Islamische Welt - Der Untergang des Morgenlandes

Die arabisch-islamische Welt ist ein einziges Krisengebiet: Kriege, Korruption, Staatsversagen und religiöser Fanatismus prägen fast die gesamte Region. Doch an vielen Missständen hat der Westen seinen Anteil. Mit Unkenntnis und Doppelmoral heizen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten das tödliche Feuer immer weiter an

Erschienen in Ausgabe
„Mit dem Syrien-Krieg ebnete der Westen den Dschihadisten den Weg zu einem Machtgebiet im Osten des Landes“ / Simon Prades
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Autoreninfo

Michael Lüders ist einer der profiliertesten deutschen Nahostexperten. Der promovierte Islamwissenschaftler war viele Jahre Redakteur bei der Zeit und ist heute freier Publizist und Politikberater. Lüders, geboren 1959 in Bremen, hat zahlreiche Bücher über den Nahen Osten verfasst, zuletzt „Armageddon im Orient“ (C. H. Beck, München 2018)

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Die arabisch-islamische Welt stellt mittlerweile einen nahezu durchgehenden Krisenbogen dar, heimgesucht von Kriegen, Staatszerfall, Stagnation und Gewalt. Sichtbarstes Zeichen dieses Niedergangs ist der Terror, verkörpert etwa von Al Qaida oder dem „Islamischen Staat“. Ist nun die Religion, der Islam, ursächlich dafür verantwortlich, wie weite Teile der hiesigen, der westlichen Öffentlichkeit glauben? Der Eindruck liegt nahe, berufen sich doch Dschihadisten ebenso auf den Islam wie auch die meisten Herrscher in der Region. Gleichwohl ist die Religion nicht Ursache der dortigen Misere, sondern deren Menetekel. Vergleichbar dem Konflikt in Nordirland, der sich entlang der Bruchlinien von Katholiken und Protestanten entzündet hat, im Kern aber ein politischer ist: In erster Linie geht es um die Verteilung von Macht und Ressourcen, auch um Fragen der Identität, gewiss nicht um biblische Exegese.

Der Niedergang Nordafrikas und Westasiens ist gleichermaßen selbst verschuldet und von außen verursacht: als Folge kolonialer und imperialer Einflussnahme seit mehr als 200 Jahren. Die Grenzen verlaufen dabei fließend. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Verhältnisse vor Ort, allen voran auf das Unvermögen und den Unwillen der jeweiligen Machthaber, andere als Klientelinteressen zu bedienen. Entsprechend wird jedwede Opposition in der Regel gewaltsam unterdrückt. Bis es zum großen Knall kommt, zuletzt im Zuge der Arabischen Revolte 2011. Es folgt die Herrschaft von Militärs, Milizen oder Warlords, von Clans und Stämmen, von religiösen und ethnischen Gruppen – mithin Kleinstaaterei, Selbstzerstörung und Barbarei. Gegenwärtig zu besichtigen etwa in Libyen, im Jemen, in Syrien, im Irak und in Afghanistan. In den genannten Staaten waren westliche, amerikanisch dominierte Militärinterventionen allerdings der entscheidende Brandbeschleuniger, wenn nicht die Brandursache. In solchem Umfeld gedeihen verschiedene Gruppen von Dschihadisten, denen der Koran als Folie zur Rechtfertigung von Willkür, Eroberung und Terror dient.

Keine gesellschaftlich dominanten Mittelschichten

Wer den Islam mit Gewalt und Mittelalter gleichsetzt, verfügt über eine griffige, emotional wirksame Formel, die allerdings Entscheidendes übersieht – den politischen und gesellschaftlichen Kontext nämlich. Die arabisch-islamische Welt ist geprägt von ihrer „Hybridität“, dem Nebeneinander feudaler und (post-)moderner Lebensverhältnisse: Industrialisierung und Digitalisierung hier, Großgrundbesitz, De-facto-Leibeigenschaft und Subsistenzlandwirtschaft dort. Am sichtbarsten wird diese Gleichzeitigkeit von morgen und vorgestern in den Golfstaaten, wo eine hypermoderne Architektur einhergeht mit politischem Feudalismus in Reinkultur: ein Land, eine Herrscherfamilie. Alle arabischen Regime haben seit der Unabhängigkeit der arabischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Ziel verfolgt: ihre eigene Clanherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen und nach Möglichkeit vom Vater auf den Sohn zu vererben.

