Krieg in der Ukraine - Die Wehrhaftigkeit der Ukrainer stärken

Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann ist auf dem Weg zurück in die Ukraine. Der Kontrast zwischen dem dortigen Kriegsalltag und dem scheinbar unbeschwerten Leben in Berlin führt ihm vor Augen, dass man sich hierzulande das Weltgeschehen am liebsten aus einer unbeteiligten Beobachterposition ansieht. Doch Deutschland sollte jetzt alles tun, um der Ukraine zu helfen.

Im Zeichen setzen sind wir gut: „Sound of Peace“-Konzert am Brandenburger Tor
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Ich sitze im Zug Berlin–Przemyśl, einem etwas altmodischen, aber sehr komfortablen polnischen Eurocity. Es ist der 21. März, ein herrlicher Frühlingstag. Wenn ich die Augen schließe, zeichnet die grelle Sonne Muster auf meine Netzhaut. Weite Felder, auf denen das Gelblich-Braune des Winters dem frischen Grün des Frühlings Platz macht. Ich fahre über Breslau und Krakau, ich kontaktiere auf dem Weg eine alte Freundin in Warschau. Man könnte jetzt etwas Schönes unternehmen. Die Wahrheit ist: Diesen Zug würde es überhaupt nicht geben, wenn nicht 800 Kilometer südöstlich von Berlin Krieg herrschte. Przemyśl, einige Kilometer westlich der ukrainischen Grenze gelegen, ist das Nadelöhr, durch das sich der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine Richtung Westen schiebt.

Zwei Wochen habe ich mich in Berlin von meiner ersten Reise in die Ukraine erholt, inklusive einer aus dem Flüchtlingsstrom mitgebrachten Corona-Erkrankung. Als ich wieder bei Kräften war, fuhr ich an einem Samstagmorgen mit dem Fahrrad ins Büro. In der Morgensonne kamen am Berliner Ostkreuz junge Menschen aus einem Club und blinzelten verkatert in die helle Sonne, andere standen an, um den Tag durchzutanzen. Der Berliner Club-Alltag kehrt zurück nach Monaten der Corona-Pause.

Mir kam das absurd vor: 1000 Kilometer von hier entfernt zittern Freunde von mir, wenn wieder die Sirenen zu hören sind, weil russische Raketen oder Flugzeuge in ihre Richtung fliegen. Auf Telegram folge ich den Horrormeldungen aus vielen ukrainischen Städten. Mir fiel der alte Klassiker „How can we dance while the beds are burning?“ ein. Aber ich kann das nicht verurteilen: Es bringt ja nichts, wenn bei uns in Deutschland die Menschen in eine kollektive Schockstarre verfallen. Ich weiß ja auch, dass meine ukrainischen Freunde bis zum 24. Februar ein ähnliches Leben geführt haben – und jetzt auch gerne tanzen gehen würden, wenn sie könnten.

Der Krieg erscheint vielen wie ein Film

Und doch hat sich in mir über die vergangenen zwei Wochen ein Eindruck verfestigt, der mir Sorgen macht: Wir Deutschen haben uns daran gewöhnt, das Weltgeschehen aus einer distanzierten Beobachterposition zu verfolgen, nicht aus der eines Akteurs, der dieses Weltgeschehen beeinflussen kann. Der Krieg, der sich eine gute Flugstunde von Berlin abspielt, erscheint dann wie ein Film, über den man trefflich diskutieren kann. Exemplarisch dafür die aktuelle Illustration des Spiegel zu einer lesenswerten Titelgeschichte: Präsident Selenskyj ist dort in perfekter Filmplakat-Optik zu sehen, neben ihm Kiews Bürgermeister Klitschko und ein Kämpfer mit Panzerfaust. Es könnte auch das Plakat zu „Stirb Langsam 6“ sein.

