Großbritanniens Reaktion auf die US-Wahl - Zittern um die „Special Relationship“

Boris Johnson würde gerne wieder Donald Trump im Weißen Haus sehen. Er setzt auf die „Special Relationship“, die beide Länder traditionell verbindet. Doch würde die nicht auch gewahrt werden, wenn der neue Präsident Joe Biden hieße?

Boris Johnson hatte einen Wunschkandidaten im Rennen um die US-Präsidentschaft / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Jetzt bloß nicht in letzter Minute etwas falsch machen, scheint sich der britische Premierminister gedacht zu haben. Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei hatte Boris Johnson am Mittwoch im Unterhaus dazu aufgefordert, Donald Trumps Versuche zu verurteilen, das Auszählen der Stimmen bei den US-Wahlen zu verbieten. Der sonst wortgewaltige und meinungsstarke britische Premierminister aber hielt seine Zunge im Zaum: „Wir als britische Regierung kommentieren selbstverständlich den demokratischen Prozess unserer Freunde nicht.”

Die britische Regierung hat mit Coronakrise und Brexitchaos bereits genug zu tun. Eine Verschlechterung der Beziehungen zum Weißen Haus käme da ganz schlecht. Schließlich blickt man von London nach Washington DC noch immer mit dem leicht sentimentalen Gefühl, es handle sich bei Amerikanern und Briten um eine „Special relationship”, wie Winston Churchill die besonders enge Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika einst nannte. Solange in den USA noch um ein endgültiges Wahlergebnis gerungen wird, liegen deshalb auch in London die Nerven blank.

Politik wird auch im Hintergrund gemacht

Für das Vereinigte Königreich steht viel auf dem Spiel. „Amerika muss seine Beziehungen mit den verschiedenen Partnern und Alliierten nach vier schwierigen Jahren unter Donald Trump wieder aufbauen”, sagt Karin von Hippel, die Generalsekretärin des britischen Thinktanks Royal United Services Institute, im Interview mit Cicero.

Als Amerikanerin kennt sie die Arbeitsweise der amerikanischen Administration, weil sie unter Barack Obama im State Department gearbeitet hat. „Boris Johnson und Joe Biden sind sich vielleicht nicht besonders nahe, aber die höheren Beamten, die Militärs und auch hochrangige Regierungsmitglieder werden ganz schnell engere Beziehungen aufbauen.” 

Trump und Johnson

Erst muss Boris Johnson vielleicht noch ein bisschen vergessen machen, dass er seit 2016 seine Sympathie für Donald Trump nie verheimlicht hat. Die beiden – vorgeblich – volksnahen Populisten, die in ihren Parteien die zivilisierten Konservativen an den Rand gedrängt haben, haben einiges gemeinsam.

Sie verabscheuen die EU; sie setzen lieber auf bilaterale Beziehungen als auf multinationale Organisationen; beide Politiker geben vor, einem wirtschaftlich und sozialen ultraliberalen Kapitalismus anzuhängen. Donald Trump hat auch Johnsons Lieblingsprojekt, den Brexit, immer ostentativ gut geheißen.

Biden und Johnson

Karin von Hippel glaubt dennoch nicht, dass ein Wahlsieger Joe Biden sich an Boris Johnson rächen würde wollen: „Dazu sind alle Beteiligten viel zu pragmatisch. Bidens Administration würde gleichzeitig versuchen, die Beziehungen mit der EU und mit dem Vereinigten Königreich wieder auf Spur zu bringen.” Biden ist ein US-Demokrat der alten Schule: Er sieht sowohl politisch wie militärisch eine Rolle für Amerika in der Weltpolitik als führende Nation im Lager der westliche geprägten Demokratien.

Wie die USA denken

Jeremy Shapiro vom ECFR, dem European Council for Foreign Relations, stimmt dem zu: „Es geht nicht um Special Relationship oder nicht – in Washington denkt man nicht so.” Vor seinem Umzug nach London arbeitete Shapiro ebenfalls im US State Department. „Man setzt sich nicht mit einem Kind in der Klasse zusammen und redet dann hinter dem Rücken der anderen schlecht über die anderen. Es sind für die USA alle Beziehungen in Europa special.”

Shapiro streicht bei einer Veranstaltung von „UK in a changing Europe” des King’s College London außerdem heraus: „Unter Obama und sogar unter Trump fand Washington den Zugang zu Berlin und Paris oft einfacher, weil in London alles mit der Brexit-Fixierung blockiert ist.”

