Migration - „Es gibt keine Flüchtlinge, nur Menschen“

Bei der Integration von Migranten müssen Städte und Gemeinden ausbaden, was die Landesregierung entschieden hat. Das ist überall in Europa so. In Paris haben sich jetzt Vertreter der Kommunen getroffen. Die zentrale Frage. Wie kann sich das Zusammenleben mit den Neubürgern verbessern?

Elendsquartier mitten in Paris: Europas Bürgermeister bitte ihre Regierungen um Unterstützung bei der Integration / picture alliance
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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„Die Gemeinde ist der Ernstfall der Demokratie“, so zitiert Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker Johannes Rau, der mit diesen Worten im Juni 1987, damals Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, seine Rede auf dem Deutschen Städtetag in Köln beschloss. Zugegeben, der Satz ist alt. Er gilt aber unverändert bis heute und weltweit. In den Städten und Gemeinden muss sich beweisen, ob und wie Zusammenleben funktioniert.

Insofern ist das Thema „Die Rolle von Städten in der Asyl- und Migrationspolitik“, das diese Woche auf einer Tagung der Böll-Stiftung in Paris diskutiert wurde, klug gewählt. Ob in Italien oder Schweden, Deutschland oder Frankreich, die Städte und das unmittelbare Umfeld machen den Unterschied. Hier entscheidet sich für Neu-Ankommende, wie sie aufgenommen werden.

Der Anteil der Fremdenfeindlichen ist überall gleich

„Zuallererst ist das eine Haltungsfrage“, befindet Damien Careme, Bürgermeister von Grande-Synthe, eine nordfranzösische Gemeinde mit knapp 25.000 Einwohnern am Ärmelkanal, direkt an der belgischen Grenze. Und zwar „unabhängig davon, ob es sich um Langzeittouristen, Asylbewerber oder Arbeitsmigranten, um Europäer, Afrikaner oder arabischstämmige Menschen handelt“.

Zumindest darüber herrschte Einigkeit unter Kommunalvertretern unterschiedlicher politischer Couleur, Politikwissenschaftlern und Vertretern von NGOs. Ansonsten: das klassische Strukturproblem aller Debatten zum Thema Einwanderung.

– immer diskutiert nur eine Seite untereinander, niemals grundsätzliche Gegner von Zuwanderung und deren Befürworter, und so schmoren alle im eigenen Saft.

– selbst in dieser Einseitigkeit ist man nicht auf dem gleichen Stand, was „objektive“ Zahlen und Daten angeht.

– internationale Einigkeit wird vorgegaukelt, indem die nämlichen Begriffe benutzt, aber unterschiedlich definiert werden.

Dabei bieten die Fakten Spannendes: in nahezu allen Staaten gleichermaßen bekommen Parteien, die vor zu hoher Zuwanderung warnen zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmen. In Deutschland engagieren sich demgegenüber genauso viele Menschen für Flüchtlinge. Eine Allensbach-Studie von 2018 weist aus, dass weiterhin 11 Prozent der deutschen Bevölkerung aktiv Hilfe leisten und 19 Prozent Sach- und Geldspenden. Zudem: Das größte Problem selbst des knappen Viertels der Helfer, die sich von ihrer Umgebung für diese Hilfestellung angefeindet fühlen, sind nicht Beschimpfungen oder Bedrohungen, sondern bürokratische Hürden, angefangen bei fehlenden Übersetzern bis zu mangelnder Flexibilität und Arbeitstempo von Behörden.

Einwanderung als Chance 

Auch der statistisch belegte Befund, dass Deutschland nicht Weltmeister bei der Aufnahme von Flüchtlingen ist (selbst im Jahr des Flüchtlingspeaks 2015 nicht), sondern vor allem für  Arbeitsmigranten aus anderen EU-Staaten attraktiv ist, verdiente mehr Beachtung. Ebenso, dass nahezu alle europäischen Regierungen Kommunen und Wirtschaft mit den daraus resultierenden Fragestellungen weitgehend allein lassen, von Arbeitsplatz über Schule bis Wohnraum, weil sie die Zuwanderung nicht gesetzlich regeln. Anders Kanada: dort sind  zwei Drittel aller Zuwanderer Familien mit staatlicher Arbeitserlaubnis und Arbeitsplatz. Exakt das macht dann den Unterschied. 

Und immer wieder das Thema Haltung: „Köln würde es doch ohne Migranten überhaupt nicht geben“, betont die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. So betrachtet ist Einwanderung, ganz egal von wem, nicht in erster Linie ein Problem, sondern eine Chance. Weil das das Kölner Selbstverständnis sei, habe die Domstadt selbst die Sylvesterkrawalle 2015/16 vergleichsweise schnell überwunden. 

Haltung ist die Antwort 

Einen Schritt weiter geht Leoluca Orlando, Mafiajäger und seit 1985 nahezu ununterbrochen Bürgermeister von Palermo, der Stadt also, in der seit Jahren die meisten außereuropäischen Flüchtlinge anlanden. „In Palermo gibt es keine Flüchtlinge. Nicht einen Einzigen. Es gibt nur Menschen, Palermitaner“. Seine städtische Kampagne heißt: Io sono uomo. Noi siamo Comunitá. Ich bin ein Mensch. Wir sind eine Gemeinschaft. 

Wie lächerlich banal, hätten Kritiker gelästert, erklärt der ehemalige Christdemokrat. Aber auf die Entgegnung, warum sie anderen diese „Banalität“ streitig machen würden, dann eben keine Antwort gehabt. Haltung eben. Und außerdem sei Sizilianern weder die Flucht vor Armut noch vor Gewalt ein fremdes Phänomen.

Kein „Wir-Gefühl“ ohne Teilhabe 

Bürgermeister und Wohlfahrtsorganisationen erklären unisono, das größte Problem sei das zwangsweise per Gesetz verordnete Untätigkeit der Menschen in Aufnahmelagern. Ein „Wir-Gefühl“ könne aber nur da entstehen, wo Teilhabe stattfinde. Probleme müssten benannt, kriminelle Zuwanderer abgeschoben werden, „aber doch nicht Menschen, die sich integrieren, mit Ausbildungsplatz, Lehrstelle oder im Deutschkurs, nur weil sie vielleicht nur den Status Duldung haben“ (Reker). 

Duldung und staatlich verordnete Untätigkeit sind in Frankreich Fremdworte. Den berühmten „Dschungel von Calais“ und vergleichbare Elendsquartiere am Rand der Pariser Périf gab und gibt es vor allem deshalb, weil der Staat, der so gerne vollmundig die Menschenrechte einfordert, sich um Flüchtlinge so gut wie gar nicht kümmert. Nach französischen Rechtsverständnis sind Menschen, die über die Balkanroute, Griechenland oder Italien ins Land gekommen sind, schlicht Illegale und haben keine Ansprüche. Darum kümmern sich bestenfalls Privatinitiativen.

Bürgermeister fordern ein europäisches Asylrecht

Die Kommunen fordern ein europäisches Flüchtlings- und Asylrecht, schon um nicht mehr gegen die eigenen nationalen Regierungen Politik betreiben müssten. Die italienischen Bürgermeister von Palermo, Neapel, Rom und anderen Städten müssten dann nicht mehr entgegen der Vorgaben von Innenminister Salvini Flüchtlinge aufnehmen; Damien Careme müsste nicht gegen jedes französische Recht ein Flüchtlingslager in seiner Gemeinde bauen. 

Das Diktum von Johannes Rau kannten weder Orlando noch Careme. Aber sie handeln danach. Weil Bürgermeister wissen, dass die Gemeinden der Ernstfall der Demokratie sind.

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