In den ölreichen Golfstaaten gelingt das mithilfe von Geldgeschenken an die eigene Bevölkerung noch am leichtesten – Steuerbefreiung, kostenloses Gesundheitswesen, eine Villa vom Staat als Hochzeitsgeschenk et cetera. Ironischerweise verfügen die historisch unzeitgemäßen Golfherrscher über die beste Leistungsbilanz in Grundsatzfragen, etwa Stadtplanung, Begrenzung des Bevölkerungswachstums, langfristiges Investment, Bildung und zunehmend auch Gender. In den übrigen Staaten der Region sind diese Themen weitgehend ohne Bedeutung, mit Ausnahme von Marokko und Tunesien.

Clan, Stamm, religiöse und ethnische Gruppen – warum aber spielen sie eine so große Rolle? Weil die arabisch-islamische Welt infolge einer nur teilweise erfolgten Industrialisierung über keine gesellschaftlich dominanten bürgerlichen Mittelschichten verfügt, die mit den feudalen Strukturen brechen und Pluralität, Gewaltenteilung oder individuelle Freiheiten einfordern könnten. Deswegen auch musste die Arabische Revolte nahezu zwangsläufig scheitern, gelang den Vertretern der alten Ordnung mühelos die „Konterrevolution“, abgesehen vom Sonderfall Tunesien.

Ein Sunnit bleibt ein Sunnit – die Nationalität ist sekundär

Entsprechend ist die soziale Struktur eine ganz andere als etwa in Westeuropa. Sie ähnelt einer Pyramide. An der Spitze steht eine zahlenmäßig kleine, 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung umfassende Macht­elite aus feudalen Herrschern, Generälen in Trass oder Zivil (allen voran „Generalfeldmarschall“ Abdel Fattah al Sisi in Ägypten, des Westens liebster arabischer Diktator) und millionen- oder milliardenschweren Rentiers, seit Generationen untereinander versippt und verschwägert. Ihr teilweise obszöner Reichtum beruht vor allem auf der hemmungslosen Plünderung der Staatskasse – entsprechend befinden sich vor allem die Infrastruktur und das Bildungswesen meist in einem katastrophalen Zustand. Die eigenen Kinder schickt diese Machtelite vorzugsweise auf Eliteschulen in Europa oder Nordamerika.

Die bürgerlichen Mittelschichten stellen 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung und sind stets vom sozialen Abstieg bedroht. Ein Lehrer in Kairo etwa verdient umgerechnet keine 100 Euro im Monat, bei galoppierender Inflation. Davon kann niemand leben, entsprechend grassiert die Korruption, ist jeder angewiesen auf die Solidarität der Großfamilie, des Clans, des Stammes, einer religiösen oder ethnischen Gruppe. Soziale Sicherungssysteme sind so gut wie nicht vorhanden. Der jeweiligen Gruppe kann niemand „entkommen“: Die Identität des Einzelnen ist mit der Geburt weitgehend festgelegt, er ist Teil seiner Gruppe, ob er will oder nicht. Ein Sunnit bleibt in erster Linie ein Sunnit, ein Kurde ein Kurde, ein Araber ein Araber – die Nationalität ist dabei sekundär. Das gilt umso mehr, wenn die staatliche Ordnung zusammenbricht. Gnade Gott dem irakischen Schiiten, der in eine Straßensperre irakischer sunnitischer Extremisten gerät (und umgekehrt).

