Kardinal Luis Antonio Tagle - Der rote Papst

Kardinal Luis Antonio Tagle – im Vatikan Chef der Kongregation für die Evangelisierung der Völker – gilt als aussichtsreichster Anwärter auf die Nachfolge von Franziskus.

Der Kardinal der Philippinen hat gute Chancen, nächster Papst zu werden / Action Press
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Julius Müller-Meiningen arbeitet seit 2008 als freier Journalist in Rom. Er berichtet auf seiner Homepage 
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Neulich im römischen Aurelio-Viertel, nicht weit vom Vatikan. Ein schwarzer Kleinbus hält an der Ampel, im Fonds sitzt ein jugendlich wirkender Mann in Schwarz, blickt aus dem Fenster heraus und strahlt über das ganze Gesicht. Luis Antonio Tagle winkt mit der rechten Hand, als wäre er schon in Amt und Würden. Hat da gerade der nächste Papst gegrüßt? 

Tagle ist der Mann der Stunde im Vatikan. Der Kardinal von den Philippinen ist das freundliche Gesicht des Katholizismus. Er hat gute Chancen, von seinen Kollegen beim nächsten Konklave als 267. Bischof von Rom und Nachfolger des Apostel Petrus gewählt zu werden.

Der „rote Papst“

Noch ist Papst Franziskus im Amt, sein Nachfolger wird erst nach seinem Tod oder im Fall eines Rücktritts gewählt. Franziskus ist 86 Jahre alt, sein Reform­elan scheint nicht mehr so groß zu sein wie noch zu Beginn des Pontifikats vor acht Jahren. Der Papst aus Argentinien dreht weiter an ein paar Stellschrauben, große Würfe erwartet sich niemand mehr von ihm. Eine seiner wichtigsten Entscheidungen der vergangenen Jahre war die Berufung des Erzbischofs von Manila in den Vatikan. 

Seit 2020 ist Kardinal Tagle Chef der mächtigen Kongregation für die Evangelisierung der Völker, einst als „de propaganda fide“ bekannt. Weil die Behörde für die Missionsgebiete in Afrika, Asien, in Teilen Lateinamerikas und Ozeaniens zuständig ist und 3000 Bistümer kontrolliert, wird ihr Leiter „roter Papst“ genannt. Der Rote könnte bald der Weiße werden.

Machtwirrwarr im Vatikan

Erfahrene Beobachter wie der Vatikankenner John Allen jr. sahen in der Nominierung Tagles den Versuch des Papstes, seinen eigenen Nachfolger in Stellung zu bringen. Franziskus hat keinen direkten Einfluss auf die Wahl im Konklave. Er kann aber indirekt mitbestimmen. 

Tagle spricht fließend Filipino, Englisch, Spanisch, Französisch und Italienisch. Vatikanisch konnte er bei seiner Berufung noch kaum. Sich im Machtwirrwar des Heiligen Stuhles auszukennen, ist eine wesentliche Voraussetzung für einen Papst. Franziskus hat das selbst erlebt, nachdem er 2013 als völliger Außenseiter und Kurienanfänger nach Rom gerufen wurde.

Katholischer Überflieger

Tagle, den manche wegen seines Charismas den „Franziskus Asiens“ nennen, sammelt nun also bereits Erfahrung im Vatikan. Sein Einfluss in der katholischen Kirche dürfte wachsen. Denn in der von Franziskus auf den Weg gebrachten Reform der Kurie soll die Evangelisierungsbehörde zu einem Superministerium ausgebaut werden, das sogar die Glaubenskongregation, die Kontrollbehörde für die Einhaltung der Dogmen, in den Schatten stellt. Franziskus handelt dabei getreu seiner Devise, dass das echte Leben, also die Verbreitung des Glaubens bedeutender sei als die Überwachung seiner Reinheit. Für diesen Job ist der Menschenfischer Tagle offenbar genau der Richtige.

Der 64-Jährige beherrscht moderne Kommunikation, er twittert Videos, in denen er, stets freundlich und nahbar, das Evangelium auslegt. „Chito“ wird er von den Gläubigen auf den Philippinen genannt, der drittgrößten katholischen Community weltweit nach Brasilien und Mexiko. Ein einfaches hölzernes Kreuz statt schwerem Gold oder Silber prangt auf seiner Brust. Früher fuhr Tagle als Bischof mit dem Fahrrad zur Messe. Als Papst Benedikt XVI. ihn 2012 in den Kardinalsrang erhob, liefen dem damaligen katholischen Shootingstar im Petersdom die Tränen über die Wangen, angeblich weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte. Dass er das Zeug zum Stellvertreter Christi auf Erden hat, davon sind viele in der Kirche überzeugt.

Blutjunger Ü-60er

Tagle hat sich in den vergangenen Jahren eindeutig als Reformer geoutet. Als Mitherausgeber einer Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils steht er theologisch der sogenannten Schule von Bologna nahe, die im Konzil einen Motor zur Reform der Kirche erkennt. Die Ratzinger-Fraktion hält hingegen bis heute an unveränderbaren Wahrheiten fest. Tagle trug auch Franziskus’ Reformbemühungen mit, etwa als er sich für einen weniger dogmatischen, sondern nachsichtigen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen aussprach. Bei den Themen Abtreibung und Empfängnisverhütung hingegen bekennt sich Tagle, der seit 2015 auch Präsident der internationalen Caritas ist, zur Doktrin. 

Der Filipino mit chinesischen Wurzeln ist zudem einer der wenigen Kandidaten für das Papstamt, dem die Zeit in die Karten spielt. Für die meisten Kandidaten läuft der Countdown, die Altersgrenze für das Konklave ist 80 Jahre. Tagle ist mit 64 Jahren für Vatikanverhältnisse noch blutjung. 
Um Papst zu werden, hat er also noch 16 Jahre Zeit.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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