Lockdown in Shanghai - Chinas Zero-Covid-Totalitarismus

Seit über zwei Wochen spielt sich in Shanghai ein Albtraum ab. Nachdem sich die Omikron-Fälle gehäuft hatten, griff die Stadtregierung zur „bewährten“ Strategie: Lockdowns und Tests. Infizierte werden in Lager verfrachtet, Bürger dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, die Lebensmittel werden knapp. Die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe offenbart die Inhumanität der chinesischen Zero-Covid-Strategie.

Die Bürger Shanghais müssen sich permanent auf das Virus testen lassen / dpa
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Autoreninfo

Philipp Mattheis ist Herausgeber von BlingBling, einem wöchentlichen Newsletter über Bitcoin, Geld und Freiheit. Von November 2019 bis März 2021 war er Ostasien-Korrespondent von Stern und Capital in Shanghai.

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Da Bai – so heißen die Beamten in Ganzkörperschutzanzügen. „Großer Weißer“, das klingt niedlich, beinahe liebevoll. Und tatsächlich gibt es unter den zehntausenden Da Bais, die gerade ihren Dienst während des Lockdowns in Shanghai verrichten, auch etliche, die sich aufopfernd und empathisch um ihre Mitbürger kümmern. Das aber soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ein Shanghai derzeit ein Albtraum abspielt, der sich zu einer humanitären Katastrophe zu entwickeln droht.

Die Informationen, die derzeit von Shanghai nach außen dringen, sind spärlich: Schließlich dürfen auch die wenigen verbliebenen Journalisten ihr Haus nicht verlassen. Zudem zensiert der chinesische Propaganda-Apparat so schnell wie möglich Fotos und Videos, die nicht dem Bild entsprechen, das die Regierung vermitteln will. Und doch schaffen es täglich immer wieder Videos und Berichte über die sozialen Medien in die Welt. 

Anfang der Woche zum Beispiel versiegelten Da Bais eine Haustür in der Anfu Lu – eigentlich eine der schönsten und pittoresken Straßen in der ehemaligen Französischen Konzession. So will man sicher gehen, dass sich in den kommenden Tagen kein Bewohner ins Freie bewegt. Nachts halten sie einen verzweifelten älteren Mann mit Eisenstangen auf 1,5 Meter Sicherheitsabstand und stoßen ihn immer wieder gegen ein Geländer.

Ordnungshüter, die wie Roboter sinnlose Anordnungen ausführen 

An anderer Stelle versuchen die Da Bais eine aufgebrachte Menschenmenge in Schach zu halten. Viele der Leute haben seit Tagen kein oder nicht ausreichend Essen erhalten und protestieren lautstark. „Wir haben Hunger.“ Auch wie die Männer in Weiß Katzen und Hunde totschlagen, weil diese Virus-Überträger sein können, ist mittlerweile mehrfach auf Videos festgehalten.

Die Da Bais sind eben auch zum Gesicht des neuen totalitären Chinas geworden: gesichtslose Ordnungshüter, die wie Roboter Anordnungen ausführen, auch wenn sie noch so sinnlos sein mögen.  

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Seit über zwei Wochen spielt sich in der 26-Millionen-Metropole ein Albtraum ab. Nachdem sich vor etwa zwei Wochen die Omikron-Fälle gehäuft hatten, griff die Stadtregierung zu der „bewährten“ Strategie: Lockdowns und Tests. Zunächst sollte der Ostteil der Stadt, Pudong, für vier Tage stillstehen, in denen alle Bewohner mindestens zweimal auf das Virus getestet werden. Ab vergangenen Montag wäre dann der Westteil der Stadt, Puxi, an der Reihe gewesen. Da aber immer mehr Menschen positiv getestet werden, wurde der strikte Lockdown in der ganzen Stadt auf unbestimmte Zeit verlängert. Viele rechnen damit, dass sich bis Mai daran nichts ändert – und hoffen bis dahin, sich nicht zu infizieren.  

In Shanghai werden stellenweise die Lebensmittel knapp. Lieferdienste sind zwar offiziell in Betrieb, aber ständig ausgebucht. Gemüse und Fleisch werden an die Haushalte in Plastiktüten verteilt. Das aber funktioniert nicht überall gleich gut. Um die Lebensmittelversorgung zu organisieren, wohl aber auch, um spontane Proteste zu unterdrücken, hat die Zentralregierung mehrere tausend Soldaten der Volksbefreiungsarmee nach Shanghai geschickt.

