Nahostkonflikt und kein Ende - Warum Moral nicht weiterhilft

Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern flammt mit aller Gewalt wieder auf. Es ist immer leicht, die eine oder andere Seite moralisch zu verurteilen, wenn man das Schicksal der beiden nicht teilt. In Wahrheit ging es schon immer um geopolitische Interessen.

Israelische Panzer rücken im Juni 1967 auf der Halbinsel Sinai auf ägyptische Stellungen vor / dpa
Anzeige

Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

So erreichen Sie George Friedman:

Anzeige

Die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern intensivieren sich. Dennoch wäre es ein Fehler, dies als einen weiteren Krieg zu betrachten. Der Krieg wurde schon geführt, bevor Israel formal ein Staat war – und ging auch weiter, nachdem der Rest der arabischen Welt das Interesse an dem Konflikt verloren hatte. Jede Seite sieht sich selbst als Opfer, und stets wird darüber debattiert, wer das aktuelle Kapitel in diesem schon so lange anhaltenden Konflikt begonnen hat.

Die Position der Palästinenser ist einfach: Dies ist das Land, das sie besaßen, als ausländische Siedler es ihnen wegnahmen und eine Regierung einsetzten, die sie an den Rand drängte. Die israelische Position lautet, dass man nach der Shoah nirgendwo auf der Welt hingehen konnte, wo man vor einem abermaligen Holocaust sicher sein würde – also kehrten sie in ihre alte Heimat zurück.

Das moralische Argument ist mit der Zeit komplexer und bitterer geworden. Die Palästinenser argumentieren, dass sie nicht den Preis für einen europäischen Völkermord zahlen sollten. Die Israelis argumentieren, dass es so etwas wie einen palästinensischen Staat nie gegeben hat, dass er allenfalls immer eine Provinz anderer Mächte war.

Diese Argumente sind nicht füreinander bestimmt, sondern für den Rest der Welt. Bei seiner Gründung brauchte Israel andere Nationen, um sein moralisches Argument zu akzeptieren und somit seine Existenz als Staat zu legitimieren. Jetzt sind es die Palästinenser, die Unterstützung von außen fordern. Beide Seiten erhielten immer wieder Unterstützung aus dem Ausland, das sich allerdings weniger um ihr jeweiliges Schicksal kümmerte, sondern seinen eigenen zynischen politischen oder geopolitischen Vorteil suchte.

Hintergrundrauschen der Geopolitik

Es ist immer leicht, die eine oder andere Seite zu verurteilen, wenn man das Schicksal der beiden nicht teilt. Wenn der israelisch-palästinensische Krieg eine moralische Frage ist – und moralische Fragen als handlungsbestimmend angesehen werden –, dann scheint es, dass noch viele Kämpfe ausgefochten werden müssen. Moralische Haltungen, die nicht das Eingehen persönlicher Risiken beinhalten, sind das ewige, irrelevante Hintergrundrauschen der Geopolitik.

Die geopolitische Frage ist einfach. Israel wurde auf Land gegründet, auf dem Palästinenser lebten; es ging um die Notwendigkeit, einen verteidigungsfähigen Standort zu finden. Die Palästinenser wollten weder enteignet werden noch das Recht auf Selbstbestimmung in einer Welt verlieren, die es angenommen hatte. Die Angst vor dem Fremden ist überall verbreitet, und in jedem Land lauert diese Angst. Moralisten, die fordern, dass diese Angst aufzugeben sei, mögen sich besser fühlen. Aber sie tragen selbst nichts zur Lösung bei.

Die Angst und der Hass der Palästinenser und Israelis vor dem anderen ist real. Israel hat Palästina besetzt, weil es wenig andere Möglichkeiten hatte – und weil es dazu in der Lage war. Die Palästinenser haben sich gewehrt. Es ist schwer, sich eine zeitgenössische Nation vorzustellen, die nicht durch die Inbesitznahme eines Teils oder der Gesamtheit einer anderen Entität entstanden ist.

Die Migration von Juden nach Palästina begann vor mehr als einem Jahrhundert, und der Staat wurde vor mehr als 70 Jahren gegründet. Von welchem Zeitpunkt an hat man auf Grundlage von Moral das Recht dazu, Land einzufordern? Nach einem Jahrhundert? Oder einem Jahrtausend?

Von den moralischen Parolen einmal abgesehen, stellt sich die Frage, warum die Juden militärisch überlegen sind, wo sie doch in den zurückliegenden Jahrhunderten kein besonders kriegerisches Volk waren. Die Antwort ist der Kalte Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfiel das britische Empire, sodass es seine Besitzungen in Palästina aufgeben musste.