Die Zukunft erscheint als blutiges wasteland

Das Gros der Bevölkerung aber entfällt auf den sogenannten „informellen Sektor“, mit anderen Worten: auf Tagelöhner und Selbstversorger. Rund die Hälfte der 90 Millionen Einwohner im bevölkerungsreichsten arabischen Land Ägypten zählt zu diesem Prekariat. Mindestens 40 Millionen Ägypter leben von weniger als zwei Dollar am Tag und somit unterhalb oder am Rande der Armutsgrenze. Eine Chance auf sozialen Aufstieg haben sie nicht, und fast alle sind sie Analphabeten. Es liegt auf der Hand, dass radikale Islamisten vor solchem Hintergrund keine Mühe haben, Anhänger zu rekrutieren – sofern sie Hoffnung oder Geld anbieten. Vorrangig geht es dabei um Brot, weniger um Ideologie.

Die endemische Gewalt in der Region, die zahlreichen Kriege und der wuchernde Dschihadismus sind auch Ausdruck eines „Häutungsprozesses“: Die alte, historisch überlebte Ordnung stemmt sich brutal und rücksichtslos, unter Einsatz der Armee, regimenaher Milizen und der Geheimdienste, gegen ihre letztendlich unvermeidliche Ablösung – sofern sie sich nicht selbst erneuert oder neu erfindet. Allerdings zeichnet sich eine alternative, die postfeudale Ordnung, bestenfalls in Umrissen ab, mangels sozialer Basis, wie erwähnt. Die Zukunft erscheint als ein weites, offenes und vor allem blutiges wasteland. Im schlimmsten Fall läuft es auf einen Dreißigjährigen Krieg hinaus, der gegenwärtig wohl erst das Jahr vier oder fünf erreicht haben dürfte.

„Liberale Interventionisten“ in Deutschland

In dem Zusammenhang sei auf den grundlegenden Denkfehler hiesiger Regimewechsel-Apologeten hingewiesen. Assad stürzen, Zivilgesellschaft stärken, die demokratische Morgenröte vollziehen – dieses Glaubensbekenntnis „liberaler Interventionisten“ ist projektives Wunschdenken. Die „Verbürgerlichung“ einer Gesellschaft ist niemals mit militärischen Mitteln zu erreichen, geschweige denn einer bewaffneten Intervention von außen. Ganz im Gegenteil führen Kriege und wirtschaftliche Boykottmaßnahmen zur Auflösung und Zerstörung der Mittelschichten, zu ihrer dauerhaften Verelendung. Damit fallen sie als Akteure des sozialen und politischen Wandels auf Jahrzehnte, wenn nicht Generationen aus. So geschehen etwa im Irak, wo die Sanktionen nach Saddam Husseins Überfall auf Kuwait 1990 die im arabischen Maßstab bis dato am stärksten ausgeprägten Mittelschichten vollständig ausgelöscht haben. Die damit einhergehende Verrohung der Gesellschaft erklärt teilweise die spätere Barbarei des „Islamischen Staates“. Mehr als eine Million Iraker sind infolge der von Washington und London vorangetriebenen Sanktionen ums Leben gekommen, vor allem infolge fehlender medizinischer Versorgung. Erst nach Saddam Husseins Sturz 2003 wurden sie aufgehoben. Wer weiß das, hierzulande? Und wen kümmert es?

Desgleichen haben besagte „liberale Interventionisten“, in Deutschland allen voran bei den Grünen anzutreffen, meist keinerlei Ahnung von kulturellen und geschichtlichen Zusammenhängen. So übersehen sie auch den vorherrschenden Konfliktlösungsmechanismus in einer von Clan- und Stammesstrukturen bestimmten Gesellschaft. Der besteht eben nicht aus der Suche nach Kompromiss und Ausgleich, geschweige denn aus „Basisdemokratie“ – angestrebt wird vielmehr die vollständige Vernichtung des jeweiligen Gegners. Nach dieser Logik gibt es nur Sieg oder Niederlage, schwarz oder weiß. Augenmaß gilt dementsprechend als Zeichen der Schwäche. Den Assad-Clan stürzen mithilfe der „Opposition“ hieße im Klartext nichts anderes, als die Klientelherrschaft der einen Gruppe durch die einer anderen zu ersetzen. Gewonnen wäre damit nichts, lediglich die Pest gegen die Cholera ausgetauscht. Die neuen Feudalherrscher würden ihre Macht mit derselben Skrupellosigkeit verteidigen wie die alten. Das ewige Mantra von der „Zivilgesellschaft“ ist ein westliches Gutmenschen-Narrativ, jedenfalls keine auf Fakten beruhende Bestandsaufnahme gegebener (Macht-)Verhältnisse vor Ort.

