Katholische Kirche in Polen - Das Vermächtnis des Don Stanislao

In Polen ist die katholische Kirche bis heute ein wichtiger Machtfaktor. Doch wegen übertriebener Regierungsnähe, ihrer Unfähigkeit zu Reformen und der vielen Missbrauchsskandale gerät sie immer tiefer in die Krise. Vor allem die Jüngeren wenden sich ab.

Immer mehr Flecken auf der Weste des polnischen Nationalhelden Papst Johannes Paul II. / dpa
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Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Für das in der Nähe Krakaus gelegene Städtchen Wadowice sollte 2020 sowohl medial als auch wirtschaftlich ein ganz besonderes Jahr werden. Denn 2020 feierte Polen den 100. Geburtstag von Karol Wojtyła, weltweit besser bekannt als Papst Johannes Paul II. Der polnische Papst, der am 18. Mai 1920 in Wadowice das Licht der Welt erblickt hat. Sein Geburtshaus sowie zwei Denkmäler des 2005 verstorbenen Kirchenoberhaupts gehören zu den größten Attraktionen der 20 000-Einwohner-Stadt. Doch das Coronavirus verhinderte den von den Stadtoberen und Händlern erhofften Ansturm von Pilgern und damit Einnahmen, welche Wadowice gut hätte gebrauchen können.

Ob der 100. Geburtstag von Papst Johannes Paul II. ohne Corona ein unbeschwertes Jubelfest zu Ehren des „größten Polen aller Zeiten“ geworden wäre, darf jedoch bezweifelt werden. Vor der Bischofsresidenz in Krakau, wo er vor seiner Wahl zum Papst 1978 zu Hause war, wird neuerdings gegen ihn demonstriert – genau vor dem Fenster, an dem sich das Oberhaupt der katholischen Kirche während seiner Reisen nach Polen oft zu nächtlicher Stunde an die davor versammelten Gläubigen wandte. In Danzig und Breslau verlangen einzelne Stadtabgeordnete die Umbenennung der nach ihm benannten Straßen, während in der polnischen Hauptstadt gar zwei linke Lokalpolitiker die Aberkennung der Ehrenbürgerschaft fordern. Im Gegenzug haben rund 1200 konservative Hochschullehrer einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie vor der Beschmutzung des Rufes von Johannes Paul II. warnen. 

Missbrauchsvorwürfe vertuscht

Auslöser für diese Debatte sind der Anfang November vom polnischen Sender TVN24 ausgestrahlte Dokumentarfilm „Don Stanislao“ sowie der fast zeitgleich veröffentlichte McCarrick-­Bericht des Vatikans, in deren Mittelpunkt Stanisław Dziwisz steht: von 1978 bis 2005 Sekretär von Papst Johannes Paul II. (und somit eine der einflussreichsten Personen im Vatikan), danach bis zu seiner Emeritierung 2016 Erzbischof von Krakau. Laut dem Dokumentarfilm „Don Stanislao“ soll Dziwisz, der 1963 von Karol Wojtyła bereits die Priesterweihe erhielt, zum Teil gegen Geld Missbrauchsvorwürfe gegen Geistliche vertuscht haben.

In dem Vatikan-Bericht fällt sein Name im Zusammenhang mit der umstrittenen Ernennung von Theodore ­McCar­rick zum Erzbischof von Washington. Trotz Vorbehalten aus den Reihen des amerikanischen Episkopats, dem die erhobenen, aber bis dahin nicht belegten Missbrauchsvorwürfe gegen McCarrick bekannt waren, wurde dieser im Jahr 2000 von Papst Johannes Paul II. auf einen der wichtigsten Bischofsstühle der USA berufen. Entscheidend dabei war ein Brief, den McCarrick an Dziwisz schickte und in dem er seine Unschuld beteuerte. 

Ein schwerer Fehler

Dziwisz hat den Brief auch dem Papst vorgelegt, den die Beteuerungen des amerikanischen Bischofs überzeugt haben. So sehr, dass Johannes Paul II. McCarrick ein Jahr nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Washington auch in das Kardinalskollegium aufnahm. Ein schwerer Fehler, wie sich 2018 erwies. Wegen sexuellen Missbrauchs von Priesteranwärtern, Seminaristen und zwei Minderjährigen suspendierte Papst Franziskus den damals bereits emeritierten McCarrick von seinem Priesteramt.

