Ökozid als internationaler Straftatbestand - „Dann wären viele Tschernobyl-Verantwortliche ins Gefängnis gewandert“

Der britische Anwalt Philippe Sands will Ökozid als Straftatbestand am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verankern. Im Interview erklärt er, wo die Probleme liegen und warum er keine „Ligatabelle zwischen Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufstellen“ will.

Nach dem Reaktorunfall messen Spezialeinheiten auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl die Radioaktivität im Mai 1986 / dpa
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Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Philippe Sands, 60, ist ein britisch-französischer Anwalt  in der Kanzlei Matrix Chambers in London. Der Rechtsprofessor leitet das Zentrum für internationale Gerichte und Tribunale am University College London und ist viel übersetzter Autor. Seine beiden jüngsten Bücher sind bei S. Fischer auf Deutsch erschienen: „Rückkehr nach Lemberg: Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht“.

Herr Sands, Sie tragen eine Initiative mit, die Ökozid beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag etablieren möchte. Sind Sie optimistisch?

Ökozid ist keine neue Idee. Die US-Army hat Agent Orange, ein hochgiftiges, chemisches Entlaubungsmittel, im Vietnamkrieg eingesetzt. Bei der UN-Konferenz über die menschliche Umwelt 1972 in Stockholm hat sich Olof Palme dafür stark gemacht, Ökozid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu etablieren. Als das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes 1998 in Rom aus der Taufe gehoben wurde, einigte man sich auf vier Straftatbestände: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Ich war damals dabei und habe die Präambel mitverhandelt. Auf Ökozid konnte man sich damals noch nicht einigen.

Stehen die Chancen jetzt besser, weil der Klimawandel heute nicht mehr zu leugnen ist?

In Großbritannien macht sich eine kleine NGO namens „Stop Ecocide“ dafür stark. Vor einem Jahr wurde ich von ihnen beauftragt, mit einem Panel von zwölf internationalen Anwälten eine Definition auszuarbeiten. Die anderen vier Straftatbestände sollen Menschen schützen. Es gibt jetzt im Straftatbestand im Prinzip noch nichts, das einfach die Natur schützt, sondern nur die Folgen für Menschen. Die Idee ist, dass wir diese Gesetzeslücke füllen. Dann können sich Regierungen überlegen, ob sie das in den Statuten des IStGH festschreiben wollen. Denn letztlich entscheiden ja die Regierungen über die Gesetzeslage.

Philippe Sands / dpa

In Frankreich ist schon 2021 ein Gesetz zum Ökozid verabschiedet worden. Ist das ein guter Anfang?

Ich befasse mich jetzt gerade nur mit den internationalen Aspekten. In der Zusammenarbeit mit den anderen Juristen haben wir versucht, niemanden zu verschrecken, wir wollten unter allen zwölf Mitgliedern des Panels zu einem Konsens kommen. Das ist viel schwieriger als in der nationalen Gesetzgebung.

Der IStGH arbeitet seit 2002 wie ein Weltgericht auf Basis von Vertragsstaaten – anders als das Jugoslawientribunal, das in den 90er-Jahren von den Vereinten Nationen (UN) eingesetzt wurde.

Das ist genau das Problem. Drei von den fünf permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates – Amerika, Russland und China – sind dem IStGH nie beigetreten. Deshalb ist jede Formulierung für ein neues Gesetz besonders heikel, weil es weltweit einsetzbar sein sollte.

Und wie lautet nun Ihre Definition von Ökozid?

Das Schwierige war, dass die Ausgangslage anders ist als beim Genozid. Beim Genzoid ist immer klar eine Intention gegeben. Und zwar: jemanden zu vernichten. Der Ökozid aber wird nie mit der Intention begangen, die Natur zu vernichten. Es ist immer ein Zufall oder ein Unfall oder ein Nebenprodukt – man will etwas tun und in der Folge schädigt man die Umwelt.

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Bei Katastrophen wie einer Ölpest zum Beispiel, wie kann man die Verursacher belangen?

Das ist genau das Problem. Unter dem IStGH-Statut können keine Regierungen angeklagt werden, sondern nur Individuen. Das umfasst aber auch CEOs von Ölfirmen oder Minister. Unsere Definition lautet deshalb: „Ökozid heißt, dass eine ungesetzliche oder mutwillige Tat mit dem Wissen begangen wird, dass eine substanzielle Wahrscheinlichkeit besteht, der Umwelt schwerer oder weitreichender Schaden zuzuführen.“

Gehören grundsätzlich auch Atomkraftwerke dazu? Macht sich eine Regierung potentiell strafbar, wenn sie sie betreibt und dort ein Unfall passiert?

