Kurden im Irak - Alles verloren

Lange schien die Kurden­region eine Insel der Stabilität im Irak und in der ganzen Region zu sein. Doch das Streben nach Autonomie hat dieser Illusion ein Ende gesetzt. Jetzt drohen erbitterte Konflikte. Die Folgen wären fatal

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Mit dem Unabhängigkeitsreferendum hat sich Kurden-Chef Barzani verschätzt / picture alliance
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Autoreninfo

Wilfried Buchta ist promovierter Islamwissenschaftler. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Bagdad als politischer Analyst (Senior Political Affairs Officer) für die UNO-Mission im Irak. Als Zeitzeuge hat der ausgewiesene Kenner der Region und ihrer Geschichte die politischen Ereignisse, die zum Erstarken des »Islamischen Staates« geführt haben, täglich hautnah miterlebt. Sein neuestes Buch heißt „Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“ (Hanser Berlin).

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Als Massoud Barzani am 29. Oktober 2017 in einer Geheimsitzung des kurdischen Parlaments seinen Abschiedsbrief verlesen ließ und damit das Präsidentenamt des Kurdistan Regional Government (KRG), der autonomen Kurdenregion des Irak, aufgab, kam er unabweisbar gewordenen Rücktrittsforderungen zuvor. Zugleich bewies sein Rücktritt erneut, dass das alte Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ noch heute gilt. Denn Barzani hatte kurz zuvor in einem hochriskanten politischen Vabanquespiel, bei dem er durch ein rücksichtslos durchgepeitschtes Referendum die von den Kurden Iraks seit langem ersehnte staatliche Unabhängigkeit endlich erreichen wollte, alles auf eine Karte gesetzt. Und alles verloren. Damit erwies Barzani den irakischen Kurden einen Bärendienst. Denn Barzanis mangelhaft durchdachtes Agieren half der schiitisch dominierten Zentralregierung Bagdads, ihre Position zulasten der Kurden zu stärken. Das wiederum warf deren Bemühungen um Unabhängigkeit auf null zurück.

Massoud Barzani / picture alliance

Damit nicht genug. Barzanis fehlgeschlagene Manöver unterminierten die zunehmend brüchige politische Allianz der irakischen Kurden in der KRG selbst und stärkten den Einfluss Irans, der nach dem verfrühten Abzug der US-Truppen 2011 zum mächtigsten externen Akteur am Tigris aufgestiegen war. Zu böser Letzt dürfte Barzanis Agieren, mit dem er die bis Mitte 2017 funktionierende militärische Anti-IS-Allianz zwischen Bagdad und der KRG in Erbil zerstörte, dem in die Defensive gedrängten IS, der fast alle seine Territorien im Irak verloren hat, neuen Lebensodem einhauchen. Mit einem Satz: Barzanis fehlgeschlagenes politisches Abenteuer dürfte für die ohnehin schon fragile Stabilität in der Kernzone des Nahen Ostens unheilvolle Folgen haben.

Kurdenrebellionen und ihre Niederschlagung

Die irakischen Kurden fühlten sich seit der Gründung des modernen Irak dem neuen Staat nie wirklich zugehörig. Wie sollten sie auch? Schließlich hatten die britischen Kolonialherren, als sie den Irak 1921 aus den drei osmanischen Provinzen Basra, Bagdad und Mossul künstlich zusammengesetzt und unter die Regentschaft eines ihnen gegenüber loyalen arabischen Monarchen gestellt hatten, den Kurden anfänglich einen eigenen Kurdenstaat im Nordirak versprochen. Ein Versprechen, das sie freilich nie einlösten. Umso hartnäckiger forderten die Kurden ab dem Jahr 1926 im Rahmen des Irak weitreichende Autonomie in ihren Siedlungsgebieten. Damit stießen sie aber sowohl in Bagdad als auch in London auf Granit. Fortan wurde das notorisch aufsässige und freiheitsliebende Bergvolk zu einem permanenten Unruheherd: In jedem Jahrzehnt flackerten im kurdischen Norden Unruhen und Rebellionen auf, ganz gleich wer in Bagdad gerade regierte. Bis zur US-Invasion von 2003 bildeten diese Kurdenrebellionen eine historische Konstante im Irak.

