Offiziersmord von Katyn - Der Geheimdienst des Kremls beschuldigt wieder die Deutschen

Laut einem Bericht des Auslandssenders des Kreml sollen nicht Soldaten der Roten Armee, sondern deutsche Besatzer das Massaker von Katyn begangenen haben. Der Bericht strotzt vor Falsch- und Fehlinformationen – und lässt Entscheidendes weg.

Das Archivbild zeigt Menschen an einem der freigelegten Massengräber von Katyn
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Die offizielle Geschichtspolitik Moskaus, die kritische Studien zur Roten Armee unter Strafe stellt und die sowjetischen Geheimdienste glorifiziert, hat eine neue Eskalationsstufe erreicht: Laut einem Bericht von RT, dem Auslandssender des Kremls, lassen neue Archivfunde den Schluss zu, dass es doch die deutschen Besatzer waren, die im Zweiten Weltkrieg in der Nähe des russischen Dorfes Katyn im Bezirk Smolensk rund 4400 polnische Offiziere, Fähnriche und Beamte erschossen haben.

Der Ortsname Katyn ist ein Schlüsselbegriff von Glasnost und Perestroika unter Michail Gorbatschow, er steht für die Versuche, die Verbrechen der Sowjetzeit nach Jahrzehnten der Vertuschung ernsthaft aufzuarbeiten: 1990 hatte Gorbatschow erstmals eingeräumt, dass genau 50 Jahre zuvor die militärisch organisierte Geheimpolizei NKWD die Polen ermordet hatte. Zwei Jahre später übergab der russische Präsident Boris Jelzin bei einem Staatsbesuch in Warschau Kopien des Entwurfs für den Exekutionsbefehl, den Stalin und weitere Mitglieder des Politbüros unterzeichnet hatten.

Die Massengräber im Wald von Katyn wurden im Frühjahr 1943 nach Hinweisen aus der örtlichen Bevölkerung von Soldaten der Wehrmacht entdeckt. Mehrere Untersuchungskommissionen, darunter eine Delegation von Gerichtsmedizinern aus zwölf Ländern sowie Forensiker des Polnischen Roten Kreuzes, kamen aufgrund von Dokumenten, die bei den Toten gefunden worden sind, zum Schluss, dass diese im Frühjahr 1940 erschossen wurden. Damals aber gab es noch keine deutschen Soldaten in der Region, die Täter waren demnach auf sowjetischer Seite zu suchen. 

Absturz der polnischen Präsidentenmaschine

Als die Wehrmacht im Herbst 1943 von der Roten Armee aus dem Raum Smolensk verdrängt wurde, setzte die sowjetische Führung eine eigene Untersuchungskommission ein, deren Ergebnis im Januar 1944 auch auf Englisch veröffentlicht wurde: Die Mörder seien doch die Deutschen, sie hätten die Polen im Sommer 1941 erschossen, nachdem sie die Region erobert hatten. Laut RT wurden die Akten, die angeblich auf die deutsche Täterschaft hinweisen, im Archiv der Smolensker Abteilung des Inlandsgeheimdienstes FSB gefunden. 

Der FSB widerspricht somit der bisherigen Position Moskaus: Am 7. April 2010 hatten Wladimir Putin, damals vorübergehend Premierminister, und sein polnischer Amtskollege Donald Tusk in Katyn gemeinsam der Opfer des Stalinismus gedacht, es war drei Tage vor dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk, die dieses Treffen völlig in den Hintergrund gedrängt hat. Auch Putins Platzhalter im Kreml, Dmitri Medwedew, ehrte die polnischen Offiziere, er übergab den Polen weitere Dokumente über die Täter aus dem NKWD. 2012 weihte der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. eine Kirche neben dem Friedhof von Katyn ein, an dem Gottesdienst nahm eine Delegation aus Warschau teil. 

All diese Informationen fehlen in dem Bericht von RT. In russischen Buchhandlungen liegen seit einem Jahrzehnt nur Bücher aus, die die Version von den deutschen Tätern auswalzen, auch in den staatlichen Sendern kommen seit Jahren nur Historiker zu Wort, die den NKWD von jeglicher Schuld freisprechen. Wladimir Putin selbst hat die Linie vorgegeben: Die allermeisten Angehörigen des sowjetischen Geheimdienstes, der zunächst Tscheka, dann GPU, NKWD, MGB und zuletzt KGB hieß, seien „aufrichtige Staatsdiener und Patrioten“ gewesen.