Haben Sie die Fernsehserie „Chernobyl“ gesehen? Man sieht im Detail, wie die einzelnen Akteure gehandelt haben. Nicht nur im Kernkraftwerk selbst, auch in der Regierung in Moskau wurden unverantwortliche Entscheidungen getroffen. Schon vor dem Unfall wurde nicht dafür gesorgt, dass es genügend Sicherheitsvorkehrungen gab.

Wenn es den IStGH schon gegeben hätte und die Sowjetunion beigetreten und der Fall als Ökozid vor dem Gericht gelandet wäre – da sind viele „Wenn“ dabei …

Ja, aber dann wären viele von den Tschernobyl-Verantwortlichen ins Gefängnis gewandert.

Gibt es dann überhaupt die Chance, dass eine Regierung einem Ökozid-Gesetz zustimmt?

Das müssen natürlich die Regierungen entscheiden. Die Funktion des Strafrechts ist es, das Denken einzelner Akteure zu ändern und mehr Bewusstsein zu erzeugen. Das bringt uns zu den Nürnberger Prozessen 1945 zurück. Angesichts der Nazi-Verbrecher auf der Anklagebank fragten sich Juristen wie Hersch Lauterpacht und Rafael Lemkin damals: Wie können wir sicherstellen, dass das nie wieder passiert? Und sie hatten die gleiche Antwort wie wir heute für den Ökozid: Indem man das Strafrecht auf internationalem Niveau dazu benutzt, Verbrechen wie Genozid zu kriminalisieren. Heute weiß jeder, der Genozid oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, dass er sich damit strafbar macht. Und dass es eine Untersuchung gegen ihn geben könnte. Und vielleicht eine Anklage. Und gegebenenfalls auch ein Verfahren. Eines ist damit klar: Wenn es international verfolgbar ist, dann kann ein Verbrechen nicht mehr unter Berufung auf nationale Gesetzgebung begangen werden, die es unter Umständen ja erlauben könnte.

Es gibt die Initiative „The planet vs Bolsonaro“. Der brasilianische Präsident soll vor den IStGH gebracht werden, weil die von ihm verursachte Vernichtung des brasilianischen Amazonas-Gebietes als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt. Brauchen wir am Ende gar keinen Ökozid-Strafbestand?

Ich beobachte die brasilianische Initiative mit Interesse. Ich glaube aber, dass es nicht unbedingt so ist, dass das Konzept der Verbrechen gegen die Menschlichkeit alle Umwelt-Verbrechen abdeckt.

Sie haben sich in Ihrem Buch „Rückkehr nach Lemberg“ mit Ihrer eigenen Familiengeschichte angesichts des Genozid-Tatbestandes beschäftigt. Fürchten Sie, dass man Sie kritisieren wird, mit dem Tatbestand des Ökozids die Bedeutung des Genozids zu schmälern?

Lassen Sie mich eine Anekdote erzählen. Ich war bei einem Talk im Holocaust-Museum von Los Angeles anlässlich meines Buches „Rückkehr nach Lemberg“. Danach sagte eine alte Dame zu mir: „Mr. Sands, ich bin eine Auschwitz-Überlebende. Ich höre Sie hier über Ruanda reden. Warum haben Sie nicht gesagt, dass der Holocaust das Schlimmste ist, was jemals in der menschlichen Geschichte verbrochen wurde?“ Ich sagte: „Bei allem Respekt gegenüber Ihnen und Ihrer Familie, ich mag keine Hierarchien des Horrors. Für die Menschen, die in Ruanda gestorben sind, war das das Schlimmste, was in der Geschichte passiert ist.“

Für viele Überlebende des Holocaust ist die Anerkennung wichtig, dass es sich bei der Vernichtung der Juden um ein einmaliges Verbrechen handelte.

Ich will einfach keine Ligatabelle zwischen Genoziden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufstellen. Wenn wir heute über Morde, Folter und Vergewaltigung sprechen, dann wollen wir das Bewusstsein dafür stärken, dass es sich hier um Verbrechen handelt. Wenn wir die Umwelt schützen können, indem wir das internationale Strafrecht auffahren, dann dient das in keiner Weise dazu, den Genozid und den Holocaust gegen die Juden kleinzureden.

Die Fragen stellte Tessa Szyszkowitz.

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