Die Folgen der Fremdbestimmung sind gravierend

Das alles ist unerfreulich genug und wird nicht besser dadurch, dass die Region seit Napoleons Ägypten-Expedition 1798 nie aufhörte, koloniale wie imperiale Begehrlichkeiten auf sich zu ziehen. Im Kern ging es dabei stets um Geopolitik und, seit dem frühen 20. Jahrhundert, um Rohstoffe, vor allem Erdöl, seit einigen Jahrzehnten auch Erdgas. Die damit einhergehende Leidensgeschichte aus Unrecht und Unterdrückung ganzer Völker, über Generationen hinweg, wird in westlichen Staaten ungern vernommen. Sie entspricht nicht der eigenen, längst verinnerlichten Selbstwahrnehmung, in Politik und Wirtschaft grundsätzlich „werteorientiert“ zu handeln. Diese Haltung hat Tradition, seit kolonialen Zeiten werden Gewaltverhältnisse nicht benannt, sondern umgedeutet – damals als „zivilisatorische Mission“.

Die Folgen der Fremdbestimmung waren und sind im Orient allerdings gravierend. So sind die Grenzen fast aller arabischen Staaten von den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge des Untergangs des Osmanischen Reiches, mit dem Lineal gezogen worden – ohne sich im Geringsten für die geografischen, historischen oder sonstigen Begebenheiten vor Ort zu interessieren. Geschweige denn für die Wünsche der Bevölkerung. Es wundert nicht, dass dem nation building durch Zwang meist die Zwangsherrschaft folgte. Die größten Verlierer dieser imperialen Scharade waren und sind die Kurden, die gegen ihren Willen auf vier Staaten verteilt wurden (Türkei, Iran, Irak, Syrien), mit Folgen bis in die Gegenwart.

In ihren Nachwirkungen noch gravierender sind zwei Konflikte, die weit über die Region hinausstrahlen. Angefangen mit der ungelösten Palästina­frage. Die Palästinenser zahlen den Preis für die jüdische Inbesitznahme ihrer Heimat, zunächst im Zuge der Staatswerdung Israels bis 1948, gefolgt, seit dem Sechstagekrieg 1967, von einer Großisrael-Ideologie, die das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan-Fluss für sich selbst beansprucht. Welche Zukunft bleibt den Palästinensern angesichts der völkerrechtswidrigen De-facto-Annexion weiter Teile des Westjordanlands, von Ostjerusalem und der wirtschaftlichen Strangulierung des Gazastreifens? Sie haben keine. Wenden sie Gewalt an, gelten sie als Terroristen. Setzen sie auf Verhandlungen, wie die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah, erhalten sie von der israelischen Seite nichts. Und wie reagiert die westliche Wertegemeinschaft? In erster Linie mit vornehmer Zurückhaltung. Entschlossen allerdings geißelt sie „Israelkritik“, die zunehmend mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.

Das Wirken Englands und der USA

Der andere große Konflikt, der eine lange Vorgeschichte hat, in die Gegenwart hineinragt und den Weltfrieden ernsthaft bedroht, betrifft den Iran. Seit dem Zweiten Weltkrieg, als die USA die europäischen Kolonialmächte als dominanter Hegemon im Nahen und Mittleren Osten abzulösen begannen, ist kein anderes islamisches Land so sehr ins Visier der Weltmacht geraten wie das frühere Persien. Der Urknall der Krise datiert auf das Jahr 1951. Damals verstaatlichte die demokratisch gewählte iranische Regierung unter Ministerpräsident Mohammed Mossadegh die britisch dominierte Erdölindustrie des Landes, die London laut Winston Churchill Gewinne „aus einem Märchenland, jenseits unserer kühnsten Träume“ beschert hatte.