Es sind Schlagzeilen, die das Bild von Johannes Paul II. in Polen ins Wanken bringen. Wie eine Mitte November von der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita veröffentlichte Umfrage ergab, beurteilen zwar noch 81 Prozent der Befragten das Pontifikat ihres Landsmanns als gut, doch wie die Umfrage auch zeigte, sind gleichzeitig 51 Prozent der Meinung, dass Johannes Paul II. nicht ausreichend gehandelt habe, um sexuellen Missbrauch durch Geistliche zu verhindern. 

Als ob nicht schon allein die Debatte über die Rolle von Johannes Paul II. und seines jahrzehntelangen Weggefährten Dziwisz, der Wojtyła bereits während seiner Bischofszeit in Krakau als Sekretär diente, bei der Vertuschung von Missbrauchsfällen innerhalb des Klerus für die katholische Kirche eine Herausforderung wäre, kommt diese auch noch aus ihrer Sicht zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die landesweiten Proteste gegen das De-facto-Abtreibungsverbot durch das Verfassungsgericht vom 22. Oktober, welches Schwangerschaftsabbrüche von schwer missgebildeten oder unheilbar kranken Föten untersagt, richten sich auch gegen die katholische Kirche. Vor allem in den ersten Tagen fanden, wenn auch überwiegend in den Großstädten, viele Demonstrationen direkt vor Kirchen statt. Teilweise kam es auch vor, dass Protestierende die Sonntagsmesse störten.

Katholizismus und Patriotismus

Was man zwischen Oktober und November zu sehen bekam, waren Bilder, die so in Polen während der vergangenen Jahre noch undenkbar schienen. Es gab zwar immer wieder Diskussionen über den Einfluss der Kirche auf den Staat, vereinzelte Störaktionen bei Gottesdiensten von Frauenrechtlerinnen oder Politikern wie Janusz Palikot, der 2011 vor allem bei jungen Wählern mit anti­klerikalen Tönen einen gewissen Nerv traf und seine nach ihm benannte Gruppierung für eine Legislaturperiode ins Parlament führte. Doch niemals zeigte der Unmut gegen die Kirche solche Ausmaße wie in den vergangenen Wochen. Trotz aller Kritik blieb sie, vor allem auf dem Land, wo der Einfluss der Kirche auf das Leben weitreichender ist als in den Städten, eine moralische Institution.

Das hat überwiegend mit der historisch gewachsenen Bedeutung der katholischen Kirche und des Katholizismus für Polen zu tun. Bereits im Jahr 1656 hat König Johann II. Kasimir die Schwarze Madonna von Tschenstochau, die bedeutendste Reliquie des Landes, symbolisch zur Königin Polens gekrönt – ein Jahr, nachdem die Schweden den Wallfahrtsort erfolglos belagert haben. Der Legende nach soll die Schwarze Madonna eingegriffen und so das Kloster auf der Jasna Góra geschützt haben. Nach den Teilungen Polens durch Russland, Preußen und Österreich war es die katholische Kirche, die den polnischen Patriotismus am Leben hielt, weshalb der von Bismarck initiierte Kulturkampf in den damaligen Ostgebieten des Deutschen Kaiserreichs auch ein Kampf gegen das Polentum und mögliche Sezessionsbestrebungen war. Jedem Polen bekannt ist auch das Schicksal des 1982 heiliggesprochenen Maximilian Kolbe. 1941 wurde der Franziskanermönch in Auschwitz ermordet, nachdem er freiwillig für einen Mithäftling in den Hungerbunker gegangen war. 

Am prägendsten für die heutige Bedeutung der katholischen Kirche in Polen waren jedoch die Jahre der Volksrepublik. „Komme hinab Dein Heiliger Geist und erneuere das Land. Dieses Land!“, lauteten die berühmten Sätze von Johannes Paul II., die er 1979 während seiner ersten Reise in sein Heimatland, ein Jahr nach seiner Papstwahl, in Warschau sagte. Worte, die nicht nur Polen veränderten, sondern auch Europa. Die Sätze wurden zu einer der ersten Parolen der im August 1980 entstandenen Solidarnosc, die einen erheblichen Anteil am Fall des Eisernen Vorhangs hatte. Und dass auch Geistliche dafür mit dem Leben bezahlten, zeigt das tragische Schicksal von Jerzy Popiełuszko. Am 19. Oktober 1984 wurde der Warschauer „Kaplan der Solidarnosc“ von drei Mitarbeitern des Staatssicherheitsdiensts entführt, misshandelt und in einem Stausee ertränkt. Popiełuszko, zu dessen Beerdigung 800 000 Menschen kamen, war nicht der einzige Geistliche, der die antikommunistische Opposition in den achtziger Jahren unterstützte. Er war auch nicht der einzige Priester, der während der 40 Jahre währenden Volksrepublik Opfer des Regimes wurde. Doch Popiełuszko wurde zum Symbol des Widerstands innerhalb der katholischen Kirche gegen die autoritäre Herrschaft der Bauern- und Arbeiterpartei.