Kinder und Eltern werden getrennt, wenn sie unterschiedliche Testergebnisse aufweisen

Als wäre die Sorge, auf unbestimmte Zeit in ihrer Wohnung eingesperrt zu sein und nicht genug Nahrungsmittel zu bekommen, nicht schon genug, beschäftigt viele vor allem die Angst, in ein Quarantäne-Lager gebracht zu werden. Wer positiv auf das Virus getestet wird, muss sich bereithalten, um in den nächsten Stunden abtransportiert zu werden. Ob er Symptome hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Jeder der derzeit rund 20.000 Positiv-Fälle pro Tag wird in ein sogenanntes Fangcang-Krankenhaus gebracht, wie die Behausungen heißen. Dieses besteht meist aus einer Halle mit tausenden von aneinandergereihten Betten. Das Licht brennt die ganze Nacht, die Geräuschkulisse ist enorm. Die Toiletten sind verdreckt, Duschen gibt es keine. Die einzige Möglichkeit, dort wieder herauszukommen: zwei aufeinander folgende Negativ-Tests innerhalb von vier Tagen. Da Kinder und Eltern voneinander getrennt werden, wenn sie unterschiedliche Testergebnisse aufweisen, versuchen Mütter und Väter stets mit Nasenschleim ihrer Kinder in Kontakt zu bleiben.   

Warum die chinesische Regierung so rigoros an der Zero-Covid-Strategie festhält, ist rational nicht mehr erklärbar. Vor allem hat sich Xi Jinping verrannt: Nachdem man das Modell Lockdown in die Welt exportiert hatte, wich man von der Strategie nicht mehr ab. Die Presse, fest in staatlicher Hand, schürte die Angst und Panik vor dem Virus. Gleichzeitig verwies man auf das Ausland, in dem die Pandemie angeblich Millionen von Menschen dahinraffte. Seht her, welches Chaos dort herrscht, lautete die Botschaft an das eigene Volk, nur unter der Herrschaft der KP seid ihr sicher.  

In ganz China weiten sich die Ausgangssperren aus

Aus diesem Narrativ gesichtswahrend wieder herauszukommen, ist für die Führung derzeit kaum möglich. Gleichzeitig hat man die Behörden auf diese Strategie getrimmt. In wessen Verantwortungsbereich Neuinfektionen ausbrachen, der musste um seinen Job fürchten. So wurde jüngst der Chef des Shanghaier Flughafens Pudong gefeuert. Diese Angst führt dazu, dass Provinzpolitiker die Strategie rigoros umsetzen – auch wenn die Anordnungen sinnbefreit sind.  

Eine spekulativere Deutung der Ereignisse wähnt China längst im Dritten Weltkrieg: Das Yangze-Delta um Shanghai ist eines der globalen Wirtschaftszentren. Auch tausende von deutschen Unternehmen produzieren dort. Ob die Lockdowns bewusst die Weltwirtschaft, die gerade unter dem Angebotsschock der Sanktionen gegen Russland leidet, stören sollen, weiß niemand. Tatsache aber ist, dass die gestörten Lieferketten und Engpässe auf eine fragile Weltwirtschaft treffen.  

Und schließlich könnte es Xi Jinping auch darum gehen, interne Widersacher zu schwächen oder loszuwerden. So wurde im Schatten der Ereignisse auch gerade eine erneute Antikorruptions-Kampagne gegen den Clan des ehemaligen Präsidenten Jiang Zemin lanciert, der seine Machtbasis in Shanghai hat.  

In Shanghai wurden am Dienstag erste zaghafte Lockerungen bekannt gegeben. Bewohner von Wohnblöcken, in denen in den vergangenen 14 Tagen kein Positiv-Fall gemeldet wurde, dürfen wieder spazieren gehen.  

Unterdessen aber scheint die Regierung nicht von der Zero-Covid-Strategie abzurücken. Im Gegenteil: Im Land weiten sich die Ausgangssperren aus. Seit Sonntagmittag ist auch Taicang in der Nachbarprovinz Jiangsu betroffen. Dort haben sich zahlreiche europäische Unternehmen angesiedelt. Zudem kursieren Gerüchte, dass in der Hauptstadt Peking und im südchinesischen Guangzhou bald rigide Ausgangssperren verhängt werden. Auch dort sind Soldaten der Volksbefreiungsarmee aufgetaucht, gesichtslos und in weißen Schutzanzügen natürlich.

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