Messerangriff von Paris - „Folge unserem geliebten Propheten!“

Der tödliche Messerangriff von Paris erweist sich Indizien zufolge als islamistisch motiviertes Attentat. Da der Täter ausgerechnet im Polizeiapparat ungehindert morden konnte, steht Präsident Emmanuel Macrons enger Vertrauter, Innenminister Christophe Castaner, unter Druck

Sicherheitskräfte versperren eine Straße nahe der Pariser Polizeipräfektur nach der Messerattacke am 3. Oktober / picture alliance
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Nach längerer Ruhe an der Terrorfront sieht sich Frankreich zur Einsicht gezwungen, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist. Der Staatsanwaltschaft der Antiterror-Ermittlung, Jean-François Ricard, erklärte am Wochenende, der Täter sei einer „radikalen Sicht des Islam“ erlegen. Der Angestellte der Pariser Polizeibehörde, der als Informatiker im nachrichtendienstlichen Hochsicherheitsbereich arbeitete. hatte mit seiner inzwischen verhafteten Frau unmittelbar vor der Tat am Donnerstagmorgen religiöse SMS ausgetauscht. Er beendete sie mit „Allahu Akbar“, worauf sie schrieb: „Folge unserem geliebten Propheten Mohammed und meditiere den Koran“.

Stattdessen ging der 45-jährige Familienvater kurz vor Mittag zwei Messer kaufen. Damit kehrte er durch die Eintrittskontrollen in das stark gesicherte Hauptquartier der Präfektur zurück. Um 13 Uhr erstach er zwei Arbeitskollegen, danach im Treppenhaus eine Polizistin. Nachdem er einen weiteren Polizisten verletzt hatte, wurde er im Hof der Präfektur von einem jungen, erst seit einer Woche diensthabenden Volontär gestellt und, als er diesen auch mit dem Messer bedrohte, erschossen.

Viele Indizien seiner Radikalisierung

Weitere Details lassen keinen Zweifel an der Motivation des aus den Antillen stammenden Franzosen zu. Mickaël Harpon war vor Jahren zum Islam übergetreten und hatte die Moschee eines salafistischen Imams besucht. Laut Staatsanwalt Ricard hatte er 2015 schon das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo gerechtfertigt. In letzter Zeit kleidete sich der 45-jährige Banlieue-Einwohner nach islamischer Weise und weigerte sich, Frauen die Hand zu schütteln. Zur Tat sei er „ohne jede Nervosität“ geschritten, meinte Ricard. Sein Vorsatz, die Tötungsmethode sowie der offensichtliche Wille zu sterben, seien weitere Indizien seiner Radikalisierung, sagte der Staatsanwalt.

Zur Bestürzung in Frankreich gesellt sich politischer Streit. Die konservativen Republikaner, gefolgt von der Sozialisten und den linken „Unbeugsamen“, aber auch die Populistin Marine Le Pen verlangen eine parlamentarische Untersuchungskommission. Der republikanische Abgeordnete Eric Diard zeigte sich „beunruhigt, dass eine Person mit Anzeichen der Radikalisierung an einem so sensiblen Ort arbeiten konnte“.

Ein „Maulwurf“ für Jihadisten?

Der Leiter des „Forschungszentrums für Nachrichtendienst“, Alain Rodier, fragte sich, ob der Täter nicht auch als „Maulwurf“ für Jihadisten gewirkt haben könnte. „Er hatte Zugang zu allen Polizeinformationen“, meinte der Experte mit Verweis auf ein mörderisches Attentat am Wohnsitz eines Polizistenpaares in Magnanville im Jahre 2016. Harpon verfolgte offenbar im Dienst auch das Geschick der Brüder Kouachi, die das Charle-Hebdo-Attentat ausführten.

Präfekturangestellte werden zwar theoretisch alle fünf Jahre unter anderem auf ihre Gesinnung geprüft. Von den 43.000 Präfekturangestellten sollen derzeit deren dreißig unter Überwachung stehen. Harpon zählte nicht dazu. Er sei offensichtlich „durch die Maschen geschlüpft“, meinte der Abgeordnete Éric Diard.

„Nie ein auffälliges Verhalten“

Schwergewichte der Republikaner wie Christian Jacob und Eric Ciotti verlangten am Sonntag wegen „gravierender Verfehlungen“ auch den Rücktritt von Innenminister Christophe Castaner. Der enge Vertraute von Präsident Emmanuel Macron war nach der Gewalttat vor die Presse getreten und hatte erklärte, der Täter habe „nie ein auffälliges Verhalten oder das geringste Alarmsymptom“ an den Tag gelegt.

Das zeugte laut den Republikanern von Ignoranz, wenn nicht von einer Lüge. „Castaner musste wissen, dass der Täter den Opfern die Kehle durchgeschnitten hatte und als Sympathisant der Charlie-Hebdo-Attentäter in den Akten figurierte“, meinte Jean-Philippe Moinet von der „Beobachtungsstelle für Extremismus“. Der Innenminister verzichtete aber mehr als einen Tag lang darauf, die Antiterrorjustiz einzuschalten.

Kein Ende der Terrorbedrohung

Premierminister Edouard Philippe verteidigte Castaner am Sonntag und kündigte eine neue Überprüfung von Präfekturbeamten in der Abteilung Hochsicherheit an. Ob Castaner die Tatumstände bewusst vertuschen wollte, muss sich weisen. Plausibler scheint derzeit ein kollektives „Nichtsehenwollen“. Die meisten Polizeiinformanten der französischen Medien hatten anfangs auch nur von der Möglichkeit hierarchischer oder amouröser Probleme des Täters in seiner Büroabteilung gesprochen. Harpons „äußerst gewalttätiges Vorgehen“ – wie Staatsanwalt Ricard nun einräumt – machte viele Zuschauer der Live-TV-Sender stutzig; die Behörden sahen indes lieber darüber weg.

All dies lässt darauf schließen, wie sehr der neue Anschlag Frankreich getroffen hat. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die militärische Niederlage der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien wie auch der massive Geheimdienstaufwand kein Ende der Terrorbedrohung gebracht haben.

Offen ist die Frage, ob der als psychisch labil geschilderte Attentäter im Auftrag gehandelt hat. Seine Frau Ilham E. und zwei Freunde werden als Komplizen eingestuft. Hinweise auf eine Verbindung des Täters zu allfälligen Auftraggebern im Mittleren Osten gibt es bisher nicht; bekannt zu dem Anschlag hat sich auch niemand.

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