Die EU und die Nato - Der Nukleus der europäischen Armee

Die EU ist weit von einer strategischen Autonomie entfernt. Die Zukunft ihrer militärischen Sicherheit liegt innerhalb der Nato. Dennoch muss Europa endlich mehr Eigenverantwortung übernehmen. Drei konkrete Schritte könnten dabei helfen.

Frankreichs Präsident Macron will ein stärkeres Europa in der Nato
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Autoreninfo

Harald Kujat ist ein deutscher General a. D. der Luftwaffe. Er war von 2000 bis 2002 der 13. Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.

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In der vergangenen Woche legte eine von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg eingesetzte „Reflexionsgruppe“ unter Co-Vorsitz des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Thomas de Maizière einen Bericht mit dem Titel „Nato 2030: United for a New Era“ vor. Er soll mit 138 Vorschlägen eine Perspektive aufzeigen, wie die Nordatlantische Allianz geschlossener, einiger und handlungsfähiger wird. Offensichtlich ist dies die Therapie, mit deren Hilfe der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron diagnostizierte „Hirntod“ der Allianz vermieden werden soll.

Man mag den von Macron als Zustandsbeschreibung gewählten Begriff nicht für besonders freundlich halten, treffend ist seine Diagnose allemal. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hatte die Nato sich erstaunlich schnell auf die neuen sicherheitspolitischen Bedingungen und die veränderte geostrategische Lage in Europa eingestellt und weitreichende Konsequenzen gezogen. Bereits im November 1991 veröffentlichte sie ein „Strategic Concept“, das erste sicherheitspolitische Konzept ihrer Geschichte.

Sie verhandelte mit Russland einen Grundlagenvertrag mit einer strategischen Partnerschaft als Kern, gründete den Nato-Russlandrat der Generalstabschefs und auf politischer Ebene der Außen- und Verteidigungsminister sowie der Staats- und Regierungschefs, erweiterte mit dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat die Zusammenarbeit über die Mitgliedstaaten hinaus und änderte ihre regionale Kommandostruktur in eine funktionale, um nur einige Beispiele zu nennen.

Seit 15 Jahren im Dämmerzustand

Seit etwa 15 Jahren ist die Nato jedoch in einen Dämmerzustand gefallen, während die Welt sich um sie herum grundlegend im globalen Ausmaß veränderte. Die Nato befasste sich stattdessen ebenso wie die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik weiter mit den Erblasten des Kalten Krieges. An die Stelle der eurozentrischen Welt mit dem Westen und Osten als weltanschaulichem Gegensatz ist längst die Rivalität der großen Mächte getreten: China, die Vereinigten Staaten, Russland und bis zu einem gewissen Grade Europa. Da blieb es nicht aus, dass die Frage einer strategischen Autonomie Europas zum Gegenstand einer Kontroverse zwischen Frankreich und Deutschland wurde.

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Auslöser war ein Namensartikel der deutschen Verteidigungsministerin, in dem sie ein Ende der Illusion einer europäischen strategischen Autonomie und zugleich 
die Stärkung der deutschen und europäischen militärischen Fähigkeiten fordert. Sie ist davon überzeugt, dass Europa sowohl konventionell als auch nuklear auch künftig vom militärischen Schutz der USA abhängig ist. Präsident Macron reagierte prompt: Er sei zutiefst anderer Meinung und er bezeichnete Frau Kramp-Karrenbauers Position als eine historische Fehlinterpretation.

Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak nutzte die Kontroverse, um Polens enge militärische Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu betonen und bezeichnete den amerikanischen „Nuklearschirm“ als den einzigen glaubwürdigen Weg, um ein Gleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten. Zugleich forderte er einzelne europäische Staaten auf, ihre Verpflichtungen gegenüber der Allianz ehrlich und verantwortungsbewusst zu erfüllen. Gemeint war vor allem Deutschland.

Deutschlands großes Versäumnis

Die Standpunkte liegen allerdings nicht so weit auseinander, wie dies der Streit über Begriffe vermuten lässt. „Strategische Autonomie“ ist ein in der Europäischen Union seit langem feststehender Begriff, der sich allerdings auf die Verteidigungsindustrie bezieht. In letzter Zeit ist dessen Bedeutung erweitert worden, von einigen mehr, von anderen weniger. Es wäre daher sinnvoll, zu erklären, was damit gemeint ist, wenn man diesen Begriff verwendet. Noch besser wäre es, in der Union Einvernehmen über seine Definition anzustreben.

