Konflikt um Bergkarabach - Und Europa schaut nur zu

Im Konflikt um Bergkarabach ist Armenien der große Verlierer. Aber auch die EU sieht rat- und hilflos dabei zu, wie Russland und die Türkei den Kaukasus unter sich aufteilen. Dabei sind europäische Sicherheitsinteressen massiv berührt.

Bombenkrater in der Nähe einer Kathedrale in der nicht anerkannten Republik Arzach, nachdem das Gebiet unter Beschuss durch aserbaidschanische Streitkräfte gestanden hat / picture alliance
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Autoreninfo

Theocharis N. Grigoriadis ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und Osteuropastudien an der Freien Universität Berlin.

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Das durch Russland initiierte Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan bedeutet einen weiteren wichtigen Wendepunkt in einer der blutigsten und langanhaltendsten Konfrontationen im post-sowjetischen Raum: dem Bergkarabach-Konflikt. Als Ergebnis einer Militäroffensive, die Ende September von Aserbaidschan gestartet wurde, war die armenische Armee gezwungen, sich von allen sieben umliegenden Gebieten zurückzuziehen, die sie seit 1994 besetzt gehalten hatte.

Darüber hinaus sind diejenigen Territorien von Bergkarabach (armenisch: Arzach), die von der aserbaidschanischen Armee eingenommen wurden, nicht Teil des Bergkarabach-Territoriums, das nach der Vereinbarung unter der Kontrolle von russischen Friedenstruppen steht. Jerewan würde den Latschin-Korridor durch Aserbaidschan behalten, aber Baku würde ebenfalls einen Korridor durch den Süden Armeniens erhalten, der das Kernland von Aserbaidschan mit Nachitschewan und der Türkei verbindet. Was von der armenischen Präsenz in diesem umstrittenen Gebiet bleibt, ist die international nicht anerkannte Regierung von Arzach und die einheimische armenische Bevölkerung, die momentan 94 Prozent ausmacht. 

Droht ein Exodus?

Die Zukunft von beidem in der Region bleibt jedoch ungewiss. Es ist nicht klar, wie die Militäroffiziere und die zivile Administration mit den russischen Friedenstruppen interagieren werden, die die Region ohne Zweifel als russische Kolonie behandeln werden. Das Format, das in Bergkarabach eingeführt wurde, erinnert stark an Abchasien and die dort umgesetzte Politik. Darüber hinaus ist nicht sicher, ob die Karabach-Armenier den Sicherheitsgarantien der neuen russischen Truppen vertrauen werden, oder ob sie es vorziehen, ihr angestammtes Land in Richtung Armenien, Russland oder Georgien zu verlassen. 

Das jetzt erzielte Waffenstillstandsabkommen mag die historische Ungerechtigkeit der Vertreibung der lokalen Aserbaidschaner durch die armenische Armee aus denjenigen Gebieten korrigiert haben, die während  der vorigen schwerwiegenden Konfrontation von 1994 zwischen den beiden Staaten besetzt worden waren. Die Orientierung Aserbaidschans nach Westen und die russisch-türkische Rivalität haben damals gleichzeitig eine Lösung gestützt, die im nationalen Interesse Armeniens lag. Nichtdestotrotz hat nicht einmal Armenien die Unabhängigkeit Bergkarabachs anerkannt, weil man davon überzeugt war, dass die Zeit die Angelegenheit zugunsten der de-facto-Unabhängigkeit lösen würde, die letztendlich mit Hilfe Russland de-jure durchgesetzt würde.