Ein plausibler Wert für das Todesjahr 1940

Die Akten, die RT nun als sensationellen Fund darstellt, sind allerdings der Forschung längst bekannt. Die russische Historikerin Inessa Jaschborowskaja hat bereits vor anderthalb Jahrzehnten in einem Buch über Katyn nachgewiesen, dass es sich bei dem Fall des Wehrmachtssoldaten Ludwig Schneider, der im Mittelpunkt des RT-Berichts steht, um eine Manipulation handelt: Schneider gehörte zu den deutschen Kriegsgefangenen, die der Militärgeheimdienst Smersch (die Abkürzung steht für Smiert schpionom – Tod den Spionen) vor dem ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1945/46 als Zeugen für die angebliche deutsche Täterschaft vorbereiten sollte. Moskau hatte im Vorfeld des Prozesses Katyn auf die Liste der deutschen Kriegsverbrechen gesetzt.

Schneider wurde für die Aussage trainiert, dass der Leiter der Exhumierungen im Wald von Katyn, der deutsche Medizinprofessor Gerhard Buhtz, die Ergebnisse der Untersuchungen gefälscht habe: Angeblich habe Schneider den Rostbefall an einem in den Massengräbern gefundenen Messer ermitteln sollen, Buhtz habe die von Schneider angegebene Prozentzahl mehr als verdoppelt, um einen plausiblen Wert für das Todesjahr 1940 zu bekommen, dem zufolge der Massenmord auf das Konto des NKWD geht.

Doch nicht nur nur aus den sowjetischen Akten, die Jaschborowskaja ausgewertet hat, sondern auch aus den Beständen des Wehrmachtsarchivs in Berlin (Deutsche Dienststelle) geht hervor, dass der 1923 in Saarbrücken geborene Schneider kein Assistent von Professor Buhtz war, er war nicht einmal in denselben Verbänden der Wehrmacht eingesetzt. Vermutlich sind sich die beiden nie begegnet. Auch ein Laborant namens Karl Schmitz, der in dem RT-Bericht erwähnt ist, gehörte nicht dem Stab von Buhtz in Smolensk an.

Das weitere Schicksal des angeblichen Zeugen

Arno Dürre, ein weiterer deutscher Kriegsgefangener, der ebenfalls für Nürnberg vorbereitet wurde, gab nach seiner Freilassung aus dem Gulag Mitte der 50er Jahre an, dass die potenziellen Zeugen für die deutsche Täterschaft von Smersch vor die Alternative gestellt wurden: Galgen für Kriegsverbrecher oder ein paar Jahre Arbeitslager, dann die Entlassung nach Deutschland, wenn sie in Nürnberg im Sinne der sowjetischen Delegation aussagen. Dürre hat im Leningrader Prozess vom Januar 1946 angegeben, er habe zu der Einheit gehört, die die von der SS erschossenen Polen habe begraben müssen. 

Über den Fall Dürre, der während des kurzen „Tauwetters“ 1956 in die Bundesrepublik ausreisen konnte, hat Jaschborowskaja ebenfalls vor anderthalb Jahrzehnten publiziert, der Verlag hat das Buch allerdings aus dem Angebot genommen. Dürre ist in einem Film der sowjetischen Wochenschau über den Leningrader Prozess zu sehen (02:36), seinе in Leverkusen lebende Tochter hat ihn identifiziert. Über das weitere Schicksal des angeblichen Zeugen Ludwig Schneider aber wurde nichts bekannt.

Im Wald von Katyn

Eine Erfindung der sowjetischen Geheimdienste ist ganz offenkundig der im RT-Bericht erwähnte polnische Gerichtsmediziner Boleslaw Smektal, der im Wald von Katyn zu dem Ergebnis gekommen sein soll, dass die Deutschen seine Landsleute ermordet haben. Über die Ärztekommission von Katyn liegen mehrere Dokumentationen vor, ein Boleslaw Smektal ist nirgendwo erwähnt. Auch einen Sturmbannführer Gepner, den nun der von RT zitierte Smersch-Bericht aufführt, hat es laut dem Archiv der SS-Mitglieder nie im Raum Smolensk gegeben. Die sowjetischen Geheimdienste haben ganz offenbar munter nicht nur Tatbestände sondern auch Täter erfunden, man konnte ja damals nicht ahnen, dass es Jahrzehnte später das Internet mit Suchmaschinen und digitalisierten Archiven gibt.

