Migranten in Libyen - Big Business im Bürgerkrieg

In Libyen macht die EU gemeinsame Sache mit den Milizen. Für viel Geld sollen sie dabei helfen, Migranten von Europa fernzuhalten. Aus ehemaligen Schleusern werden auf diese Weise angesehene Geschäftspartner – und vielleicht bald auch offizielle Herrscher

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Der Milizenführer Al Bidscha hat einst gegen Gaddafi gekämpft und verdient jetzt an „Sicherheit“ / Moises Saman
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Susanne Kaiser ist als Journalistin spezialisiert auf die arabische Welt und hat über Nordafrika promoviert. Sie ist auch als politische Beraterin tätig. Foto: privat

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Vergangenes Jahr im August, an einem Strand im Süden Spaniens. Deutsche Urlauber mit Sonnenbrand tummeln sich im lauen Wasser oder liegen im warmen Sand. Plötzlich landet ein Schlauchboot an ihrem Strand, an Bord 30 vollbekleidete Männer, dicht an dicht auf drei Metern aufblasbarem Gummi. Sie sehen aus wie Flüchtlinge aus Ländern südlich der Sahara und scheinen gerade von Marokko aus nach Europa übergesetzt zu sein.

Einige Zeit zuvor, viel weiter östlich, vor der libyschen Küste. Rettungsschiffe von NGOs und anderen Helfern liegen im Mittelmeer bereit, um die erwartete Rekordzahl an Menschen aus überfüllten und kenternden Flüchtlingsbooten herauszuholen. Doch die kommen nicht. Selbst an klaren Tagen finden sich erstaunte Helfer des Öfteren ganz allein auf der ruhigen See. Doppelt so viele Flüchtlinge wie im Vorjahr waren vorausgesagt, doch kommen werden gerade mal die Hälfte. Im August sogar fast niemand mehr, gemessen an den Monaten und Jahren davor. Die Retter sind ratlos.

Zwischen den beiden Ereignissen liegen mehrere Wochen und fast 2000 Kilometer Luftlinie, doch sie hängen unmittelbar miteinander zusammen. Politiker der Europäischen Union und Italiens werden später behaupten, das zweite Ereignis – der versiegende Flüchtlingsstrom in Libyen – sei ihr Verdienst: erfolgreiche Fluchtursachenbekämpfung. Außerdem hätten sie den Menschenschmugglern in Libyen und in den Nachbarländern der Sahelzone das Handwerk gelegt. Einen Zusammenhang zum ersten Ereignis werden sie nicht herstellen.

Vertrauliches Treffen zwischen dem italienischen Geheimdienst und lybischen Milizen

Den aber gibt es: Weil die EU die zentrale Mittelmeerroute an ihrem Knotenpunkt im nigrischen Agadez blockiert hat, suchen sich viele Migranten aus Ländern südlich der Sahara neue Wege, weichen auf die westliche Route über Algerien und Marokko aus. Deshalb sieht Spanien nun wieder deutlich mehr Flüchtlingsboote an seinen Küsten als in den zehn Jahren zuvor. Und sogar in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla dringen wieder mehr Menschen vor, obwohl diese mit hohen Zäunen umfriedet sind wie Hochsicherheitsgefängnisse.

Afrikanische Migranten in einem libyischen Lager

Szenario Nummer zwei – die arbeitslosen NGO-Helfer auf ihren Rettungsschiffen vor der libyschen Küste – geht wiederum überhaupt nicht darauf zurück, dass die EU die Grenze Europas in die Wüste verschoben und dann dichtgemacht hätte. Denn allein in Libyen warten rund 700 000 Migranten darauf, nach Europa zu gelangen. Es liegt auch nicht daran, dass sie „das Geschäftsmodell der Schleuser und Menschenhändler zerschlagen“ hätten, wie es in den Beschlüssen des Europäischen Rates nach dem Flüchtlingsgipfel von Malta heißt. Der wahre Grund ist vielmehr, dass Italien in der ersten Jahreshälfte 2017 auf eigene Faust sichergestellt hat, dass Flüchtlinge von ihrer Überfahrt abgehalten werden. Dafür ging Rom ein Abkommen mit der Einheitsregierung in Tripolis ein, die von den Vereinten Nationen gestützt wird. Ausrüstung, Training, Geld für Küstenwache und Sicherheitsagenturen sicherte Innenminister Marco Minniti dem südlichen Nachbarn zu.

