Offener Brief an Wolfgang Ischinger - Münchner Sicherheitskonferenz: Deeskalation der Ukraine-Krise!

Die Münchner Sicherheitskonferenz, die am 18. Februar beginnt, wird in diesem Jahr von Russland boykottiert. Die internationale Tagung sei nicht mehr objektiv, sondern nur mehr ein transatlantisches Forum, heißt es aus Moskau. Friedbert Pflüger appelliert an den Vorsitzenden der Konferenz, Wolfgang Ischinger, sich dennoch für eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts einzusetzen - und Waffenlieferungen an die Ukraine abzulehnen.

Leitet die Münchner Sicherheitskonferenz seit 2008: Wolfgang Ischinger / dpa
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Autoreninfo

Dr. Friedbert Pflüger lehrt am CASSIS, Universität Bonn Internationale Klima- und Energiepolitik und ist seit 2014 Senior Fellow des Atlantic Council der USA. Er war 16 Jahre Bundestagsabgeordneter (CDU) und Verteidigungs-Staatssekretär in der ersten Regierung Merkel. Pflüger ist seit 2009 Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Bingmann Pflüger International (BPI).

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Lieber Wolfgang,

ab dem 18. Februar 2022 werden die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) und Du als ihr Vorsitzender im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in vielen Teilen der Welt stehen. Ich bin seit 1994 – damals als junger Bundestagsabgeordneter – immer dabei gewesen und habe oft erlebt, wie es Deinen Vorgängern, vor allem aber Dir, gelungen ist, am Rande der Veranstaltung durch vertrauliche Gespräche konkrete Fortschritte in internationalen Krisen zu erzielen. Mit Hinblick auf die Ukraine-Krise war das auch diesmal Dein Ziel. Es ist deshalb traurig und ein schwerer Fehler, dass Russland keine Regierungsvertreter schickt. Dennoch wünsche ich Dir als einem unserer ganz großen Diplomaten von Herzen, mit der MSC einen Beitrag zur Abwendung eines real drohenden Krieges mit desaströsen Folgen für uns alle zu leisten.

Deine Einlassungen zur Ukraine-Krise, etwa bei der CSU-Landesgruppe, habe ich aufmerksam verfolgt. Ich teile Deine Überzeugung, dass Deutschland gut daran tut, keine Sonderwege zu gehen, sondern eine geschlossene Haltung in EU und Nato anstrebt. Unsere Partnerschaft mit den USA bleibt unverzichtbar – auch wenn Angela Merkel im Mai 2017 zu Recht anmerkte, dass die Zeiten, in denen wir uns auf die USA verlassen konnten, „ein Stück weit“ vorbei seien.

Wolfgang, wir haben uns im Juni 1980 in Washington kennengelernt. Du warst damals Persönlicher Referent unseres Botschafters Peter Hermes, ich Student der Internationalen Politik, der an seiner Dissertation über US-Außenpolitik schrieb. Wir sind beide Kinder des Westens! Aber wir haben es auch immer für wichtig erachtet, Dialog und Interessenausgleich mit Russland anzustreben. Gerade, weil Moskau uns das momentan sehr schwer macht, müssen wir es weiter versuchen. Erlaube, dass ich Dir einige Überlegungen mit auf den Weg gebe:

1. Die neuen Schlafwandler – Die Gefahr eines nuklearen Krieges

Michael Stürmer, ein großer alter Mann der internationalen Politikwissenschaft, hat darauf hingewiesen, dass das gegenwärtige Kräftemessen leicht „jene Dynamik auslösen könne, die schon 1914 zur Katastrophe führte“. (Die Welt, 1.1.2022). In der Tat: Vor dem Hintergrund des bedrohlichen und inakzeptablen russischen Truppenaufmarschs liefern sich westliche Politiker, Experten und Medien derzeit einen Überbietungswettbewerb mit  immer härteren Drohungen und Sanktionsforderungen. Wer dabei nicht in der ersten Reihe stehen mag, sondern die Beweggründe der „anderen Seite“ verstehen möchte, wer neben entschiedener Reaktion auch auf Dialog und Diplomatie setzt, wird leicht diffamiert. Die Emotionen schaukeln sich hoch, nur wenige (darunter zum Glück Olaf Scholz und Emmanuel Macron) bleiben gelassen und halten Kurs in der Tradition der guten alten Harmel-Doktrin der Nato: Eindämmung und Entspannung.