Die Oberaufsicht über die Vorbereitungen für Nürnberg führte Andrej Wyschinski, der bei den großen Schauprozessen der 30er Jahre als Generalstaatsanwalt der UdSSR die Angeklagten nicht nur vulgär beschimpft, sondern zuvor auch persönlich die Drehbücher für die Verfahren mit ihren teils absurden Anklagen verfasst hatte. Auf welche Weise Wyschinski während des ersten Nürnberger Prozesses die Fäden gezogen hat, haben vor drei Jahrzehnten ebenfalls russische Historiker detailliert aufgearbeitet. Die Militärstaatsanwaltschaft hatte unter Boris Jelzin die Namen der tatsächlichen Exekutoren aus dem NKWD ermittelt, unter ihnen war Dmitri Tokarew. Seine Befragung durch russische Ermittler wurde 1991 gefilmt, sie steht auf YouTube.

Die sowjetische Delegation hat letztlich darauf verzichtet, in Nürnberg deutsche Zeugen auftreten zu lassen. Ihren Part übernahmen zwei Russen und ein bulgarischer Gerichtsmediziner, der laut den nach dem Fall des kommunistischen Regimes publizierten Akten zu seiner Aussage erpresst wurde. Allerdings musste der sowjetische Hauptankläger Roman Rudenko in Nürnberg eine schwere Niederlage hinnehmen, denn die Amerikaner blockierten seinen Versuch, die Causa Katyn den Deutschen anzulasten.

Dossiers über deutsche Kriegsverbrechen

Die Hintergründe dafür wurden erst vor einem Jahrzehnt bekannt. Ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier spielte dabei die entscheidende Rolle: Fabian von Schlabrendorff, der zu dem Verschwörerkreis um Stauffenberg gehört hatte. Die Gestapo hatte ihn nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 verhaftet, er überstand die Folter, ohne weitere Mitverschwörer zu verraten, und erlebte das Kriegsende als KZ-Häftling. Nach seiner Befreiung verfasste er Berichte für den amerikanischen Geheimdienst OSS über die Verstrickung der Wehrmachtsführung sowie über die Haltung der Kirchen zu Hitler

Seine Berichte ergänzten die Informationen, die die Amerikaner bereits hatten, auf das Beste, sodass der OSS-Chef William Donovan, wegen seiner gefürchteten Temperamentsausbrüche „Wild Bill“ genannt, Schlabrendorff inoffiziell in seinen Beraterstab für Nürnberg aufnahm. Dieser Stab sollte Dossiers über deutsche Kriegsverbrechen für den amerikanischen Hauptankläger Robert H. Jackson zusammenstellen. Donovan bat Schlabrendorff, der exzellent Englisch sprach und im Zivilberuf Rechtsanwalt war, um eine juristische Bewertung der sowjetischen Anklageschrift.

Der Autor hat bei C. H. Beck das Buch 
„Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens“ publiziert. 

Seine handschriftliche Analyse, die heute im Archiv der amerikanischen Cornell University liegt, überraschte die Amerikaner, denn bislang hatten sie die sowjetische Version akzeptiert. Die deutsche Version, nach der der NKWD die Polen erschossen hatte, tat das Weiße Haus in Washington dagegen als Propagandakampagne von Goebbels ab. Doch Schlabrendorff legte dar, dass Katyn sehr wohl ein sowjetisches Verbrechen war. Er verwies darauf, dass er selbst während der Exhumierung der Massengräber dem Stab der Heeresgruppe Mitte in Smolensk angehört hatte und die Berichte der von den Deutschen eingesetzten Untersuchungskommissionen kannte. Da Schlabrendorff den Amerikanern eine Fülle von Informationen über Verbrechen der deutschen Besatzer in Russland geliefert hatte, war er für sie absolut glaubwürdig. Jackson sorgte nun dafür, dass der Anklagepunkt Katyn trotz der vorausgegangenen Zeugenbefragungen aus dem weiteren Verfahren gestrichen wurde.