Nach 1958, als die erste von mehreren aufeinanderfolgenden radikalen arabisch-nationalistischen Militär- oder Einparteiendiktaturen die probritische konstitutionelle Monarchie abgelöst hatte, verschärfte sich die Repression gegen die Kurden um ein Vielfaches. Das war nur logisch, zumal die arabisch-nationalistischen Machthaber am ideologischen Dogma einer einzigen und ungeteilten arabischen Staatsnation unerbittlich festhielten: einer Nation, in der die nichtarabischen Ethnien irgendwann – sei es von allein, sei es mittels zwangsweiser Arabisierung – aufgehen würden. Und so galten ihnen die Kurden wegen ihrer Forderungen nach Autonomie oder gar Unabhängigkeit stets als gefährliche Sezessionisten und Staatsfeinde Nummer eins. Ihren grausamen Höhepunkt erreichte die Repression unter der Baath-Diktatur Saddam Husseins, als Bagdad zum Ende des Iran-Irak-Krieges zwischen 1987 und 1989 einen Kurdenaufstand in Nordirak niederschlug, dabei 200.000 Kurden tötete und 1,5 Millionen zwangsweise umsiedelte. 

Eine eigene Regionalregierung

Politischen Aufwind erhielten die Kurden erst, als die Armee Saddam Husseins durch ihre Niederlage im Kuwaitkrieg geschwächt war und die USA die Kurdenführung unterstützten. Der Ursprung der heute fünf Millionen Einwohner zählenden kurdischen Autonomieregion geht auf das Jahr 1991 zurück, als die USA zum Schutz der Kurden eine Flugverbotszone über dem Nordirak verhängten. Die Autonomieregion besteht aus den Provinzen Erbil, Sulaimaniya und Dohuk, die zusammen eine Fläche von 40 000 Quadratkilometern umfasst, was der Größe der Schweiz entspricht beziehungsweise einem Zehntel des gesamten Iraks. Seither vor militärischen Offensiven Bagdads geschützt, wandelten die Kurden ihre Provinzen in eine politisch und wirtschaftlich autonome Region um. Die wirtschaftlichen Grundlagen bildeten – neben der Landwirtschaft und Zolleinnahmen aus dem Handel mit dem Iran und der Türkei – vor allem auch Finanzhilfen der Uno und der USA für humanitäre Projekte. Dank der Vereinigten Staaten konnten die Kurden sukzessive einen de facto von Bagdad unabhängig funktionierenden Protostaat errichten, den sie Kurdistan Regional Government (KRG) nannten. So hatten die Kurden 2003, als die US-Invasion begann, bereits ein eigenes Parlament, eine eigene Regionalregierung mit Präsident und Ministerpräsident sowie eigene Sicherheitskräfte, die Peschmerga. 

Die größte politische Schwäche der irakischen Kurdenregion resultiert aus ihrer Teilung in zwei Zonen mit jeweils einer eigenen Peschmerga-Armee. In der nördlichen Zone um Erbil regiert die Barzani-Familie mit ihren Klienten und Anhängern. Sie stützt sich auf die älteste und mit der Widerstandstradition der irakischen Kurden untrennbar verbundene Kurdish Democratic Party (KDP). Dagegen dominiert im Süden die Talabani-Familie. Die Talabanis, deren zentrales Einflussgebiet in der Provinz Sulaimaniya liegt, dominieren auch die Patriotic Union of Kurdis­tan (PUK). KDP und PUK ringen seit 40 Jahren um die Alleinherrschaft in Kurdistan – ein Ringen, das bereits zwischen 1994 und 1996 zu einem Krieg mit vielen Tausend Toten führte und der nur durch Vermittlung der USA beendet werden konnte. Beide Seiten einigten sich danach zwar darauf, in der Verwaltung der KRG erneut zu kooperieren, behielten sich aber vor, ihre jeweiligen territorialen Machtbasen unabhängig voneinander zu regieren und auch ihre eigenen getrennten Peschmerga-Armeen und Nachrichtendienste beizubehalten.