Damit Mossadeghs Beispiel keine Schule machen konnte, stürzten der britische Geheimdienst MI 6 und die CIA den im Iran äußerst beliebten Regierungschef zwei Jahre später gemeinsam, 1953, mithilfe eines von ihnen orchestrierten Militärputschs. Stattdessen machten sie Schah Reza Pahlavi zum Alleinherrscher des Landes. Eine historische Zäsur: Die antiwestliche Grundhaltung vieler Menschen in der Region nahm mit diesem Putsch ihren Anfang. In den Worten des britischen Historikers Peter Frankopan: „So gesehen war Mossadegh der geistige Vater zahlreicher Erben. Die Methoden, Ziele und Ambitionen von Vertretern wie Ajatollah Chomeini, Saddam Hussein, Osama bin Laden oder den Taliban wichen zwar erheblich voneinander ab. Sie alle aber vereinte die Kernthese, dass der Westen scheinheilig und bösartig sei und man sich von ihm wie von allen äußeren Einflüssen befreien müsse.“

Unter dem Schach wurde der Iran neben Israel zum wichtigsten Verbündeten Washingtons in der Region, an der Südgrenze zur Sowjetunion. Doch sosehr der Herrscher auf dem Pfauenthron auch von Amerikanern und Israelis unterstützt wurde, hatte er in der eigenen Bevölkerung kaum Rückhalt, jenseits einer schmalen Schicht aus Großgrundbesitzern. Unter Führung von Ajatollah Chomeini kam es 1979 schließlich zur Iranischen Revolution, die den Schah hinwegfegte. Ihre soziale Basis und die der neuen, der Islamischen Republik, waren zunächst der einflussreiche Klerus und die Basarhändler. Kaum ein Historiker bezweifelt, dass diese Revolution die um eine Generation zeitversetzte Antwort auf die gewaltsame Beendigung der jungen iranischen Demokratie 1953 war. Zugespitzt gesagt, legten Washington und London mit ihrem damaligen Putsch die Saat für den nachfolgenden Gottesstaat – was natürlich (nicht nur dort) kaum jemand hören möchte. Lieber verweisen gerade US-Politiker auf das „Trauma“ der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten in Teheran, die über 400 Tage andauerte, von 1979 bis 1981.

Die Ahnungslosigkeit der Amerikaner im Irak

Alles hängt mit allem zusammen: 1980 überfiel die irakische Armee den Iran. Saddam Hussein glaubte, das Nachbarland sei geschwächt und leichte Beute. Vor allem auf die ölreiche Region Chusistan unweit der irakischen Grenze hatte er es abgesehen. Doch Teheran schlug zurück, und Bagdad hätte den Krieg nach zwei Jahren bereits verloren – wenn nicht die USA und Saudi-Arabien Saddam Hussein mit Waffen und Krediten versorgt hätten. Gleichzeitig belieferte Washington aber auch Teheran mit Waffen und finanzierte damit die Contras in Nicaragua, die dort gegen die Sandinisten kämpften. Diese Iran-Contra-Affäre wurde zum größten innenpolitischen Skandal in den USA seit Watergate und Richard Nixon, hatte aber für die Regierung Reagan keinerlei Konsequenzen. Der Krieg endete erst 1988 mit einem Waffenstillstand und einer Million Toten – ein Bombengeschäft vor allem für amerikanische Rüstungsschmieden.

Der Irak war pleite, erhielt keine Kredite mehr: 1990 marschierte Saddam Hussein in Kuwait ein, um die Staatsfinanzen aufzubessern. Washington und London, der USA steter Juniorpartner in der Region, verhängten gravierende Sanktionen, wie erwähnt. 2003 folgte die völkerrechtswidrige, US-geführte Invasion Iraks, um den ehemaligen Verbündeten Saddam Hussein zu stürzen. Es war den Amerikanern egal, dass er in den Achtzigern Kurden im Nordirak und iranische Soldaten vergast hatte – aber den Überfall auf ihre Tankstelle Kuwait haben sie ihm nie verziehen. Mit Saddam Husseins Sturz verloren die Sunniten ihre Vorherrschaft im Irak, die sie dort seit osmanischer Zeit ausgeübt hatten. Die neuen Machthaber rekrutieren sich seither aus den Reihen der Schiiten, der Bevölkerungsmehrheit. Die Sunniten rächten sich mit einer Aufstandsbewegung gegen die Besatzer und die Schiiten, aus deren Umfeld schließlich der „Islamische Staat“ erwuchs. Der schiitische Iran wiederum wurde zum wichtigsten Verbündeten Bagdads, sehr zum Unbill der Amerikaner, die wie schon in Vietnam keinerlei Ahnung hatten, wie sich die Verhältnisse vor Ort darstellten.