Kirche und Politik: Neue Dimensionen erreicht

Ausgerechnet in dieser Vergangenheit jedoch wurzeln auch einige der Gründe für die momentan laut geäußerte Kritik an der Kirche. „Dass die Proteste gegen das Abtreibungsurteil des Verfassungsgerichts sich auch gegen die Kirche richten, hat mehrere Gründe. Und der erste ist die Nähe der Kirche zur Politik“, erklärt Tomasz Terlikowski, der wohl bekannteste katholische Publizist des Landes. „Das fing nicht erst an mit dem Regierungsantritt der PiS im Jahr 2015. Seit der politischen Wende 1989 haben alle Regierungen die Nähe zu der Kirche gesucht. Umgekehrt auch“, so Terlikowski, der wegen seiner Ansichten zu Themen wie Abtreibung in Deutschland wohl als erzkonservativer Katholik, wenn nicht gar Fundamentalist gelten würde.

Ein Blick auf die vergangenen 30 Jahre bestätigt die Aussagen Terlikowskis. Egal ob die liberale Unia Wolnosci (Freiheitsunion), die vor allem in der ersten Hälfte der neunziger Jahre die Politik in Polen dominierte, die linke SLD, die ihre Wurzeln in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei der Volksrepublik hat, oder die von 2007 bis 2015 zusammen mit der Bauernpartei PSL regierende rechtsliberale Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) – die Nähe zwischen der Politik und der Kirche war und ist unübersehbar. Das nun vom Verfassungsgericht gekippte Abtreibungsverbot, das Schwangerschaftsabbrüche nur bei Vergewaltigungen, einer Gefahr für die Gesundheit der Mutter und irreparablen Schäden bei Föten vorsah, war das Ergebnis eines 1993 geschlossenen Kompromisses zwischen der Politik und der Kirche. Auch die Entschädigungen, welche die Kirche nach der Wende für die in der Zeit der Volksrepublik erfolgten Enteignungen erhielt, offenbarten die von der Politik gewährte privilegierte Stellung der Kirche.

Geregelt wurde diese von einer dem Innenministerium unterstellten Vermögenskommission, die per Gesetz juristische Immunität besaß und der je sechs Mitglieder der Kirche und der Regierung angehörten. In den vergangenen 30 Jahren gab es immer wieder Skandale über zu hohe oder unberechtigte Entschädigungen, die zum Teil auch Korruptionsbekämpfer beschäftigten.

Mit dem Regierungsantritt der PiS vor gut fünf Jahren hat die Nähe zwischen Politik und Kirche jedoch eine neue Dimension erreicht. „Es ist schwer zu bewerten, ob die Kirche die Politik für ihre Zwecke ausnutzt oder umgekehrt. Fest steht aber, dass sowohl das Episkopat als auch die regierenden Nationalkonservativen die Trennung von Kirche und Staat ablehnen“, sagt Adam Traczyk. „Die Kirchenführer befürchten, dass ein solcher Schritt zur Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben führen würde. PiS-Chef Jarosław Kaczynski hingegen sieht die katholische Moral als einzig universellen Wertekompass, den es in Polen geben kann“, erklärt der Politikwissenschaftler, Mitbegründer des polnischen Thinktanks Global.Lab und seit vergangenem Jahr Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Rhetorische Politisierung der Kirche

Wahre Offenbarungseide dieser Nähe zwischen der PiS und der katholischen Kirche sind die Aussagen nationalkonservativer Politiker und Berichte regierungsnaher Medien. Als die Proteste gegen das Abtreibungsurteil immer stärker wurden, rief Jarosław Kaczynski seine Anhänger zur Verteidigung der Kirche und somit Polens auf. ­Przemysław Czarnek, seit September neuer Bildungsminister, will auch als Reaktion auf die Proteste den Patriotismus der Jugend stärken und deshalb Werke von Johannes Paul II. zur Schullektüre machen. Der staatliche Sender TVP, welchen die Nationalkonservativen zu einem Propagan­daorgan umgebaut haben, fasste den Frauenstreik folgendermaßen zusammen: „Patriotismus und die Kirche, die Fundamente des polnischen Staates, sind das Ziel von Angriffen der Abtreibungsbefürworter.“ Die Gleichsetzung von PiS, Staat und Kirche geht mittlerweile so weit, dass nationalkonservative Medien nicht nur dem renommierten liberalen katholischen Wochenmagazin Tygodnik Powszechny absprechen, wirklich katholisch zu sein, sondern zum Teil sogar Bischöfen und Priestern, die sich kritisch über die Regierung äußern.

