Migrationskrise - Erdoğans Erpressungsversuch

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan droht, für Migranten und Schutzsuchende die „Tore zu öffnen“. Das war absehbar, denn mit dem Flüchtlingsabkommen hat sich die EU aus eigener Schwäche in Erdoğans Hände begeben

Recep Tayyip Erdoğan / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Vor gut drei Jahren erschien an dieser Stelle ein Interview mit der amerikanischen Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill. Die an der Tufts University in Boston lehrende Expertin für internationale Beziehungen ist Autorin des im Wissenschaftsverlag „Cornell University Press“ erschienenen Buches „Weapons of Mass Migration“, zu Deutsch „Massenmigration als Waffe“. Anlass für das Gespräch mit Greenhill waren die Auswirkungen der sogenannten Flüchtlingskrise auf die Stabilität in Europa und die Frage, ob große (potentielle) Wanderungsbewegungen auch als Druckmittel gegen einzelne Staaten eingesetzt werden können.

Greenhill sagte damals unter anderem folgendes: Die Instrumentalisierung von Massenmigration sei gewissermaßen eine Waffe „nicht­militärischer Art, die von staatlichen wie auch nicht­staatlichen Konflikt­parteien genutzt werden. Konkret geht es um die massenhafte Bewegung von Menschen über Grenzen hinweg, die dazu genutzt werden, um den Gegner unter Druck zu setzen oder um ihm Konzessionen abzuringen.“ Das könne sich auf „Konzessionen politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Art beziehen. Es handelt sich um ein häufig übersehenes Phänomen, obwohl es sich praktisch auf offener Bühne abspielt“.

Die Tücke des Türkei-Deals

Greenhills These fand damals kaum Resonanz. Ihr Buch wurde zwar später ins Deutsche übersetzt, erschien allerdings ausgerechnet im ansonsten auf Verschwörungstheorien spezialisierten Kopp-Verlag – was dem Ansehen der völlig ideologiefrei argumentierenden und auf ihrem Forschungsgebiet anerkannten Autorin und Wissenschaftlerin nicht gerade geholfen haben dürfte. Trotzdem (oder gerade deshalb) sei aus aktuellem Anlass eine weitere Aussage Greenhills aus dem Cicero-Interview ins Gedächtnis gerufen: „Allein durch die Tatsache, dass sich um die zwei Millionen syrische Flüchtlinge auf türkischem Staatsgebiet befinden, hat die Türkei natürlich ein großes Druckmittel in der Hand. Und die Regierung wird dieses Potential gegenüber den Europäern natürlich auch geltend machen. Themen wie Finanzhilfe, Reise­erleichterungen oder Beitritts­verhandlungen stehen deshalb ja auch auf der Agenda.“

Zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Kelly Greenhill war gerade das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei ausverhandelt worden, um den nach der „Grenzöffnung“ vom Spätsommer 2015 nicht mehr abschwellenden Migrationsströmen wieder einigermaßen Herr zu werden. Der damals vereinbarte Mechanismus ist formal zwar nicht ganz unkompliziert: Flüchtlinge ohne Anspruch auf Asyl werden aus Griechenland zurück in die Türkei gebracht; im Gegenzug verpflichtet sich die EU, für jeden dieser in die Türkei abgeschobenen Migranten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei direkt aufzunehmen. Aber im Kern ging und geht es natürlich ums Geld: Sechs Milliarden Euro sollte die Türkei dafür erhalten, dass sie letztlich den Schutz der europäischen Außengrenzen übernimmt. Eine Aufgabe also, zu der sich die EU selbst nicht in der Lage sah – und woran sich bis zum heutigen Tag wenig geändert hat.

„Moral“ macht erpressbar

Das Ergebnis eines solchen Deals lag schon damals auf der Hand und war von Kelly Greenhill auch in aller Deutlichkeit benannt worden: Die EU würde sich erpressbar machen, indem sie versucht, ureigene  sicherheitspolitische Aufgaben an einen Drittstaat zu delegieren. Genau dieser Fall ist jetzt ganz offensichtlich eingetreten, und das einzig Verwunderliche daran ist die Tatsache, dass es nicht bereits viel früher geschehen ist. Der türkische Staatspräsident Reccep Tayyip Erdoğan droht unumwunden damit, die „Tore zu öffnen“ und Migranten in großer Zahl in die EU zu lassen. Sein Argument: Die Europäer würden die Türkei mit der Flüchtlingssituation im Stich lassen; die zugesagten (und zum Großteil bereits ausgezahlten) Milliardensummen würden nicht ausreichen.

Man mag mit guten Argumenten darüber streiten, ob der vielgepriesene „Flüchtlingsdeal“ mit der Türkei nicht vor allem darauf angelegt war, „hässliche Bilder“ vor den stets empörungsbereiten westlichen Medien fernzuhalten. Und die Frage stellen, wie weit es mit der angeblich so moralischen Überlegenheit der deutschen Bundeskanzlerin eigentlich her ist, wenn sie in der Flüchtlingspolitik der Zusammenarbeit mit einem Potentaten bedarf, der die Freiheit der Medien in seinem eigenen Land nicht nur geringschätzt, sondern zum Zweck des selbstherrlichen Machtanspruchs nach Belieben einschränken kann. Aber man wird Erdoğan nicht absprechen können, dass er seinem eigenen Kalkül folgt. Und weil die EU sich mangels eigener Kraft in seine Hände begeben hat, spielt er sein Druckmittel jetzt gnadenlos aus.

Persilschein für Vertreibung der Kurden

Dass es dem türkischen Staatspräsidenten dabei längst nicht nur um Geld geht, sondern um geostrategische Vorteilsnahme, macht die Angelegenheit umso brisanter. Denn natürlich ist die von Erdoğan erbetene Unterstützung der EU für eine „Sicherheitszone“ im Nordwesten Syriens in erster Linie nicht darauf angelegt, dort einen sicheren Hafen für syrisch-arabische Rückkehrer zu schaffen. Es geht ihm vielmehr darum, die Kurdenmilizen (wobei der Begriff „Miliz“ aus türkischer Sicht sehr weit gefasst werden dürfte) aus dieser Gegend zu vertreiben – und zwar mit europäischer Finanzierung. Ein schönerer Persilschein für noch härteres Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung ist aus Sicht Ankaras wohl kaum vorstellbar.

Noch einmal zurück zu Kelly Greenhill. „Klar ist aber auch, dass man durch Signale offener Grenzen und unbeschränkter Aufnahme­bereitschaft auch solche Menschen mobilisiert, die normalerweise in ihren Herkunfts­ländern geblieben wären“, sagte sie im Gespräch über die deutsche Flüchtlingspolitik vom Herbst des Jahres 2015. Vier Jahre später treten die Implikationen dieses Handelns immer deutlicher zutage.

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