Wenige Monate später ging ein Gerücht um: Zwischen dem italienischen Geheimdienst und libyschen Milizionären soll es im Sommer zu einem vertraulichen Treffen und einem geheimen Deal gekommen sein. Eine Menge Geld soll dabei direkt an die Milizen geflossen sein, über Millionenbeträge wird spekuliert. Italien streitet das vehement ab. Wie auch immer es genau war: Roms Alleingang zeigte sehr schnell Wirkung, direkt oder indirekt. Was Stacheldraht in Marokko nicht vermochte, war für die schwer bewaffneten und kampferprobten Milizen Libyens kein Problem. Sie wehren erfolgreich Flüchtlinge ab.

Eingangsbereich der Hilforganisation Roter Halbmond in Tripolis

Aber wen haben die Italiener sich da als Geschäftspartner ausgesucht? Die Milizen würden sagen: seriöse Sicherheitsunternehmen, die in Libyen schon lange behördliche Aufgaben übernehmen und als Militär, Polizei oder Küstenwache fungieren. Weil es in dem zersplitterten Land nämlich keine staatliche Alternative dazu gibt und irgendjemand schließlich für Ordnung sorgen muss. Und das können diejenigen am besten, die über die meiste Erfahrung und die höchste Durchsetzungskraft verfügen. Also die Milizen. In einem gescheiterten Staat ohne eigene funktionsfähige Exekutive muss die Regierung hoheitliche Aufgaben wohl oder übel auslagern. Was all jenen, die eine Art Sicherheitsunternehmen führen, viel Geld und gute Gewinne in Aussicht stellt.

Die Milizen sehen aus wie eine echte Armee

Dieses Business beherrschen an der westlichen Küste Libyens vor allem zwei Banden, die Truppe von Al Bidscha und die von Dabbaschi. Al Bidscha ist ein Kampfname, Dabbaschi der eines großen libyschen Clans. Diese beiden Namen kennt in Libyen jeder, dahinter verbergen sich berüchtigte Warlords. Beide Milizenchefs haben mit ihren Männern schon gegen Gaddafi gekämpft und nach dessen Ende umgesattelt, unter anderem auf „Sicherheit“.

An der notwendigen Grundausrüstung herrscht bei den Milizionären jedenfalls kein Mangel. Auf Facebook-Bildern posen sie mit Pistolen, Maschinengewehren oder Handgranaten. Sie haben Pick-ups und Geländewagen, einige mit schwerem aufmontierten Geschütz. Sogar Panzer, Hubschrauber, Rettungswagen oder Feuerwehren sind in ihrer Hand, außerdem Schiffe der Küstenwache. Die Männer sind zweifelsfrei bestens ausgestattet, und ihr Einsatzgebiet ist vielfältig. Wer dem Staat die Arbeit abnehmen will, sollte aber noch dazu über ein halbwegs seriöses Image verfügen. Und auch das haben sich die beiden Milizen zugelegt, womit sie sich gegen die breite Masse an militanten Gruppierungen abheben, von denen es im zerfallenen Libyen rund 1700 geben soll.
 

Migrantinnen warten in einem Lager auf die Essensausgabe

Auf dem Hintergrundbild der Bande von Dabbaschi stehen Männer in Tarnuniformen mit Sturmgewehren in Reih und Glied vor einer Kaserne. Sie sehen nicht aus, wie man sich eine herkömmliche Miliz vorstellt, nämlich wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Sondern vielmehr wie eine echte Armee. Sogar mit einem eigenen Wappen können sie aufwarten: Neben einem Emblem aus Adler und libyscher Flagge zieren es offiziell klingende arabische Titel wie „Libysche Armee“, „Generalstabschef“ oder „48. Bataillon“. Auf jedem Fahrzeug, auf jeder Uniform prangt das eigene Logo und vermittelt so die Corporate Identity der Einsatztruppe. In den Posts auf Facebook finden sich jede Menge abfotografierte amtliche Schreiben, denen zufolge der Dabbaschi-Miliz hoheitliche Aufgaben übertragen werden, zum Beispiel vom libyschen Außenministerium.

EU-Staaten duckten sich weg, als Italien mit den Massenankünften fertig werden musste

Die Einheitsregierung von Premierminister Fayez Mustafa al Sarradsch greift demnach gern auf die Milizen zurück. Ebenso Italien durch das Abkommen mit der libyschen Regierung. Und die EU durch ihre Operation Sophia. Denn die Küstenwache, die Marine und andere einschlägige libysche Agenturen, die durch die EU-Mission ausgebildet werden und anschließend vor der Küste Libyens patrouillieren, gehören tatsächlich zu den Truppen von Al Bidscha und Dabbaschi. Deshalb fahren sie inzwischen auch mit Schnellbooten oder ausrangierten italienischen Marineschiffen in libyschen Gewässern umher und setzen dabei Hightech-Equipment zur Überwachung ein. Ihre eigentliche Aufgabe besteht allerdings nicht darin, die eigenen Landesgrenzen zu schützen – vielmehr sollen sie Flüchtlingsboote frühzeitig aufgreifen und zurück auf libyschen Boden schleppen. Außerdem hat die EU in Aussicht gestellt, die in Verruf geratenen Flüchtlingslager in Libyen mit viel Geld zu unterstützen. Auch diese Lager befinden sich zum großen Teil unter Kontrolle der beiden Milizen.