Der Sturz Saddam Husseins

Ungeachtet der anhaltenden Rivalität beider Parteien erzielte die KRG in den folgenden Jahren nicht nur bedeutende Fortschritte beim Wirtschaftswachstum, sondern auch in der Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik. Parallel dazu wurde den Schülern und Studenten in den im kurdischen Norden gegründeten Schulen und Hochschulen mit den ersten rein kurdischsprachigen Lehrplänen die alleinige Treue zu Kurdistan ans Herz gelegt. Als dessen Zentrum gilt den Kurden vor allem die zum „heiligen Gral“ des kurdischen Nationalismus stilisierte Stadt Kirkuk, die Hauptstadt der Provinz Tamim, in der die ergiebigsten Öl- und Gasfelder des gesamten Nordirak liegen. Die Kurden sehen Kirkuk seit jeher als ihre ursprüngliche politische Hauptstadt und als kulturelles Zentrum an, das für sie eine ähnliche Stellung einnimmt wie Jerusalem für fromme Juden. 

Kurden demonstrieren für ihre Unabhängigkeit / picture alliance

Nachdem die USA im April 2003 Saddam Husseins Baath-Diktatur gestürzt hatten, die primär von der Minderheit der sunnitischen Araber (20 Prozent der Bevölkerung) getragen wurde, stützten sie sich beim Wiederaufbau des Irak vor allem auf die politischen Parteien der bis dahin von Saddam unterdrückten schiitischen Araber (60 Prozent) und der Kurden (ca. 17 Prozent). Die Machtvakuen, die sich nach dem Sturz des Baath-Regimes auftaten, nutzten die kurdischen Peschmerga-Einheiten. Sie besetzten kurzerhand eine Vielzahl zwischen der KRG und Bagdad umstrittener gemischt-ethnischer Gebiete. Die meisten dieser von Kurden, Arabern und Turkmenen besiedelten Distrikte und Städte liegen in den südlich und westlich der KRG vorgelagerten arabischen Provinzen Ninawa, Salahaddin, Tamim und Diyala. Damit legten die Kurden selbst den Grundstein für einen latenten Konflikt zwischen ihnen und den arabischen Schiitenparteien, die von 2005 an, nachdem die USA freie demokratische Wahlen durchführen ließen, zur dominierenden Kraft in der Zentralregierung in Bagdad aufstiegen. Deeskalierend trat die US-Besatzungsmacht im Irak auf, solange sie das Sagen hatte und zwischen den Konfliktparteien vermitteln konnte, um eine militärische Eskalation zu verhindern.

Zünglein an der Waage zwischen Schiiten und Sunniten

Lange Zeit überwog in den Beziehungen zwischen den Kurden und den Schiitenparteien die Kooperation und nicht die Konfrontation. Einig in dem Willen, die Rückkehr der entmachteten arabischen Sunniten ins Zentrum der Macht zu verhindern, bildeten die Kurdenparteien der KDP und PUK zusammen mit den Schiitenparteien in Bagdad eine Großkoalitionsregierung. Letztere erarbeitete 2005 eine neue Verfassung und gab dem Irak damit eine demokratische und bundesstaatliche Ordnung. Hauptnutznießer der neuen föderalen Verfassung waren die Kurden, zumal sie ihrer KRG-Autonomieregion nicht nur einen legitimen Autonomiestatus verlieh, sondern auch weitreichende Machtbefugnisse einräumte. Zwar scheiterte der Versuch der Kurden, in der Verfassung ein Recht auf Sezession zu verankern; doch de facto waren sie die Gewinner, da ihr Machtzuwachs zulasten der geschwächten Bagdader Zentralregierung ging. 

Bis heute spielen die Kurden in den schiitisch dominierten Allparteienregierungen Iraks die Rolle des Juniorpartners, dem – außer einigen Ministerien – primär das eher symbolisch-zeremonielle Amt des Staats­präsidenten zusteht. Abgesichert waren die Kurden vor allem dadurch, dass sie im Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Kräften der Schiiten einerseits und deren sunnitischen und säkularen Gegnern andererseits das Zünglein an der Waage bildeten. Da sie zumeist die Schiiten favorisierten, bescherte ihnen das viel Einfluss in Bagdad und vor allem viel Geld aus der Staatskasse, etwa in Gestalt der ihnen von Bagdad seit 2005 gewährten 17 Prozent der Staatseinnahmen. Das wiederum bewegte die Kurdenparteien dazu, ihre Sezessionspläne vorübergehend auf Eis zu legen, zumal sie die finanziellen Ressourcen des Gesamtstaats zur Konsolidierung der Macht der KRG nutzen konnten.

