Der Wandel des niederländischen und deutschen Parteiensystems - Ein hochkompetitiver Wählermarkt

In keinem anderen europäischen Land hat sich die Parteienlandschaft in den vergangenen Jahren so gewandelt wie in den Niederlanden. Eine politische Zersplitterung des Parteiensystems ist die Folge. Für die nächste Bundestagswahl in Deutschland werden ähnliche Entwicklungen vorhergesagt.

Der rechtsliberale Wahlsieger Mark Rutte (re.) mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders. / dpa
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Noch sind nicht alle Stimmen in unserem westlichen Nachbarland ausgezählt: Es fehlen vorläufig das Resultat aus der zweitgrößten Stadt Rotterdam und aus einigen kleineren Gemeinden. Aber bei knapp 37 Prozent dürfte sich das addierte Ergebnis der beiden liberalen Regierungsparteien bei den Parlamentswahlen in den Niederlanden einpendeln.

In keinem europäischen Land sind liberale Parteien auch nur annähernd so erfolgreich wie in den Niederlanden. Die rechtsliberale, marktwirtschaftlich orientierte Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) des alten und wohl auch neuen Ministerpräsidenten Mark Rutte und die linksliberalen Democraten 66 (D66) bilden zur Zeit eine Koalition mit den Christdemokraten (CDA) und der fundamental-calvinistischen ChristenUnie (CU). Über einen Zuwachs von zwei Sitzen kann sich die VVD freuen, gleich fünf Mandate mehr verbuchten die D66.

Wandel des Parteiensystems

Das niederländische Parteiensystem hat sich in den vergangenen 30 Jahren von Grund auf gewandelt. Noch in den 1990er Jahren glich es dem der Bundesrepublik, beherrscht von zwei großen Volksparteien, einer linken und einer rechten. Abwechselnd stellten die sozialdemokratische Arbeitspartei (PvdA) und die Christdemokraten, die erst 1980 als interkonfessionelle Sammlungspartei aus einer katholischen und zwei protestantischen Parteien hervorgegangen waren, mit Stimmenanteilen von meist über 30 Prozent den Ministerpräsidenten. Einen starken dritten Platz belegte allerdings – und hier zeigt sich ein erster wesentlicher Unterschied zu Deutschland – stets die VVD mit über 15, manchmal auch über 20 Prozent.

Über diese relativ stabile Parteienlandschaft brach bei der Parlamentswahl 2002 mit Wucht der Populismus herein, zunächst in Form der ganz auf ihren Gründer zugeschnittenen List Pim Fortuyn (LPF). Fortuyn hatte sich vor allem als Islamkritiker und streitbarer Gegner einer liberalen Einwanderungspolitik einen Namen gemacht. Er war wenige Tage vor dem Urnengang von einem linken Aktivisten ermordet worden, was maßgeblich dazu beitrug, dass seine Liste aus dem Stand 17 Prozent erzielte. Zugleich mit der rechtspopulistischen LPF stieg die einst orthodox-maoistische, aber unter ihrem charismatischen Vorsitzenden Jan Marijnissen auf einen pragmatischeren Kurs einschwenkende Sozialistische Partei (SP) zu einer signifikanten populistischen Kraft auf der Linken auf.

Farbenlehre der niederländischen Politik

Damit war der Geist aus der Flasche und ließ sich nicht mehr einfangen. Auf der Rechten trat bald der radikalere, zugleich aber strategischer agierende Volkstribun Geert Wilders in die Fußstapfen des politischen Abenteurers Fortuyn. Mit seiner Freiheitspartei (PVV) rivalisiert auf der Rechten seit einigen Jahren das Forum voor Democratie (FVD) des intellektuellen EU-Skeptikers Thierry Baudet, von dem sich mittlerweile eine weitere Gruppe, die Conservatieve Liberalen, abgespalten hat.

Links- und vor allem rechtspopulistische Parteien gehören fest zur Farbenlehre der niederländischen Politik, dazu ein wachsendes Sammelsurium von Single-Issue-Parteien, die sich nur einem einzigen Anliegen oder einer bestimmten Klientelgruppe zuwenden: die Partij voor de Dieren dem Tierschutz, 50Plus den Rentnern, Denk den Migranten.

Politische Zersplitterung

Nimmt man noch die zwischen Rhein und Ems sehr linke Ökopartei GroenLinks und die vor allem die im niederländischen Bibelgürtel von Seeland bis in den Raum Utrecht starken Parteien des politischen Calvinismus hinzu, dann offenbart sich das ganze Ausmaß der politischen Zersplitterung: Die Abgeordneten von 17 Parteien werden voraussichtlich im 150 Sitze zählenden Unterhaus des Parlaments, der Tweede Kamer, Platz nehmen. 35 davon werden der stärksten Fraktion, der VVD, angehören, 24 den D66, 17 der PVV und 15 dem CDA. Die restlichen 59 Mandate verteilen sich auf Parteien, von denen keine mehr als sechs Prozent auf sich vereint.

59 Sitze entfallen auf die beiden liberalen Parteien, 29 auf rechtspopulistische, 25 auf linke und der Rest auf Single-Issue-Parteien und die beiden calvinistischen Kleinparteien. Bleibt es beim Ausschluss der Wilders-Partei aus Planspielen für die Kabinettsbildung, müssen abermals mindestens vier Partner eine Mehrheitskoalition tragen. Nach der Wahl 2017 dauerten die Sondierungen, bis das Kabinett Rutte III im Amt war, volle sieben Monate. Diesmal könnte es schneller gehen, die vier Regierungsparteien VVD, D66, CDA und CU sind, trotz mancher Krise in den vergangenen vier Jahren, ein eingespieltes Team.