Das bei Kämpfen beschädigte Kongresszentrum von Tripolis

Im vergangenen Juni war die Lage in Italien dramatisch, die Regierung geriet in Panik: 12 000 Menschen waren innerhalb von nur vier Tagen in italienischen Häfen und damit auch im europäischen Asylsystem angekommen. „Diese Massenankünfte haben eine Dimension erreicht, die für Italien unerträglich geworden ist“, wandte sich der ehemalige Premierminister Matteo Renzi damals mit einem verzweifelten Appell an die EU. Doch die anderen Mitgliedstaaten duckten sich weg, wie schon so oft seit den frühen Tagen der Flüchtlingskrise. Italiens Nachbarn investieren lieber in die Sicherung der eigenen Landesgrenzen, anstatt die Bürde mit Italien zu teilen, wie sie immer dann zusichern, wenn es ganz schlimm kommt.

Ein kürzlich erschienener Bericht des afrikanischen Thinktanks Institute for Security Studies (ISS) zur italienischen Migrationspolitik gegenüber Libyen zeigt: Von den mehr als 500 000 Bootsflüchtlingen, die zwischen 2013 und 2016 an der italienischen Küste gelandet sind, wurden gerade mal 8500 auf andere EU-Staaten umverteilt. Die Studie rechnet vor, dass die Flüchtlingskrise Italien in den vergangenen fünf Jahren fast fünf Milliarden Euro gekostet hat. Inseln wie Lampedusa leben ohnehin seit Jahren im Ausnahmezustand und sind vollkommen überfordert.

Afrikanische Migranten im Dienst der Milizen

Was auch der Grund dafür ist, dass Italien inzwischen fast jede Summe und jedes Mittel recht ist, um damit nur irgendwie der Flüchtlingswelle vor der eigenen Tür ein Ende zu setzen. Mit den Parlamentswahlen im Frühjahr 2018 und der Gefahr des Aufstiegs von Populisten vor Augen, ließ sich die Regierung im vergangenen Sommer also zu einer Art Verzweiflungstat hinreißen, als sie libysche Milizen für ihre Zwecke einspannte.

Wäre es sinnvoll, die Milizen zu legalisieren?

Die Milizionäre haben ihrerseits alles dafür getan, um den eigenen Ruf aufzupolieren und sich als seriöser Partner bei der Migrationseindämmung anzubieten. Im Juni 2017 erschien sogar ein großes Porträt von Al Bidscha im Magazin der Süddeutschen Zeitung, in dem der Chef für seine Küstenwache warb und den beiden Journalisten Schiffe, Waffen, Mannschaft, Flüchtlingslager und die eine oder andere Aktion auf See vorführte. Als die Presse ihn besuchte, war der Deal zwischen der EU und dem Warlord gerade in vollem Gange, wie Al Bidscha im Artikel nicht ohne Stolz verkündete.

400 Millionen Euro hatte die EU bei ihrem Flüchtlingsgipfel in Malta wenige Wochen zuvor in Aussicht gestellt für die Ausbildung des bewaffneten Grenzschutzes, der den Schleusern das Handwerk legen und Flüchtlinge in Seenot retten soll. „Wir brauchen kein Training. Wir wissen, wie man navigiert, wie man kämpft und tötet“, sagte Al Bidscha dem SZ-Magazin frei heraus und erklärte, worum es ihm bei der Sache geht: „Wenn wir für Europa die Drecksarbeit erledigen sollen, dann soll Europa uns dafür bezahlen.“ Obwohl der Beitrag die Absichten und Machenschaften des Milizionärs als dubios und undurchsichtig einordnete, zeigte sich eines ganz deutlich: Einer wie Al Bidscha nutzt jede Gelegenheit, um sich öffentlich als der richtige Partner bei der Bekämpfung von irregulärer Migration zu präsentieren. Warum sonst sollte er überhaupt mit Journalisten sprechen?