Viele in Deutschland scheinen dagegen die Lehren der Weltkriege und das Leid der Bombennächte zu verdrängen. Die Atompilze von Hiroshima und Nagasaki sind unserem kollektiven Bewusstsein entronnen. Die historische Lehre wird vergessen, dass in einer Atmosphäre der Drohungen, Ultimaten, der Aufrüstung und Militäraufmärsche oft nur ein Funke ausreicht, um einen Flächenbrand auszulösen. Die verbreitete Gewissheit, der Krieg würde auf die Ukraine begrenzt bleiben, könnte sich als trügerisch erweisen. Niemand – auf beiden Seiten – will das Gesicht verlieren, niemand will schwächeln. Schlafwandeln wir so in den nächsten Krieg? Dieser würde allerdings – im Gegensatz zu 1914 und 1945 – auch mit nuklearen Waffen ausgetragen. Wenn die Wahrscheinlichkeit dafür zum Glück derzeit gering erscheint, so bleibt das „Restrisiko“ eines nuklearen Krieges unerträglich hoch.

2. Keine Eskalation – keine Waffenlieferungen

Deshalb ist rhetorische Abrüstung und Deeskalation das Gebot der Stunde. Und deshalb, Wolfgang – hier sind wir wirklich unterschiedlicher Meinung –, ist es richtig, dass die Bundesregierung Waffenlieferungen für die Ukraine ablehnt. Sie führen zur Aufheizung des Konflikts und könnten genau das provozieren, was sie verhindern wollen: Wenn Putin wirklich mit dem Gedanken eines Einmarsches spielt, warum sollte er dann warten, bis neue Waffensysteme installiert sind? Und haben die Waffenlieferungen in dieser Situation nicht auch eine zutiefst unmoralische Seite? Niemand im Westen, nicht einmal der größte „Falke“ in den USA, will mit eigenen Truppen die Ukraine verteidigen – aber man schickt Waffen, die den Krieg nicht verhindern, wohl aber das Leid der Menschen vergrößern. Schließlich: Niemand im Westen will eigene Soldaten in die Ukraine schicken, aber einige spielen mit dem Gedanken der Nato-Mitgliedschaft und damit der automatischen Beistandsgarantie für Kiew. Wenig überzeugend!

Die Bundesregierung weist zu Recht auch auf die Geschichte hin: Der Überfall Nazi-Deutschlands führte zu 27 (!) Millionen Toten in der Sowjetunion. 1987 war ich als Pressesprecher von Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf dem Piskarskowje-Friedhof im damaligen Leningrad. Eine halbe Million Soldaten, Frauen, Kinder, Greise liegen dort begraben, Opfer der deutschen Blockade, die die Menschen aushungern und vernichten sollte. Zu den Klängen der Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch schritten wir mit den Außenministern Genscher und Schewardnadse durch die Reihen der Gräber. Nie wieder! 

3. Neutralität, keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine

Du weißt, Wolfgang, dass ich im Bundestag einer der ersten und entschiedensten Befürworter der Nato-Öffnung war. Bis heute bin ich der Meinung, dass das richtig war, um den jungen Demokratien in Mitteleuropa Stabilität und Sicherheit zu geben. Aber der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe, sein Generalinspekteur Klaus Naumann, auch wir Abgeordnete auf unserer Ebene, kommunizierten in Moskau jeden Schritt und unterstrichen, dass sich die Nato-Öffnung nicht gegen Russland richte. Auch Moskau müsse doch das Interesse haben, ein unruhiges „Zwischeneuropa“ zu verhindern. In diesem Geist entstanden 1997 auch die Nato-Russland-Akte und der Nato-Russland-Rat.

Mit der beim Nato-Gipfel 2008 erklärten Absicht, auch die Ukraine und Georgien in das Bündnis aufzunehmen, endete jedoch die Bereitschaft der Russen, die Ausdehnung der Nato an ihren Grenzen hinzunehmen. Wladimir Putin machte klar, dass sein Land sich direkt bedroht fühle, und zeigte kurz darauf mit seiner Militärintervention in Georgien, wie ernst er das meinte. Angela Merkel und Nikolas Sarkozy bremsten das Projekt, es verschwand in den Schubladen.