Grundlegende Fragen bleiben offen

In aktuellen russischen Publikationen zu Katyn ist die Rolle Donovans und Schlabrendorffs in Nürnberg nicht erwähnt. Darüberhinaus können die heutigen Moskauer Verfechter der Version von der deutschen Täterschaft grundlegende Fragen nicht beantworten:

  • Warum hatten die erschossenen Polen Winterkleidung an, wenn ihre Exekution im Sommer 1941 stattgefunden haben soll?
  • Warum hat Stalin 1943 eine Untersuchung der Gräber von Katyn durch Experten des Internationalen Roten Kreuzes untersagt, wenn doch die Deutschen die Täter gewesen sein sollen?
  • Warum hat die sowjetische Untersuchungskommission unter Leitung des Medizinprofessors Nikolai Burdenko 1944 keine ausländischen Experten hinzugezogen, obwohl sogar die polnischen Kommunisten darum gebeten hatten?
  • Warum durfte der Abschlussbericht der Burdenko-Kommission nicht in der Sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, veröffentlicht werden?
  • Warum haben die Behörden der DDR und der Volksrepublik Polen nie nach den angeblichen deutschen Tätern von Katyn gefahndet? Für alle nachweisbaren deutschen Kriegsverbrechen wurden in Polen und der Sowjetunion breit angelegte Verfahren eröffnet, nicht aber für Katyn.
  • Warum ist in allen Ausgaben der Großen Sowjetenzyklopädie, die ausführliche Artikel über deutsche Kriegsverbrechen enthält, ab Mitte der 1950er Jahre Katyn nicht einmal erwähnt?
  • In Moskauer Archiven lagern die in Berlin 1945 sichergestellten Akten des Propagandaministeriums von Goebbels, der Berliner Gestapo-Zentrale sowie der Einsatzgruppen der SS und der Heeresgruppe Mitte, die 1941 bis 1943 im Raum Smolensk standen. Dokumente aus diesen Akten wurden immer wieder bei Kriegsverbrecherprozessen in der Sowjetunion präsentiert. Warum aber wurde in diesen Aktenbeständen bislang kein einziges Dokument zur deutschen Täterschaft in Katyn gefunden? Doch offenbar deshalb, weil es ein derartiges Dokument nicht gibt.
  • Warum waren die Katyn-Dokumente, die erst Gorbatschow und dann Jelzin präsentierten, mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen, wenn es doch offiziell ein deutsches Verbrechen war?
  • Warum hat der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der mit Segen Stalins Dutzende von Artikeln über deutsche Kriegsverbrechen veröffentlichte, keinen einzigen Text über Katyn geschrieben?
  • In der Sowjetunion wurden deutsche Kriegsverbrechen Gegenstand zahlreicher Romane und Spielfilme. Doch warum war das Thema Katyn tabu?
  • 1991 gab die russische Militärstaatsanwaltschaft zwei weitere Orte bekannt, an denen der NKWD 1940 Tausende von polnischen Kriegsgefangenen exekutiert hatte: Charkow und Kalinin (heute: Twer). Die Gräber der in Kalinin Exekutierten wurden in der Nähe des Dorfs Mednoje exhumiert, mehr als 5000 Tote. Doch dem Kreml nahestehende Autoren machen auch dafür die deutschen Besatzer verantwortlich. Allerdings waren Mednoje und Umgebung laut dem sowjetischen Kriegstagebuch nur einen einzigen Tag lang, nämlich am 29. Oktober 1941, unter deutscher Kontrolle. Wie sollen die Deutschen an einem Tag diese Masse an Erschossenen beerdigt haben und das zu einem Zeitpunkt, als in der Gegend heftige Kämpfe stattfanden?

Die jüngste RT-Publikation ändert nichts am bisherigen Forschungsstand: Die deutschen Besatzer haben in der Sowjetunion unermessliche Verbrechen begangen. Doch im Falle Katyn belegen auch die vor drei Jahrzehnten von Moskau amtlich veröffentlichten Dokumente eindeutig, dass der NKWD die Polen ermordet hat. Katyn ist wohl der einzige Fall, in dem Goebbels, ein notorischer Lügner im Dienste eines verbrecherischen Regimes, den Sachverhalt im Wesentlichen tatsachengerecht dargestellt hat. 

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