Es ist ein großes Versäumnis der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, dass Deutschland die sicherheitspolitische Abstimmung mit Frankreich und Polen in den letzten Jahren vernachlässigt hat. Gerade in einer Zeit großer Veränderungen, die zu Recht Fragen nach der Rolle der Allianz aufwerfen und angesichts der Bemühungen der Trump-Administration, einen Keil zwischen die europäischen Verbündeten zu treiben, wäre ein enger sicherheitspolitischer und strategischer Schulterschluss dieser drei Länder geboten gewesen.

Europa gerät ins Hintertreffen

In der Energieversorgung abhängig von Russland, in der Sicherheit von den Vereinigten Staaten, wirtschaftlich und technologisch sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von China, durch innere Widersprüche und zentrifugale Kräfte mit selbstgemachten Herausforderungen ringend, gerät Europa in der Machtarithmetik der Großmächte immer weiter ins Hintertreffen. Im Wesentlichen geht es nicht um strategische Autonomie, sondern um die politische, wirtschaftliche und militärische Selbstbehauptung Europas gegenüber den großen Mächten.

Die Allianz muss bereit sein, die Widersprüche zwischen den amerikanischen und europäischen Sicherheitsinteressen ebenso wie die wirtschaftlichen Gegensätze offen auszusprechen. Denn wie weit sich die amerikanischen und europäischen strategischen Interessen voneinander entfernt haben, zeigt die Kündigung des INF-Vertrages durch die Trump-Administration. Ein elementares Prinzip der Allianz wurde aufgegeben: die strategische Einheit des Bündnisgebietes und gleiche Sicherheit für alle Verbündeten. Russland hat freie Hand erhalten, ein eurostrategisches nukleares Potenzial aufzubauen, das Europa, aber nicht den amerikanischen Kontinent bedroht.

Auch für Biden gilt America first

Als sich der Wahlsieg Bidens abzeichnete, ist auf beiden Seiten des Atlantiks die Erwartung an den neuen Präsidenten gerichtet worden, die Verwerfungen im transatlantischen Verhältnis zu überwinden. Dabei sollte man jedoch nicht außer Acht lassen, dass auch Präsident Biden die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik an den amerikanischen Interessen ausrichten wird, zumal die über den Nordatlantik hinweg entstandenen Probleme in die Zeit vor der Trump-Administration zurückreichen. 

Die größten Herausforderungen für den neuen Präsidenten ist die sich verschärfende Rivalität der großen Mächte, in erster Linie mit China, sowie die Notwendigkeit, wieder als globale Ordnungsmacht Verantwortung in Krisen und Konflikten zu übernehmen. Diese Rolle wird jedoch auch bei Präsident Biden eine andere sein als in der Vergangenheit. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Esper hat die künftige strategische Ausrichtung auf eine kurze Formel gebracht: „Wir müssen uns (also) wegbewegen von Konflikten mit niedriger Intensität uns wieder vorbereiten auf hochintensive Kriegführung.“ Die Europäer werden daher in Zukunft mehr Verantwortung für die Lösung von Krisen und Konflikten an der europäischen Peripherie übernehmen müssen.

Mehr Eigenverantwortung für Europa

Japan, Indien und Australien haben aufgrund ihrer geostrategischen Lage im indo-pazifischen Raum eine besondere Bedeutung für die Auseinandersetzung mit China, während die Nato noch immer für die bilaterale Rivalität mit Russland eine strategische Schlüsselrolle spielt. Amerikanische Experten favorisieren sogar eine stärkere Verzahnung der Nato mit US-Partnern im Indo-Pazifik.

Um die transatlantische Schicksalsgemeinschaft, die Europa und den Vereinigten Staaten mehr als siebzig Jahre Sicherheit und ihren Bürgern ein Leben in Frieden und Freiheit gegeben hat, künftig vital und belastbar zu erhalten, muss Europa größere Eigenverantwortung in elementaren Sicherheitsfragen des Kontinents übernehmen. Denn nur als enger Verbündeter auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten lässt sich die politische, wirtschaftliche und militärische Selbstbehauptung Europas in der neuen Mächtekonstellation verwirklichen.

Weiterhin auf die USA angewiesen

Voraussetzung dafür ist in erster Linie die Stärkung der militärischen Fähigkeiten des europäischen Pfeilers in der Allianz, wodurch der politische und militärische Einfluss der Europäer in konzeptionellen und strategischen Fragen der Nato erheblich vergrößert würde. Deshalb hat Präsident Macron im Februar gefordert, die europäische Verteidigung zu einem kraftvollen Pfeiler innerhalb der Atlantischen Allianz auszubauen. Das ist das Gegenteil zur permanenten strukturierten Zusammenarbeit PESCO (Permanent Structured Cooperation) der Europäischen Union, die von Deutschland und anderen EU-Staaten vorangetrieben wird. Sie erfolgt parallel zur bewährten Nato-Kommandostruktur und bedeutet weder eine Stärkung der Nato noch trägt sie dazu bei, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten zu festigen.

