Nahostkonflikt - Im Krieg verfangen

Der Angriff der Hamas im Oktober 2023 sollte Israel in ein Gefühl der Wut und Ohnmacht versetzen. Anfangs wurde weithin noch die Hamas für den in der Folge ausgebrochenen Krieg verantwortlich gemacht, jetzt ist es Israel.

Ein Palästinenser begutachtet die Zerstörung nach einem israelischen Luftangriff / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Um zu verstehen, warum die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat, muss man das grundlegende Ziel der Terrororganisation kennen: die Schaffung eines palästinensischen Staates. Die Gruppe war sich darüber im Klaren, dass der Angriff eine Änderung der nationalen Sicherheitsstrategie Israels nach sich ziehen würde. Sie war jedoch offenkundig der Ansicht, dass die Schwächung des Bündnisses, das sich um Israel herum bildete – bestehend aus arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien – das Risiko wert sei. 

Die Hamas war sich außerdem bewusst, dass sie nicht über die militärischen Kapazitäten verfügte, um das israelische Militär zu besiegen, und suchte daher im Vorfeld der Anschläge Unterstützung in der arabischen Welt. Es ist schwer vorstellbar, dass die Hamas dies hätte tun können, ohne dass Israel davon erfahren hätte, so dass es wahrscheinlich ist, dass Israel davon erfuhr, dieses Ziel jedoch als unerreichbar abtat.

Das Leben der Geiseln

In gewisser Weise hatte Israel recht. Kein arabisches oder islamisches Land oder eine Bewegung war bereit, sich mit der Hamas militärisch zu verbünden. Die Gruppe ging davon aus, dass ein direkter, gemeinsamer Angriff auf Israel zwar nicht gelingen würde, es aber dennoch möglich wäre, Israel in eine unhaltbare Lage zu bringen. Heute wissen wir, dass dies der richtige Ansatz war, denn die Hamas hat Israel tatsächlich angegriffen und es damit von anderen potenziellen Verbündeten isoliert. Diese Entscheidung zeigt, dass der 7. Oktober komplexer und in gewissem Maße auch „erfolgreicher“ war als ursprünglich angenommen.

Der Angriff überraschte den israelischen Geheimdienst, der die Pläne der Hamas nicht durchschaut hatte. Der 7. Oktober war nicht dazu gedacht, das israelische Militär zu brechen, sondern eine Situation zu schaffen, in der Israel weder den Kampf ablehnen noch entscheidende Gewalt anwenden konnte, weil es das Leben der Geiseln, die von der Hamas festgehalten wurden und werden, nicht gefährden wollte. Die Geiselnahme sollte Israel in ein Gefühl der Wut und Ohnmacht versetzen und das Vertrauen in den israelischen Geheimdienst unterminieren.

Ein massiver Angriff im Gazastreifen

Möglicherweise erwartete die Hamas, dass andere arabische Streitkräfte, insbesondere die Hisbollah, in den Kampf einsteigen würden. Als dies nicht geschah, ging die Hamas zu Plan B über. Wenn keine Verstärkung käme, wollte sie Israel auf ein Ziel lenken, das zwar keinen entscheidenden Wert hatte, aber für einen Angriff unerlässlich war und politische Kosten verursachen würde. So aktivierte die Hamas ihre Streitkräfte im nördlichen Gazastreifen und brachte Verstärkungen in die Kampfhandlungen ein – wohl wissend, dass der Preis dafür hoch sein würde.
 

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Israel hatte keine andere Wahl. Angesichts der ungelösten Geisel-Situation würde ein massiver Angriff im nördlichen Gazastreifen bedeuten, dass die Hamas nicht geschwächt, sondern ihre Präsenz ausgeweitet würde. Kriege sind politische Angelegenheiten, und das israelische Kabinett musste einen Luftangriff beschließen, um die Lage zu beruhigen und die wachsende Feindseligkeit gegenüber der Regierung zu besänftigen. Israel hoffte, dass Luftangriffe und Spezialoperationen die Hamas brechen würden. Doch die Hamas kämpfte auf ihrem eigenen Terrain einen Krieg in den Städten – ein Terrain, auf dem ein Rückzug und plötzliche Gegenangriffe jederzeit möglich waren.

Druck auf Israel 

Ich vermute, dass die Hamas wusste – oder zumindest von kundigen Organisationen in der arabischen Welt darauf hingewiesen wurde –, dass eine massive israelische Reaktion im nördlichen Gazastreifen, die die Aufmerksamkeit der Welt auf die palästinensischen Opfer lenkt, genügend Druck auf Israel ausüben könnte, um ein für die Hamas günstiges Ergebnis zu erzwingen. Israel versuchte, dem entgegenzuwirken, indem es auf die Geiselnahmen durch die Hamas hinwies, aber die israelischen PR-Kampagnen waren, gelinde gesagt, schlecht. (Israel war in dieser Hinsicht in der Vergangenheit immer gut, hat aber nicht begriffen, dass die Narrative der Hamas seine eigenen Bemühungen inzwischen bei weitem übertrafen).

Israel ist nun in einem Krieg im nördlichen Gazastreifen verfangen, mit einem starrsinnigen Kabinett, das einen strategischen Rückzug nicht akzeptieren will, und einem medialen Ökosystem, das sein Vorgehen kritisiert. Anfangs wurde weithin noch die Hamas für den Krieg verantwortlich gemacht, jetzt ist es Israel.

Subtile und umsichtige Anführer

Derzeit sind Israels militärische Optionen begrenzt, was nicht zuletzt auf den Meinungsumschwung bei seinem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten, zurückzuführen ist. Die Möglichkeit eines erfolgreichen Schlags gegen die Hamas schwindet, und selbst israelische Bürger demonstrieren für einen Deal zugunsten der verbleibenden israelischen Geiseln. Jemand hat einmal gefragt: Über wie viele militärische Divisionen verfügt eine Meinung? Die Antwort lautet: keine, aber Meinungen können die Welt prägen – und sind daher für ein kleines Land wie Israel lebenswichtig.

Wenn ich mir das alles anschaue, denke ich, dass die Hamas aus Zufall die politische und militärische Struktur Israels getroffen hat und dass Israel immer noch nicht verstanden hat, dass es verschiedene Arten von Kriegen gibt, von denen jeder einzelne verloren werden kann. Außerdem scheint mir, dass Israel einen grundlegenden Fehler gemacht hat: Sein Militär ist zwar kompetent und technologisch versiert, hat der Bevölkerung aber fälschlicherweise den Eindruck vermittelt, dass es eine größere Macht ist, als es der Realität entspricht. 

Technologie ist schön und gut, aber um einen erfolgreichen Krieg zu führen, braucht es subtile und umsichtige Anführer, die ihre Macht nicht überschätzen und die Wirkung der gedanklichen Manipulation des Feindes nicht unterschätzen. Das ist eine wichtige Lektion für uns alle.
 

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