Heute ist Russland politisch und militärisch stärker als vor 14 Jahren. Man mag die Idee von Einflusszonen der Großmächte für legitim erachten oder nicht: Sie war und ist Realität. Das Recht dazu haben übrigens gerade die USA seit der Monroe-Doktrin von 1823 immer für sich beansprucht und oft auch mit militärischen Mitteln dafür gesorgt, dass der eigene „backyard“ unter Kontrolle blieb. In der gleichen Logik sieht der Kreml eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft als Angriff auf russische Kerninteressen. Kann man den Russen das vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung verdenken? 1708 Karl XII., 1812 Napoleon I., 1914 Kaiser Wilhelm II., 1941 Adolf Hitler – die Angriffe aus dem Westen sind tief im Gedächtnis der russischen Nation verankert. In seinem faszinierenden Buch „Die Macht der Geographie“ erklärt Tim Marshall, dass „jeder russische Führer“ gleich welcher Ideologie sich dem gleichen Problem gegenübersieht: der flachen nordeuropäischen Tiefebene, die sich breit ins Herz Russlands erstreckt und kaum zu verteidigen ist. US-Streitkräfte noch dichter vor der Haustür? Nicht nur Putin, jeder Nachfolger – selbst im (unwahrscheinlichen) Fall, dass das ein liberaler Demokrat wäre – würde sich wehren.

Es ist wahr: Die Charta von Paris aus dem Jahr 1990 garantiert den Staaten Europas die freie Bündniswahl. Aber das bedeutet keine Aufnahmegarantie. Im Gegenteil hat die Nato in der 1995 verabschiedeten Beitrittsstudie und im sogenannten Membership Action Plan (MAP) von 1999 klare Erwartungen an neue Mitglieder formuliert: Nicht zuletzt sollten ethnische und territoriale Streitigkeiten eines Aspiranten vor einer Aufnahme gelöst sein. Wenn die Ukraine Mitglied würde, dann mit oder ohne die Krim? Allein deshalb hat kein Verantwortlicher im Westen ernsthaft vor, die Ukraine auf absehbare Zeit in das Bündnis aufzunehmen. Man muss das nur endlich der Ukraine ehrlich erklären und nicht Illusionen wabern lassen! Für die Ukrainer ist diese durch die Geographie und die Macht des östlichen Nachbarn gegebene Situation derzeit schwer erträglich – aber sie ist allemal besser als ein Krieg. Eine Österreich- oder Finnland-Lösung, wie sie im Kalten Krieg beiden Ländern trotz militärischer Neutralität eine enge Anbindung an die westlichen Institutionen ermöglichte – ist heute der einzige Weg, den Frieden zu erhalten.

4. Eine zweite KSZE mit Klima-Projekten

In den nächsten Jahren muss die Spirale von Misstrauen und Hass zwischen der Ukraine und Russland abgebaut werden. Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) nach dem Vorbild von 1975 sollte ins Leben gerufen werden. Wie damals sollten die europäischen Staaten einschließlich Russlands und der Ukraine mit den USA und Kanada zusammenkommen und eine „Hausordnung“ ähnlich der Schlussakte von Helsinki erarbeiten. Keine Verschiebung von Grenzen, Anerkennung von Minderheiten (z.B. durch eine Südtirol-Lösung für die Ostukraine), grundlegende Menschenrechte, Förderung des Tourismus, des Kultur- und Jugendaustauschs, Vertrauensbildung durch Transparenz bei Militärmanövern, Abrüstung und Transparenz im Cyberspace – und vielleicht ein weiterer „Korb“ mit gemeinsamen Klima-Projekten: Erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Wasserstoff, Aufforstung, sichere Behandlung nuklearer Abfälle, Sanierung der Transit-Gaspipeline durch ein EU-Russland-Ukraine-Konsortium usw. Wenn wir an gemeinsamen Zukunftsprojekten im Interesse aller Seiten arbeiten, kann neues Vertrauen entstehen.  

Viel Erfolg und Glück, lieber Wolfgang!
Dein
Friedbert

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