Der Aufstieg des IS

Doch der fragile modus vivendi zwischen den Kurden und Bagdad begann in den letzten Jahren der Amtszeit des früheren Ministerpräsidenten Nuri al Maliki (2006–2014) allmählich zu erodieren. Schuld daran war vor allem Maliki, der von 2012 an durch wachsende politische Konfrontation und Strafmaßnahmen (etwa das Einfrieren des 17-Prozent-Deputats der Bagdader Staatseinnahmen) die Kurden schwächen und der Oberhoheit Bagdads unterwerfen wollte. Schlimmer noch: Malikis forcierte politische Ausgrenzung der irakischen Sunniten förderte 2014 den Aufstieg des sunnitisch-dschihadistischen IS-Kalifats im Nordirak. Das wiederum beschwor eine existenzielle Staatskrise herauf, in deren Gefolge sich der Irak de facto endgültig in drei Teile aufspaltete: in jeweils einen schiitischen, kurdischen und sunnitisch-dschihadistischen Teilstaat.

Konfrontiert mit dem IS, kämpften die KRG und die Regierung in Bagdad nun um ihr Überleben und schlossen sich zu einer Anti-IS-Allianz zusammen. Als angesichts des Ansturms der IS-Kämpfer die von korrupten und unfähigen Maliki-loyalen Offizieren befehligten Armeestreitkräfte Bagdads im Juli 2014 zusammenbrachen oder die Flucht ergriffen, kostete dieses Debakel nicht nur Maliki das Amt des Ministerpräsidenten. Es ermöglichte den kurdischen Peschmerga auch, die bis dahin noch von Bagdads Regierungstruppen gehaltenen Territorien in und um Kirkuk zu besetzen. Fast alle Gebietsansprüche, die die Kurden jemals gegenüber der Zentralregierung erhoben hatten, schienen nun erfüllt. Die ab Mitte 2014 von den Pesch­merga kontrollierten Gebiete reichten seither weit über das eigentliche Territorium der Kurdenrepublik hinaus, das sich innerhalb einer Woche um 40 Prozent vergrößerte. 

Barzanis Unabhängigkeitsreferendum

Das wiederum erachtete die von Malikis Nachfolger Haider al Abadi geführte Zentralregierung als nicht hinnehmbare Schmach. Allerdings agierte Abadi umsichtig genug, um dem Krieg gegen den IS vorerst Priorität einzuräumen. Gestützt auf US-Militärberater und -ausbilder sowie auf massive US-Waffenlieferungen, begann Abadi umgehend damit, die demoralisierte Armee wieder aufzubauen. Und tatsächlich konnte er durch Säuberungen im Offizierskorps die Professionalität und Schlagkraft eines Kernes ausgewählter Elitetruppen der Armee und Militärpolizei sukzessive verbessern. Mithilfe der allein der Bagdader Regierung gegenüber loyalen Eliteeinheiten gelang es Abadi, von Frühjahr 2016 an den IS so sehr in die Defensive zu drängen, dass dieser bis Herbst 2017 fast alle seine Territorien einbüßte. Als Bagdads Truppen im Juli 2017 schließlich Mossul, die Hochburg des IS im Irak, einnahmen, war das IS-Kalifat so gut wie zerschlagen. Der IS zog sich weitgehend in den Untergrund zurück.

Peschmerga-Soldaten kämpfen gegen den IS / picture alliance

Dass ausgerechnet dem Präsidenten der KRG, Massoud Barzani, schwerste Fehleinschätzungen unterliefen, muss im Nachhinein erstaunen – galt er doch als ein erfahrener politischer Überlebenskünstler mit ausgeprägtem Sinn für Taktik, List und Macht. Dennoch verkannte Barzani sowohl die Verschiebung der innerirakischen Kräftebalance und die Entschlossenheit Bagdads einerseits als auch andererseits die Verhaltens- und Reaktionsmuster seiner regionalen Nachbarn Iran und Türkei und nicht zuletzt der USA. Denn ansonsten wäre es unerklärlich, warum er Bagdad provozierte und im September 2017 ein bereits seit Jahren angekündigtes Unabhängigkeitsreferendum abhalten ließ. Damit stellte Barzani sich nicht nur gegen die Wünsche der USA und der EU, die dadurch eine Verschärfung der Spannungen befürchteten. Er trotzte auch den Drohungen der Regierungen der Nachbarstaaten Iran und Türkei, die das KRG-Referendum ablehnten, weil sie fürchteten, ein Erfolg könne die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Bevölkerungsgruppen stärken. 

