 2022 / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

So erreichen Sie Thomas Urban:

Anzeige

In seltener Einmütigkeit attackieren das nationalpopulistische Regierungslager und die Opposition an der Weichsel die deutschen Nachbarn: Diese zögerten, die um ihr Überleben kämpfenden Ukrainer mit aller Kraft zu unterstützen. Sie seien dabei, ihren Ruf nachhaltig zu schädigen und ihre Position international zu schwächen. Ausführlich schildert die polnische Presse das Berliner Gezerre um die Lieferung schwerer Waffen und vor allem um ein Ölembargo, das die Deviseneinnahmen Moskaus empfindlich schmälern würde.

Noch vor anderthalb Monaten waren die Kommentatoren voll des Lobes für die „Zeitenwende“ der deutschen Politik, die Bundeskanzler Olaf Scholz verkündet hatte. Der Schwenk Scholz‘ hatte die Polen positiv überrascht, hatten doch zuvor die 5000 Helme, die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht als Unterstützung für die bedrohte Ukraine versprochen hatte, bei ihnen nur Häme und Empörung ausgelöst.

Anfängliches Lob

Nun aber äußern sowohl die linksliberale Gazeta Wyborcza als auch die von der Regierung alimentierten nationalistischen Medien Zweifel, ob es in Berlin wirklich den politischen Willen zur Durchsetzung der angekündigten Zeitenwende gibt. Zwar berichten die Warschauer Zeitungen von der Selbstkritik vieler Putin-Versteher unter den Berliner Politikern – das Wort hat sich auch in der polnischen Publizistik etabliert – an erster Stelle Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ex-Vizekanzler Siegmar Gabriel.

Diese bezeichneten nicht nur ihren Einsatz für die Pipeline Nord Stream als Fehler, sondern fügten auch betreten hinzu: „Wir hätten die Warnungen unserer osteuropäischen EU-Partner ernst nehmen sollen.“ Die Polen hören nun staunend aus dem Munde deutscher Spitzenpolitiker, dass sie recht hatten – das hat es wohl noch nie in der Geschichte gegeben. Doch in das Gefühl der Genugtuung mischt sich die Frage, welche Konsequenzen denn aus dieser Selbstkritik gezogen werden. Rücktritte in Berlin gab es keine, daher sehen polnische Beobachter diese Selbstbezichtigungen eher als rhetorische Versuche an, sich aus der Schusslinie zu nehmen.

Verdiente Klatsche für Steinmeier

Dass Steinmeier nicht mit seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda nach Kiew reiste, angeblich weil der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ihn ausladen ließ, bewertete die Warschauer Presse keineswegs als Kiewer Ungehörigkeit, sondern als verdiente Klatsche für den Hauptarchitekten der naiven deutschen Russlandpolitik. Man unterstellt, Steinmeier habe durch die anvisierte Reise die Absolution Selenskyjs für seine epochale und folgenschwere Fehleinschätzung der Absichten Putins erlangen wollen.

Auch Angela Merkel bleibt nicht länger von Kritik verschont. Einst war sie bei den Polen mit Abstand die beliebteste ausländische Politikerin, Umfragen zufolge genoss sie bei ihnen sogar deutlich mehr Vertrauen als die eigenen Spitzenpolitiker. Gelobt wurde sie, als sie nach einem Treffen mit Putin 2014 die Annexion der Krim und den russischen Angriff auf das Donbass, den der Kreml gerade bei den Deutschen mit einigem Erfolg auf Aufstand von Separatisten verkauft hatte, als „verbrecherisch“ bezeichnete. Putin stand damals mit zusammengekniffenem Mund neben ihr.

Doch nun sagt ihr getreuester Verbündeter in der EU, der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk, über sie: „Nord Stream war ihr größter Fehler.“ Für viele polnische Kommentatoren steht fest, dass Angela Merkel, wenn auch ungewollt, ihren Anteil daran hatte, Putin den Weg für seinen Angriff auf die Ukraine zu ebnen.

Schröder als personifizierte Unmoral

Doch die Hauptkritik aus Warschau richtet sich gegen die SPD. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass Steinmeier und Scholz einst enge Gefolgsleute des heutigen Gazprom-Lobbyisten Gerhard Schröder waren, der als die personifizierte Unmoral in der Politik gilt. Putin habe ihn gekauft, so heißt es von links wie von rechts an der Weichsel; Dass Schröder mit seinem Engagement für russische Rohstoffkonzerne den EU-Staaten eine solide und billige Energieversorgung sichern wollte, dieses Argument will man nicht gelten lassen.

Nicht minder hart urteilt die polnische Presse über Manuela Schwesig: Der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern wird Kungelei mit Gazprom vorgeworfen, sie habe somit ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Deutschen sich wirtschaftspolitisch erpressbar gemacht und somit leichtfertig den außenpolitischen Spielraum der EU stark beschränkt haben.

Warum verlor Moskau den Kalten Krieg?

Polnische Historiker legen dar, dass die prorussische Linie der SPD auf einer falschen Prämisse beruht, nämlich der Legende, dass die Ostpolitik Willy Brandts zur Auflösung des Ostblocks geführt habe und das unter ihm ausgehandelte große Erdgas-Röhren-Geschäft ein Friedensprojekt gewesen sei. Die Argumentation in Warschau stützt sich auf die veröffentlichten Dokumente des Moskauer Politbüros. Demnach hat die westdeutsch-sowjetische Wirtschaftskooperation unter Brandt und seinem Nachfolger Helmut Schmidt die Herrschaft Moskaus über Osteuropa nicht nur stabilisiert, sondern auch die exorbitante Hochrüstung des Kremls mitfinanziert.

Der Sowjetblock ist den Analysen der Moskauer Experten zufolge unter dem militär- und wirtschaftspolitischen Druck des Weißen Hauses unter Ronald Reagan zerborsten. Hinzu sei gekommen, dass die aufmüpfige Gewerkschaft Solidarność, Papst Johannes Paul II. im Rücken, mit ihrem passiven Widerstand die Parteiherrschaft in der Volksrepublik Polen unterhöhlte. Willy Brandt wird zwar bis heute für den Warschauer Kniefall gepriesen; doch bleibt unvergessen, dass er die Solidarność als Störfaktor bei den Versuchen der SPD-Führung ansah, in den achtziger Jahren die Entspannungspolitik nach den sowjetischen Interventionen in Afrika und Afghanistan wiederzubeleben. So gab es von ihm kein öffentliches Wort zur Unterstützung für die vom Regime verfolgten Aktivisten der polnischen Demokratiebewegung um die Solidarność.

Für die Warschauer Kommentatoren steht fest: Die SPD muss nicht nur ihre verkorkste Russlandpolitik aufarbeiten, sondern auch ihr Verhältnis zu den polnischen Nachbarn – wobei das eine unlösbar mit dem anderen zusammenhängt.

Anzeige