Europa muss ja im Falle einer Bedrohung weiter auf amerikanische konventionelle Verstärkungen und auf die Abschreckungswirkung des nuklearstrategischen Potenzials der Vereinigten Staaten vertrauen. Die erratische Politik Präsident Trumps und insbesondere die Kündigung des INF-Vertrages hat daran berechtigte Zweifel aufkommen lassen. Aber wenn es solche Zweifel gibt, dann gilt diese Ungewissheit auch für einen potenziellen Aggressor.

Europäische Armee ist keine Alternative

Französische und britische Nuklearwaffen sind ebenso ein wichtiger Sicherheitsfaktor für Europa, weil sie das Kalkül eines potenziellen Angreifers komplizieren. Dass sie im Falle eines Angriffs auf Europa als ultima ratio zur Selbstverteidigung eingesetzt werden könnten, macht ihre Abschreckungswirkung glaubwürdig. Nicht zuletzt, weil französische und britische Nuklearwaffen zwar eine eigenständige (europäische) Abschreckungsfunktion haben, aber zugleich zur umfassenden nuklearen Abschreckung der Nordatlantischen Allianz beitragen.

Es besteht weitgehend Übereinstimmung, dass eine europäische Armee auf absehbare Zeit keine Alternative zur Nato ist. Denn eine europäische Regierung mit einem Verteidigungsminister, der einem Parlament verantwortlich ist, einer gemeinsamen militärischen Führung mit der Planungskompetenz für den Verteidigungsfall und für die integrierte Streitkräfteplanung ist für die vorhersehbare Zukunft keine realistische politische Option.

Deshalb ist Präsident Macrons Forderung, die europäische Verteidigungsfähigkeit durch die Stärkung des europäischen Pfeilers der Nato zu verbessern, ein überzeugender Weg, die Sicherheit Europas zu stärken und das transatlantische Bündnis mit den Vereinigten Staaten zu festigen. 

Drei konkrete Schritte

Konkret könnten dies beispielsweise die folgenden Schritte sein: Erstens müssten die europäischen Mitgliedsstaaten ihre Zusagen erfüllen und die Verteidigungsaufwendungen auf zwei Prozent des BIP erhöhen sowie die Investitionen für eine moderne Ausrüstung auf mehr als zwanzig Prozent des Verteidigungshaushalts steigern. Die Bereitschaft dazu ist auch von deutschen Politikern seit 2014 häufig erklärt, aber bisher nicht eingelöst worden.

Zweitens sollten Deutschland und Frankreich als sichtbares Zeichen eines größeren europäischen Engagements vorangehen und künftig in der Nato-Kommandostruktur im Wechsel den Strategischen Befehlshaber für Operationen (SACEUR) stellen, bisher traditionell ein Amerikaner. Im Gegenzug könnte ein amerikanischer Offizier Strategischer Befehlshaber Transformation, gegenwärtig ein Franzose, werden.

Drittens sollte die Nato Response Force (NRF) einen eigenen Führungsstab erhalten, und, wie ursprünglich beabsichtigt, nach verbindlichen Nato-Kriterien ausgerüstet und ausgebildet werden. Für die Dauer der Zuordnung zur NRF sollten die nationalen Verbände unter Nato-Kommando kommen (Nato Command Forces) und SACEUR unterstellt werden. Ein erheblicher Zugewinn an Interoperabilität sowie eine deutliche Verbesserung der Einsatzbereitschaft und der Reaktionsfähigkeit wären die Folge, mit der Option, eine schlagkräftige Truppe in sicherheitspolitischer und strategischer Verantwortung der Europäischen Union einzusetzen. 

Schärfung des europäischen Profils

Insgesamt würde damit das europäische Profil in der Nato geschärft und die Bereitschaft, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen, sichtbar betont. Europa könnte so einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung der transatlantischen Verwerfungen und zur Wiederherstellung größerer Gemeinsamkeit in sicherheitspolitischen und strategischen Fragen der Nordatlantischen Allianz leisten. Im Grunde könnte dies der Nukleus der „wahren“ europäischen Armee werden, die Präsident Macron gefordert hat, wenn einmal die politischen Bedingungen dafür bestehen sollten.

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