Bagdads Sieg

Das Referendum, das auch in den von Bagdad beanspruchten Territorien abgehalten wurde, ergab 92 Prozent Zustimmung und stieß auf erbitterte Ablehnung Bagdads. Bagdad erachtete es als Verstoß gegen die irakische Verfassung, die zwar eine föderale Staatsordnung festlegt, eine Sezession jedoch nicht vorsieht. Abadi forderte die Regionalregierung in Erbil folglich dazu auf, die Volksbefragung zu annullieren. Als Barzani diese Forderung ignorierte, marschierten Bagdads Armeestreitkräfte – unterstützt von proiranischen schiitischen Milizen – in die Provinz Tamim ein, die sie (nachdem die kurdischen Peschmerga das Feld fast kampflos geräumt hatten) rasch und mitsamt der Hauptstadt Kirkuk und der Ölquellen besetzten. Abadi unterstellte die Provinz mit der Einsetzung eines neuen, diesmal arabischen Gouverneurs der Verwaltung Bagdads.

Entgegen Barzanis Erwartung, Washington werde im Kriegsfall für ihn Partei ergreifen, erklärte die Administration Trump sich für neutral und verkündete nach der Besetzung Kirkuks, dass sie die Rückübernahme der Verantwortung Bagdads in allen umstrittenen Gebieten unterstütze, so wie es auch die Verfassung vorschreibe. Binnen weniger Tage nach dem Einmarsch in Kirkuk zogen sich die Peschmerga kampflos und ohne Vorankündigung auch aus den übrigen zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Territorien zurück – einschließlich Sindschar und aller während der Kämpfe gegen den IS eroberten Gebiete nördlich und östlich von Mossul. Damit schrumpfte die autonome Kurdenregion wieder auf das Gebiet, das die Kurden bereits vor der US-Invasion und dem Sturz des Baath-Regimes 2003 beherrscht hatten.

Die kurdische Klienteldemokratie

Größter Verlierer des Unabhängigkeitsreferen­dums ist sein Initiator, Massoud Barzani, dessen demütigende Niederlage von Kirkuk das kurdische Staats­projekt um Jahrzehnte zurückwarf. Sie schwächte Barzani so stark, dass er sein Amt als KRG-Präsident aufgab. Dessen Rücktritt veranlasste Bagdad jedoch nicht, seine harte Verhandlungsposition aufzuweichen. Denn während die nun aus der Position der Schwäche verhandelnden Kurden nur ein „Einfrieren“ des Referendums anbieten, fordert Bagdad als Ausgangspunkt von Verhandlungen eine Annullierung ex tunc. Diese Forderung versucht Bagdad durch finanzielle Hebel (die Zwangsverwaltung der kurdischen Ölfelder und die Mitte November 2017 beschlossene Reduzierung der KRG-Finanzbeihilfe von 17 auf 12 Prozent) durchzusetzen. In Kurdistan herrscht bereits jetzt eine akute Finanzkrise, und ohne die Einnahmen aus den verlorenen Kirkuk-Ölfeldern ist die KRG nicht lebensfähig. Allerdings birgt auch ein den Kurden aufgezwungener Bagdader Diktatfrieden große Risiken: Abadi riskiert, die gedemütigten irakischen Kurden (oder zumindest einen Teil von ihnen) zu einem Guerillakrieg gegen die Zentralregierung zu veranlassen, etwa im Stil des bereits 33 Jahre währenden Krieges der türkisch-kurdischen PKK gegen Ankara.

Dass das KRG-Parlament Barzanis Rücktrittsbrief nur in geheimer Sitzung verlas, um so zu vermeiden, dass die Öffentlichkeit zu viel davon erfährt, offenbart die Schwäche der kurdischen Demokratie. Denn entgegen weitverbreiteter Annahmen im Westen handelt es sich um eine von Korruption verseuchte Klienteldemokratie – und wird es wohl noch auf absehbare Zeit bleiben. In ihr nehmen mächtige Stammesgroßfamilien die Stelle von politischen Parteien ein. Klienten unterstützen ihre Anführer, und im Gegenzug sorgen diese für das Wohlergehen ihrer Gefolgsleute. Das beste Beispiel liefert die Barzani-Familie, aus der bis jetzt nicht nur der Präsident stammte, sondern die auch weiterhin den Ministerpräsidenten, den Geheimdienstchef, viele Minister und die Mehrheit der führenden Generäle der KDP-Peschmerga stellt.