Jongleursakt der letzten vier Jahre 

Fragmentierung, Polarisierung, Tribalisierung und Volatilität sind die Merkmale, die das niederländische Parteiensystem in den letzten 20 Jahren beschreiben. Um eine Partei auf dem hochkompetitiven Wählermarkt überhaupt oberhalb der magischen Marke von 10 Prozent behaupten zu können, sind hohe Kompetenzwerte gefragt, ein überzeugendes personelles Angebot und die Fähigkeit, aus disparaten Milieus Koalitionen schmieden zu können.

Auf die letzten Jahre gerechnet haben vier Parteien in diesem Jongleursakt reüssiert. Wilders‘ PVV ist mit ihrem prononcierten Wohlfahrtschauvinismus vor allem tief ins Arbeiter und Untere-Mittelschicht-Milieu eingebrochen und hat die niederländische Sozialdemokratie förmlich pulverisiert. Dem CDA ist zwar das alte, christlich-bürgerliche Milieu beider Konfessionen weitgehend abhanden gekommen, er hat sich aber für dessen Verlust teilweise bei den Nachkommen von Einwanderern schadlos gehalten, die etwa das konservative Familienbild der Partei attraktiv finden.

Rutte auf Siegertreppchen

Eine besondere Integrationsleistung ist den beiden liberalen Parteien gelungen, die – die VVD eher auf dem Land und in kleineren Städten, die D66 in den Metropolen – alte und neue Eliten mit dem aufstiegsorientierten Teil der Arbeitnehmerschaft verklammern. Besonders Ruttes VVD gelingt dies mit einem überzeugenden Politikangebot, das einen dezidiert marktwirtschaftlichen Kurs mit haushälterischer Disziplin verknüpft. Dieser Politik verleiht der umtriebige Premier auch auf internationalem Parkett Glaubwürdigkeit, als inoffizieller Sprecher der „sparsamen Vier“.

Rutte, dem zu Anfang seiner Karriere ein zweifelhafter Ruf als politisches Leichtgewicht vorauseilte, steht bei der Frage nach dem beliebtesten Politiker des Landes hartnäckig oben auf dem Siegertreppchen. Aber auch ganz Kleine haben eine Chance, wenn sie mit Köpfen punkten können: Die paneuropäische Volt-Partei errang 2,3 Prozent und drei Sitze. Lokomotive war ihr Frontmann, der 35-jährige Laurens Dassen, einer der populärsten Politiker im Königreich.

So auch in Deutschland? 

Die Niederlande haben seit der Jahrtausendwende vorgemacht, wie rapide sich ein Parteiensystem wandeln kann, wenn gewachsene Milieustrukturen zerfallen, Struktur- und Wertewandel Platz greifen, neue Themen die alten verdrängen und mit dem Populismus rechter wie linker Prägung auch ein neuer Politikstil Einzug hält. Das Beispiel ist deshalb für Deutschland illustrativ, weil wir uns in demselben, hier aber zeitversetzt und weniger dynamisch verlaufenden Prozess befinden.

Die SPD hat bereits erleben müssen, dass ihre soziale Basis, auf die jahrzehntelang Verlass war, das gewerkschaftlich gebundene Arbeiter- und Arbeitnehmermilieu, dahingeschmolzen ist wie Schnee in der Sonne. Daran, dass die Union ihr mit gewissem Abstand folgen wird, kann kein Zweifel mehr bestehen.

Bei den Landtagswahlen am vorigen Sonntag in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hat die CDU Wahlkreise in der Eifel und in Oberschwaben an ihre Gegner abgeben müssen, in denen sie zu Kohls Zeiten selbst dann gewonnen hätte, wenn sie den sprichwörtlichen Besenstiel aufgestellt hätte. Vor 20 Jahren läutete Hartz IV das Ende der sozialdemokratischen Herzkammer im Ruhrpott ein; jetzt zerbricht ähnlich rasant das ländlich-katholische Milieu unter dem Strukturwandel und der Sinnkrise der Katholischen Kirche.

Der politische Marktplatz 

Gerade die beiden liberalen Gruppierungen in den Niederlanden sind aber auch ein Beispiel dafür, wie Parteien aus der Not eine Tugend machen und die neue Unübersichtlichkeit des politischen Marktplatzes als Chance für sich nutzen können. Dass es der SPD mit dem Personal, das sie hat und mit ihren verzweifelten Versuchen, sich an den woken Zeitgeist anzubiedern, gelingen wird, sich in der Petrischale des Elektorats neue Milieus heranzuzüchten, darf man bezweifeln.

Auch der Union, die in 16 Merkel-Jahren die Kunst der asymmetrischen Demobilisierung perfektioniert hat, traut man eine solche Leistung nicht zu, hat sie doch ihre politischen Charakterköpfe und vor allem ihren Markenkern, das Bewahrenswerte zu bewahren, gleich mit demobilisiert. Das Kunststück gelingen könnte den Grünen mit Politikern wie Winfried Kretschmann, die weit über die angesagten Kieze der Metropolen und bis tief in wertkonservative Kreise hinein hohes Ansehen genießen. Sie freilich müssten sich noch in der Regierungsverantwortung auf Bundesebene bewähren.

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