Drohende Vertreibung

Die Öldiplomatie Bakus, die sich verschlechternden Beziehungen Russlands zur Europäischen Union und zu den USA sowie Armeniens kürzliche Anstrengungen hin zu einer Öffnung seines politischen Systems hat Bedingungen geschaffen, die günstig für eine Umkehr des Status-quo waren. Die Hauptfrage, die aufkommt, ist, was dieser Wandel für Europa als kulturell-wirtschaftliche Entität und für die Europäische Union im Speziellen bedeutet. Warum könnte Europa von Entwicklungen betroffen sein, die weit entfernt im Kaukasus stattfinden?
Erstens stellt die drohende Vertreibung von einheimischen Armeniern aus ihren angestammten Gebieten in Europas Peripherie eine direkte Verletzung europäischer Werte und ihre Daseinsberechtigung als eine Nationengemeinschaft von Frieden und Stabilität dar. Die Vertreibung von Armeniern und Griechen aus Kleinasien und Thrakien vor einem Jahrhundert scheint gewisse Übereinstimmungen mit dem zu haben, was wahrscheinlich in Bergkarabach passieren wird.

Zweitens bedeutet der ausgehandelte Friedensplan, der Jerewan von Moskau aufgezwungen wurde, nicht nur eine Bestrafung des pro-westlichen armenischen Ministerpräsidenten dergestalt, dass er die politischen Kosten dieser demütigenden Vereinbarung tragen muss. Zusätzlich konsolidiert wird die trilaterale Allianz Moskau-Ankara-Baku im Kaukasus. Eine Allianz von autoritären Regimen, die bereit sind, militärische Gewalt für jeden Zweck einzusetzen. Baku wurde für seine autoritäre Ausrichtung von der regionalen Sicherheitsarchitektur belohnt, während Jerewan für seine Schritte in Richtung Demokratie bestraft wurde. Ist es das, was Europa möchte?

Allianz zwischen Moskau und Ankara

Die Allianz zwischen Moskau und Ankara (Baku war nur ihr regionaler Nutznießer) ist weder zufällig noch von den weltweiten Entwicklungen abgekoppelt. Sie hat als klar ausgesprochenes Ziel, die Nato zu delegitimieren sowie das zu untergraben, was einige Forscher die transformative Kraft Europas für Teile der europäischen Peripherie genannt haben. Also diejenigen Teile der europäischen Peripherie, die zum Russischen oder Osmanischen Reich gehört haben und sich dem EU-Acquis annähern möchten. Die hierarchische Sicherheitsbeziehung zwischen Russland und der Türkei im Kaukasus könnte sich durchaus in Syrien und im Irak oder auf Zypern und in Palästina wiederholen. Dies sind Bereiche, die direkt das europäische Sicherheitssystem beeinflussen und die Kohärenz und Widerstandsfähigkeit der europäischen Grenzen bedrohen. 

Wenn die Europäische Union weiterhin nicht in Betracht zieht, von militärischer Macht Gebrauch zu machen, werden Russland und die Türkei eine bereits angekündigte humanitäre Katastrophe in Bergkarabach zu Ende führen, womöglich auch anderswo. Dies wird direkt die europäische Schwäche aufdecken, nicht nur Sicherheitskrisen in ihrer Peripherie zu regulieren, sondern auch effektiv die dschihadistische Bedrohung auszuschalten, die durch die Türkei und Aserbaidschan in die Konfliktzone importiert wird.

Humanitäre Katastrophe verhindern

Es gibt noch Zeit, eine humanitäre Katastrophe in Bergkarabach zu verhindern. Frankreich sollte seine Mitgliedschaft in der Minsk-Gruppe dazu nutzen, um die Sicherheit der einheimischen Bevölkerung zu gewährleisten und einen massiven Strom an Flüchtlingen zu verhindern, indem Entwicklungsunterstützung organisiert und ein Minimum an grundlegenden Gütern bereitgestellt wird. Die Europäische Kommission wiederum sollte Frankreichs Engagement unterstützen und die nötigen finanziellen Grundlagen für einen Friedensprozess bereitstellen, der nachhaltig sein und von beiden Seiten respektiert wird. 

Das Timing der Präsidentschaftswahlen in den USA und Europas Unentschlossenheit haben der neuen russisch-türkischen Achse einen erheblichen Sieg ermöglicht. Schauen wir, ob es der letzte gewesen sein wird.

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