Iraks Kurden stimmen über ihre Unabhängigkeit ab / picture alliance

KDP gegen PUK 

Bei der Talabani-Familie herrscht selbstverständlich das gleiche Prinzip. Doch regt sich gegen diesen Klientelismus unter den Kurden seit einigen Jahren wachsender demokratischer Widerstand, der sich vor allem mit der Oppositionspartei Gorran (kurdisch für: Wandel) verbindet. Gorran, eine Abspaltung der PUK, konnte in deren Hochburg Sulaimaniya bei Provinzwahlen schon mehr Stimmen als die PUK gewinnen.

Wie sich die tiefe Enttäuschung der meisten Kurden über das Kirkuk-Debakel auswirken wird, etwa durch verstärkten Zulauf zur Gorran, ist noch unklar. Sicher ist nur: Die Schmach von Kirkuk hat den mühsam zugeschütteten Graben zwischen Barzanis KDP und der dem Talabani-Clan nahestehenden PUK erneut aufgerissen. Das wiederum könnte die innere Stabilität der autonomen Kurdenregion KRG ernsthaft gefährden. Denn die KDP bezichtigt die PUK des Verrats, weil sie das Referendum zunächst ablehnte und es später, als sie dem Druck der von Barzani mobilisierten kurdisch-nationalistischen Sezessionsstimmung im Volk nachgab, nur widerwillig mittrug.

In diesem Dolchstoß-Vorwurf der KDP dürfte tatsächlich mehr als nur ein Körnchen Wahrheit stecken. Schließlich waren es Peschmerga-Truppen der PUK, die zu Beginn der Kirkuk-Offensive Bagdads als Erste kampflos abrückten und damit auch jeden weiteren Widerstand der KDP-Peschmerga sinnlos machten. Kurz nach der Kirkuk-Offensive Bagdads räumte die PUK-Führung ein, zuvor mit Bagdad eine Kampfverzichtsabsprache geschlossen zu haben, vermittelt durch einen General der von Teheran zur militärischen Unterstützung des Irak entsandten iranischen Quds-Kräfte, ein der CIA ähnlicher Auslandsgeheimdienst Irans. Ihre Begründung war, sie habe Widerstand nicht nur für aussichtslos, sondern auch für gefährlich gehalten.

Folgen auch für Europa

Deshalb wächst jetzt die Gefahr, dass der Streit zwischen PUK und KDP (bei dem es auch um Verteilungskämpfe um die nun geschrumpften finanziellen Pfründe aus Öleinnahmen in der Autonomieregion geht) zu einem erneuten innerkurdischen Bürgerkrieg eskaliert. Sollte es so weit kommen, stünden Irans Truppen gegen die KDP an der Seite der PUK. Das würde Teherans Einfluss weiter vergrößern, den es ohnehin schon auf das politische und wirtschaftliche Geschehen im schiitisch-arabischen Teil des Irak hat – und zwar in den kurdischen Nordirak hinein.

Alles in allem sind das keine guten Aussichten für den Westen, der die autonome irakische Kurdenregion als vermeintliche Insel der Stabilität bisher großzügig mit Militärberatern, Kriegsgerät und Finanzhilfen im Krieg gegen den IS unterstützt hat. Ebenfalls Sorge bereiten muss dem Westen, dass mit dem Zerwürfnis zwischen Bagdad und Erbil auch das gemeinsame Militärbündnis gegen den IS zerbrach. Noch ist ungewiss, ob sich die Kurdenregion stabilisiert. Doch sollte sie in inneren Auseinandersetzungen versinken oder sich gar in einen Krieg mit Bagdad verstricken, wären zwei Folgen daraus auch für Europa gravierend: Erstens bekäme ein bereits angeschlagener IS gute Chancen, um verlorene Territorien zurückzuerobern und sich militärisch zu erholen. Und zweitens müsste Europa erneut mit einem anschwellenden Flüchtlingsstrom aus dem Irak rechnen. 

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie auch am Kiosk oder in unserem Onlineshop kaufen können.

 

 

 

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