Ein Schmuggler wurde von der Küstenwache aufgegriffen

Dabei kann man sich durchaus die Frage stellen: Ist es nicht vielleicht sogar für alle besser, wenn Milizen direkt bezahlt werden, um das Grenzmanagement zu übernehmen? Flüchtlinge und Migranten müssen nicht mehr ertrinken, Italien bekommt eine Verschnaufpause, die EU kann sich derweil zusammenraufen – und Libyen integriert die Milizen als neue staatliche Ordnungsmacht in das politische System, um endlich wieder über funktionsfähige Streitkräfte zu verfügen. Immerhin würden Milizionäre auf diese Weise aus ihren kriminellen Netzwerken geholt und müssten sich an Regeln halten.

Menschenrechtsorganisationen prangern die Milizen an

Das sehen Menschenrechtsorganisationen, Thinktanks und die Vereinten Nationen allerdings ganz anders. Sie sagen: Die Milizen sind die schlimmsten Menschenschmuggler überhaupt. Jedenfalls seien sie genau das gewesen, bevor das Geschäft gegen Migranten plötzlich attraktiver erschien als das Geschäft mit Migranten. Ein Expertengremium des UN-Sicherheitsrats kommt zu dem Schluss, dass Al Bidscha und Dabbaschi in so gut wie jedes schmutzige Geschäft verwickelt sind, das man sich vorstellen kann. Vom Ölschmuggel über Entführungen bis zum Menschenhandel würden die beiden alles kontrollieren, was in Libyen lukrativ ist, dazu ein riesiges Territorium mit Städten, Überlandstraßen, Raffinerien und Ölfeldern. Als Küstenwache haben sie mit schweren Waffen Flüchtlingsboote versenkt, um diese an der Überfahrt zu hindern. Außerdem haben sie Rettungsschiffe angegriffen, darunter eines von Ärzte ohne Grenzen.

Auch Helfer der Nichtregierungsorganisation Sea-Watch berichten von Attacken und benennen klar die Verantwortlichen: „Durch die Beschlüsse von Malta wird die aus Milizen bestehende sogenannte Libysche Küstenwache regelrecht dazu angestachelt, schwere Straftaten zu begehen. Dass dies schnell Menschenleben kosten kann, zeigt der Angriff auf unseren Rettungseinsatz“, so deren Geschäftsführer Axel Grafmanns über die Kooperation mit den Milizen. Auf dem libyschen Festland halten Milizionäre die Migranten offenbar in provisorischen Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen. Vergewaltigung, Folter, Hinrichtungen seien dort an der Tagesordnung, heißt es in Berichten der UN.

Lager für Migranten aus Schwarzafrika in Tripolis

Es sind schlicht die exorbitanten Verdienstmöglichkeiten, die die Banden von Al Bidscha und Dabbaschi antreiben. Und eine klare Kosten-Nutzen-Kalkulation: Dass nämlich die Zuwendungen internationaler Geldgeber höher sind als der Ertrag aus der Schleuserei, hat sich inzwischen herumgesprochen. Um bei diesem Geschäft dabei zu sein, raufen sich sogar erbitterte Erzfeinde zusammen – wie Dabbaschi und Al Bidscha es auch waren, bevor Italien es mit dem Deal sinnvoll erscheinen ließ, gemeinsam gegen Schmugg­ler und Flüchtlinge vorzugehen und sich in dem Business frühzeitig eine Monopolstellung zu sichern. Der Menschenhandel bleibt damit auf die eine oder andere Weise eine Boombranche in Libyen. Nur eben mit jeweils umgekehrten Vorzeichen.

Wie soll die EU mit dem Wandel der Milizen umgehen?

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für den plötzlichen Sinneswandel der Milizen – nicht bloß das Geld. Tatsächlich verfolgen sie auch eine politische Agenda. Dass die EU ihre Politik gegenüber Libyen vollständig auf Grenzsicherheit verengt hat, verschafft den Warlords die Möglichkeit, ihren international sehr schlechten Ruf reinzuwaschen. Auf diesen Zusammenhang verweist die Studie des afrikanischen ISS zur europäischen Migrationspolitik gegenüber Libyen, die sich unter anderem auf Feldforschung im Territorium der Milizen stützt. Durch die offizielle Zusammenarbeit können diese sich legitimieren und so für die Zukunft im Staat ihre Macht zementieren. Diese Zukunft, so glauben sie nämlich, beginnt jetzt. Die nächsten Monate dürften darüber entscheiden, wie es politisch und militärisch mit dem Land weitergeht und wer in einem stabilisierten Libyen das Sagen hat. Deshalb bringen sich Milizen überall im Land in Stellung, um in der neuen Ordnung eine Rolle zu spielen. Dafür müssen sie auf der richtigen Seite der Macht stehen – also aufseiten der internationalen Geldgeber, der Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Die falsche Seite, das ist jetzt die der Menschenhändler und Schmuggler, die im neuen System vor internationalen Gerichten landen könnten.