 

Moritz Gathmanns Video-Interviews aus der Ukraine:

 

Die „German Angst“ ist nun eine Angst, in einer historisch einmaligen Situation Führung zu zeigen: Lieber abwarten, nichts überstürzen, darauf hoffen, dass sich Kiew und Moskau doch noch irgendwie einigen. Vielleicht kapitulieren die Ukrainer ja am Ende doch? Interessant, dass es gerade die junge grüne Außenministerin Annalena Baerbock ist, die laut fordert: Deutschland muss jetzt eine Führungsrolle in Europa übernehmen. War es nicht Olaf Scholz, der einst mit den Worten geworben hatte: Wer Führung bestellt, der bekommt sie bei mir?

Frieden schafft man nicht ohne Waffen

Dieses passive Zuschauen zelebrierte die politische Klasse dieses Landes nach dem Auftritt von Wolodymyr Selenskyj im Bundestag: Anstatt in diesem historischen, wirklich unvergleichlichen Moment Stellung zu beziehen zu den Vorwürfen, die der ukrainische Präsident da gerade den Deutschen gemacht hatte, sah man Bundeskanzler Scholz nur unter seiner Maske schweigen. Die unmittelbare Härte, die Wirklichkeit eines Krieges war da plötzlich in die sterile Umgebung des Bundestags eingeschlagen wie eine Rakete. Damit konnten die Politiker offenbar nicht umgehen. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Hasselmann brachte die deutsche Haltung auf den Punkt: Man solle diese Rede einfach mal wirken lassen, sagte sie den Parlamentariern, bevor es dann mit der Tagesordnung weiterging. Diese Rede war aber keine Beethoven-Sinfonie in der Philharmonie, sondern der verzweifelte Hilferuf eines Präsidenten, dessen Land ums Überleben kämpft.

Am Sonntagabend haben PUR, Marius Müller-Westernhagen und auch etwas frischere deutsche Popstars vor dem Brandenburger Tor in Berlin gesungen, es wurden über 12 Millionen Euro Spenden für humanitäre Zwecke eingesammelt. „Sound of Peace“ hieß die Veranstaltung, man wollte ein Zeichen setzen. Darin sind wir sehr gut. Aber wir dürfen unser Gewissen eben nicht damit beruhigen, dass wir ja so viel für die Flüchtlinge tun. Denn in der Ukraine herrscht der Sound of War. Und den Frieden schafft man nicht ohne Waffen.

Die Ukraine braucht Waffen

Die ukrainische Armee braucht jetzt vor allem Panzerfäuste, Stinger-Raketen, Luftabwehrgeschütze und – bewaffnete Drohnen, die laut Militärexperten sehr effektiv gegen die russischen Bodentruppen agieren. Deutschland ist der weltweit fünftgrößte Waffenexporteur. Wir haben die entsprechenden Kapazitäten. Es macht etwas Hoffnung, dass Verteidigungsministerin jetzt ankündigt, Waffen zu liefern, auch wenn es reichlich spät kommt.

Auch in das Öl-Embargo gegen Russland muss nun Schwung kommen: Möglicherweise wird das an diesem Donnerstag beschlossen, wenn US-Präsident Joe Biden nach Brüssel kommt. Das hilft den Ukrainern zwar nicht kurzfristig, macht aber den Russen klar, dass auch wir bereit sind, bei der Unterstützung der Ukraine wirtschaftliche Härten zu ertragen – und dass der eingeschlagene Weg Russland ins wirtschaftliche Desaster führen wird.

Nochmal als Beitrag zur allgemeinen Klarheit: Die Ukraine braucht diese Waffen nicht, um Russland anzugreifen. Die Ukraine braucht sie, um ihr Land gegen Aggressoren zu verteidigen, die ihre Häuser zerstören und ihre Bürger töten. Es kann für uns in Deutschland keinen Grund geben, sich dagegen zu stellen. Denn jede Stadt und jede Straße, die die russischen Truppen einnehmen, werden die Verhandlungsposition Moskaus stärken. Wenn wir schon nicht dazu bereit sind, aus guten Gründen mit einer No-Fly-Zone den Himmel über der Ukraine zu schützen: Unterhalb dieser Ebene müssen wir alles mögliche tun, um die Wehrhaftigkeit der Ukrainer zu stärken.

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