Wechselnde Verbündete

Der neu gegründete israelische Staat konnte die ihn angreifenden arabischen Staaten besiegen, weil die Briten sie unorganisiert und schlecht bewaffnet zurückgelassen hatten. Nach Israels Gründung leisteten die Sowjets, die das britische Empire ersetzen wollten, militärische Hilfe für Israel, dessen führende politische Kraft eine linke Partei auf der Suche nach einem Verbündeten war. Es gelang ihr nicht, einen solchen zu finden, und als es 1956 zur Suezkrise kam, ermutigten die Briten und Franzosen einen israelischen Angriff auf den Sinai.

Danach war Frankreich Israels größter Unterstützer – bis 1967, als die USA erkannten, dass Israel von Nutzen im Konflikt mit der Sowjetunion sein könnte, die in Ägypten, Syrien und im Irak als übermächtig angesehen wurde. Die Vereinigten Staaten sahen Israel als ein Gegengewicht. Ein Krieg im Jahr 1973 gegen die sowjetischen Verbündeten Ägypten und Syrien führte zu mehr US-Hilfe. Kurzum: Israel war ein Aktivposten für westliche Mächte, die andere Ziele verfolgten.

Palästinensische politische Organisationen waren ägyptische Einheiten. Der spätere PLO-Führer Yasser Arafat brachte eine enge Beziehung zu den Sowjets mit. Die PLO verband sich eng mit europäischen radikalen Gruppen, die Terroranschläge in Europa gegen jüdische und andere Ziele verübten. In den 1970ern und 1980ern war die PLO die dominierende arabische Gruppe, die mit dem sowjetischen Geheimdienst verbandelt war und eher zum Terrorismus neigte, als sich auf einen Territorialkrieg vorzubereiten.

Als die Sowjetunion zu kollabieren begann, war Israel dank seiner Partnerschaft mit den USA zu einer äußerst fähigen Militärmacht geworden. Die Ägypter und die Sowjets sahen in den Palästinensern ein Werkzeug, um ihre Feinde zu destabilisieren, versäumten es aber, eine moderne Armee aufzubauen, die Israel herausfordern konnte.

Die Schwäche der Palästinenser besteht darin, dass keine Großmacht sie als konventionelle militärische Kraft sah – besonders, weil die arabischen Länder keine so große militärische Kraft in ihren eigenen Ländern haben wollten. Also verlegten sie sich auf Entführungen und Bombenanschläge, trainierten aber keine konventionelle Kriegsführung.

Die Palästinenser können nicht gewinnen

Was sich heute in Gaza abspielt, ist ein modernes konventionelles Militär, das „Soldaten“ gegenübersteht, die von einer ganz anderen Kultur inspiriert sind. Die Hilfe, die Palästina heute vom Iran erhält, ändert das nicht grundlegend. Die Palästinenser können nicht gewinnen, aber sie können Israel Schaden zufügen.

Das ist eine jämmerlich unzureichende Erklärung für die palästinensische Schwäche und die israelische Stärke. Es gibt kulturelle Fragen, es gibt die Sicht der arabischen Staaten auf die Palästinenser und noch vieles mehr. Aber Israels militärische Fähigkeiten waren 1948 schlecht ausgebildet. Sie entwickelten sich schnell aufgrund des sowjetischen Einflusses in den arabischen Ländern und wegen des Interesses von Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten, diesem Einfluss entgegenzutreten.

Die Palästinenser werden von vielen als Opfer gesehen. Das ist hier kein praktikabler Begriff – aber wenn man ihn schon verwendet, dann waren sie nicht nur Opfer Israels, sondern auch Ägyptens, Syriens und der Sowjets, die zwar alle eine Verwendung für sie als kleine Gruppen von verdeckten Agenten hatten. Aber kein Interesse daran, dass sie eine moderne palästinensische Armee in einem Nachbarland aufbauten. Außerdem gab es kein Nachbarland, das eine solche Armee willkommen geheißen hätte. 

Eine Intifada mit ein paar Selbstmordattentätern wird Israel weder zu Fall bringen noch an den Verhandlungstisch zwingen. Und die Palästinenser haben keine Verbündeten, die ihnen dabei helfen würden, sie in diese Lage zu versetzen.

Moralisches Empfinden ist mit vielerlei Problemen verbunden. Die Realität der Macht ist das größte davon.

In Kooperation mit

 

Anzeige