Wenn Europäische Union und Milizen nunmehr gemeinsame Sache machen, heißt das aber eben nicht, dass sich Letztere vom Saulus zum Paulus gewandelt hätten. Und wie geht die EU damit um? Offiziell unterstützt sie die von den Vereinten Nationen installierte Einheitsregierung unter Fayez Mustafa al Sarradsch in Tripolis und will Staatlichkeit und Stabilität in Libyen voranbringen. Gleichzeitig aber würden die europäischen Maßnahmen die Regierung in Tripolis und damit den gesamten Friedensprozess der UN politisch massiv untergraben, gibt Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu bedenken. „Die europäischen Maßnahmen stärken nicht die Regierung, sondern lokale Gewaltakteure, die unter dem Deckmantel der Küstenwache oder des Innenministeriums handeln“, sagt er.

Muslimische Migranten beim Gebet in einem libyschen Lager

Wie europäische und italienische Politik die Bemühungen der UN unterwandern, zeigt ein weiteres Ereignis aus dem vergangenen Sommer. Kurz nach dem Abkommen zwischen Rom und Tripolis sollte es zu einer ersten gemeinsamen Operation der italienischen und der libyschen Marine vor Libyens Küste kommen. Die nutzte der große Rivale von Premierminister Sarradsch, Feldmarschall Khalifa Haftar, für seine Zwecke. Haftar führt die libysche Gegenregierung mit Sitz in Tobruk an, die den Osten beherrscht. Sie ist international zwar nicht anerkannt, doch Haftar ist der mächtigste Warlord mit der größten Armee des Landes. Und er drohte, man werde „jedes Schiff abwehren, das ohne unsere Erlaubnis in nationale Gewässer eindringt“. Haftars Regierung kritisierte unmissverständlich, dass „Italien seine Flüchtlingskrise nach Libyen exportieren“ wolle, was „gefährliche Auswirkungen“ für Libyens Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft hätte. Deshalb würde man die nationale Souveränität mit allen Mitteln verteidigen.

Auch Schleuserbanden haben gelernt, wie man ein Kartell bildet

Seither wird Haftar in Libyen als legitimer Vertreter der Landesinteressen gesehen. Auch europäische Regierungschefs müssen deshalb mit dem Feldmarschall auf Augenhöhe verhandeln, während die Einheitsregierung in Tripolis als Handlangerin europäischer Interessen erscheint. „Wir müssen hier mit Stromausfällen leben. Ich bekomme kein Gehalt ausbezahlt, weil die Bank nicht genug Bargeld hat. Die Milizen machen, was sie wollen. Und Sarradsch unterzeichnet ein Migrationsabkommen?“, zitiert der Bericht des afrikanischen ISS einen hohen Beamten aus Tripolis. „Wen interessiert Migration?“, fragt er frustriert. In der Tat haben die Libyer ihre eigenen Sorgen: Mehr als 180 000 von ihnen sind laut der International Organisation of Migration (IOM) im eigenen Land auf der Flucht – vor der Gewalt der Milizen und der Instabilität.

„Mit der gegenwärtigen Regierung in Tripolis gibt es keine wirklichen Perspektiven“, sagt auch Wolfram Lacher von der SWP. „Sie existiert im Grunde nur, weil sie international anerkannt ist.“ Was also tun? Lacher räumt unumwunden ein: „Für die Bildung einer handlungsfähigeren Regierung sind die Aussichten schlecht. Die gegenwärtige, kurzfristig ausgelegte europäische Politik der Migrationseindämmung scheint genau diese Perspektivlosigkeit zu reflektieren.“ Hinzu kommt, dass es laut Daten der IOM inzwischen wieder mehr Flüchtlingsboote aufs offene Meer schaffen. Die Zahlen sind zuletzt sprunghaft gestiegen; mehr als 2000 Migranten zogen Flüchtlingsorganisationen allein im Januar 2018 aus dem Mittelmeer. Im Monat davor waren es nicht einmal 900. Offenbar haben Schleuserbanden von den Milizen gelernt, wie man ein Kartell bildet und gemeinsam effektiver wird. So umgehen sie die Küstenwache.

An Bord der Schlauchboote sind übrigens viele Libyer, die den Zuständen in ihrem eigenen Land entkommen wollen.

Fotos: Moises Saman

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.










 

 

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