USA und UK vor Veränderungen

Amerika bereitet sich jetzt auf das Ende der Ära Trump vor. Ab Januar 2021 beginnt aber auch auf der britischen Insel eine neue Zeitrechnung. Die Briten können nach dem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt verstärkt nach neuen Handelspartnern suchen. Besonders wichtig ist für die Regierung in London dabei, die neue Ära als alleinstehende Handelsnation mit dem Abschluss eines eigenen Freihandelsabkommens mit den USA feiern zu können. Boris Johnson hatte gehofft, dass Donald Trump ihm seine kleine Hand über den großen Teich entgegenstrecken würde. 

Ob die Verhandlungen einfach und schnell gegangen wären, haben Experten allerdings immer bezweifelt. „Boris Johnson hätte große Zugeständnisse bei Marktzugang und Lebensmittelstandards machen müssen”, meint Allyson Stewart-Allen, eine kalifornische Autorin, die seit 30 Jahren in Europa lebt und britische Firmen in Handelsfragen mit Amerika berät. Ob es nicht „Wishful thinking” der Pro-Europäer ist, dass Joe Biden Großbritannien jetzt nach hinten in die Reihe der Bittsteller schicken wird? „Joe Biden wird Boris Johnson jedenfalls nicht bevorzugt behandeln”, sagt Stewart-Allen.

Das Vereinigte Königreich ist auf seine Partner angewiesen

Wirtschaftlich gesehen sind die Vereinigten Staaten für das Vereinigte Königreich immens wichtig. Die Briten exportieren ein Fünftel ihrer Waren nach Amerika. Insgesamt gesehen ist die EU der größte Exportmarkt für britische Produkte, 43 Prozent der exportierten Waren gehen in den EU-Binnenmarkt.

Sollten die Verhandlungen mit der EU über ein schlankes Freihandelsabkommen in den nächsten Wochen doch noch scheitern, wäre das für die britische Industrie ein harter Schlag. Dann wird sich die Aufmerksamkeit in Downing Street noch verstärkt auf die USA richten – egal, wer dann im Weißen Haus sitzt.

Bidens Plan für Europa

„Umgekehrt ist es auch für den neuen US-Präsidenten von großer Bedeutung, nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa bevorzugt handeln zu können. Die EU ist unglaublich interessant für eine Biden-Administration”, sagt Kate McNamara, Professorin an der Georgetown University In Washington DC. Ob die EU mit einer ihr freundlich gesinnten US-Administration schneller ein seit langem betriebenes Freihandelsabkommen schließen kann als die britische Regierung, die bisher mit Trump gekuschelt hat? „Für die US-Regierung sind die Investitionen in Großbritannien viel wichtiger als der Handel”, meint McNamara. Das Vereinigte Königreich ist mit 66 Millionen Einwohnern ein viel kleinerer Markt als die EU mit 447 Millionen. 

Die Karten stehen also für die britische Regierung mit Joe Biden als US-Präsident nicht unbedingt besser als sie mit Donald Trump 2.0 gewesen wären. Allerdings ist eine Biden-Administration wohl auf Dauer ein verlässlicherer Partner. 

Geteilte Meinungen in der Downing Street 10

Auch in Downing Street dürften die Meinungen deshalb geteilt sein, ob es nicht auch für die Briten besser ist, dass Donald Trump mit seiner erratischen Politik die Weltbühne verläßt. „Es gibt schon Trump-Fans in der britischen Politspitze. Das sind die gleichen, die die EU nicht ausstehen können und gehofft haben, dass Trump die EU zerstört”, sagt Gideon Rahman, Weltpolitik-Kommentator der „Financial Times”: „Das macht zwar keinen Sinn in einer Welt, in der es darum geht, mit dem immer mächtiger werdenden China umzugehen statt sich im Westen gegenseitig zu zerstören – aber hier in Britannien ist das eben mit dem Brexit eine ideologische Frage geworden.”

Europa ist nicht die oberste Priorität

Den transatlantischen Beziehungen steht eine Neuorientierung bevor. Biden würde sich als neuer US-Präsident aber zu Beginn seiner Amtszeit nicht primär um Europa kümmern können. „Priorität Nummer Eins ist die Bekämpfung von Covid-19”, sagt die Chefin des Thinktanks Karin von Hippel. „Priorität Nummer Zwei: Amerika wieder zu einen und zu heilen. Und das könnte eine Weile dauern.”

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