Auch in der Rhetorik der Kirche macht sich diese Nähe bemerkbar. „Die Kirche hat keine eigene Sprache“, bemängelt Terlikowski. „Statt die Sprache des Evangeliums spricht sie die Sprache der Politik“, so der katholische Publizist und verweist dabei unter anderem auf den Begriff „Neomarxismus“. Sowohl einflussreiche Bischöfe wie der Krakauer Erzbischof Marek Jedraszewski als auch nationalkonservative Politiker wie Staatspräsident Duda bezeichneten LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) wiederholt als eine „neomarxistische Ideologie“. Die Gründe für die Politisierung der Sprache sieht Terlikowski aber nicht nur in der Entwicklung der vergangenen 30 Jahre. „Auch die 40 Jahre der Volksrepublik, in der sich die Kirche gegen politischen Druck behaupten musste, haben zu der rhetorischen Politisierung der Kirche geführt.“

Dabei gibt es innerhalb des Episkopats und des Klerus durchaus Stimmen, denen nicht nur die Nähe zur PiS zu weit geht, sondern die auch fordern, das Evangelium in den Mittelpunkt der Kirchenbotschaft zu stellen. Kräfte, die gegen die politischen Claqueure innerhalb des Klerus wie den Redemptoristen Tadeusz Rydzyk, Gründer und Chef des einflussreichen nationalkatholischen Medienimperiums um Radio Maryja, kein Gehör finden können. „Dabei vertreten diese kritischen Geistlichen wie der Dominikaner Pawel Guzinski klar die Lehre der katholischen Kirche“, bemerkt Terlikowski. „Lediglich ihre politischen Ansichten sind anders“, fügt er hinzu. 

Der Stern der Kirche sinkt

Die Unfähigkeit zu inneren Reformen ist ein weiterer Grund dafür, warum die Kirche in den Mittelpunkt der Proteste rückte. „Es ist auch die Wut über den Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsskandalen“, sagt Terlikowski. Über Jahre haben die polnischen Bischöfe diese nicht nur ignoriert und mit Unterstützung der PiS gar als einen Angriff auf die Kirche interpretiert, sondern regelrecht vertuscht. Priester, gegen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs erhoben wurden, wurden einfach in andere Pfarreien versetzt, wo sie sich an anderen minderjährigen Untergebenen vergingen. Eine Vertuschungspraxis, die bis in die höchsten Kirchenhierarchien reichte. Julius Paetz, Erzbischof von Posen, trat 2002 von seinem Amt zurück, nachdem bekannt geworden war, dass er Priesteranwärter sexuell belästigt hatte. Für seine Taten musste er sich jedoch nie verantworten. 

Und Paetz ist nicht der einzige namhafte Geistliche, der sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hat. Tadeusz Cybula, langjähriger Beichtvater von Lech Wałesa, musste zugeben, eine Zwölfjährige missbraucht zu haben. Der jüngste Fall ist nun der des langjährigen Erzbischofs von Breslau, Henryk Gulbi­nowicz. Am 6. November, zehn Tage vor seinem Tod, entzog der Vatikan dem 97-Jährigen seine Bischofsrechte. Statt in der Breslauer Kathedrale wurde Gulbinowicz in einem namenlosen Grab bestattet. 

In einer im November veröffentlichten Umfrage bezeichneten 32 Prozent der Befragten ihr Verhältnis zu der Kirche als negativ. Eine seit Jahren andauernde Entwicklung, die Folgen hat. „Die Zahl der Priesteranwärter oder Novizen geht stark zurück“, mahnt Terli­kowski. Hinzu kommt, dass vor allem junge Menschen sich immer mehr von der Kirche abwenden. „Je reicher eine Gesellschaft wird, desto laizistischer wird sie“, sagt Terlikowski. „Polen erlebt nun das, was zuvor in Irland und Spanien geschah“, so der Publizist. Das kann auch weitreichende Folgen für jene politischen Kräfte haben, welche die Nähe zu der Kirche gesucht haben.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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