Aus der Geschichte lernen

Doch damit der Räuberpistole nicht genug. Als 2011 der Krieg in Syrien begann, unterstützten die USA, die EU und ihre Verbündeten, allen voran die Türkei und die arabischen Golfstaaten diese irakischen Dschihadisten und ebneten ihnen den Weg in Richtung Syrien – mit dem Ziel, „ein salafistisches Herrschaftsgebiet“ im Osten Syriens entstehen zu lassen. Das sei genau das, „was die die syrische Opposition unterstützenden Mächte wollen, um das syrische Regime zu isolieren“. Mit dem Ziel, es schließlich zu stürzen, wie einem freigegebenen Dokument der DIA, des amerikanischen Militärgeheimdiensts, vom 12. August 2012 zu entnehmen ist. Im hiesigen Syriennarrativ spielt dieses Dokument, obwohl den meisten Fachleuten bekannt, keinerlei Rolle, weder in der Politik noch in den Medien. Denn es passt nicht ins Bild: Hier die edelmütige, gewissermaßen an Voltaire und Westminster geschulte Opposition, vom freien Westen unterstützt, dort der Schlächter Assad, von Gottseibeiuns Putin und fanatischen Mullahs skrupellos verteidigt.

Aus der Geschichte lernen ist keine Tugend unter den Großen der Welt. 1979 war nicht allein das Jahr der Iranischen Revolution, sondern auch des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan. Die Amerikaner unterstützten die Mudschahedin, die Glaubenskämpfer, in ihrem Kampf gegen die Sowjets. Ebenso die Saudis, die sich, vorsichtshalber weit entfernt von ihren eigenen Grenzen, gegen den revolutionären Iran, ihren großen Rivalen, zu profilieren suchten. Zehn Jahre später, 1989, zogen die Sowjets tatsächlich ab. Die aus Washington und Riad finanzierten und bewaffneten Mudschahedin bekämpften sich daraufhin untereinander und zerstörten die bis dato unversehrte Hauptstadt Kabul. Aus deren Reihen erwuchsen später die Taliban und Al Qaida, deren Gründer Osama bin Laden einer der führenden Strategen der Mudschahedin war, mit engen Kontakten ins US-Generalkonsulat im pakistanischen Peschawar, unweit der afghanischen Grenze.

Sind diese lediglich umrissenen Entwicklungen tatsächlich im Kern auf den Koran zurückzuführen? Samuel Huntington und seine zahlreichen Adepten würden das so sehen. Sie erkennen keine geopolitischen Zusammenhänge, denken nicht in Kategorien von Macht und Herrschaft, exkulpieren das Imperium, indem sie Gewalt und Terror auf der Ebene eines „Kampfes der Kulturen“ verorten und maßgeblich die Religion meinen. Al Qaida und der „Islamische Staat“ wären demzufolge Ausdruck des wahren, des wirklichen Islams, des „Urkorans“, entledigt alles vordergründigen Firnisses der Sorte Islam bedeute Friede. Dass die USA und ihre Verbündeten den islamistischen Extremismus mit ihrer Politik von Mossadegh bis heute maßgeblich beflügelt haben – diese Einsicht grenzt demzufolge an Blasphemie. Wer einen solchen Zusammenhang herstellt, ist aus transatlantischer (Mehrheits-)Perspektive entweder Verschwörungstheoretiker, Mullah-Freund oder Putin-Versteher. Die Bösen, das sind immer die anderen.

Der Iran, ein ernst zu nehmender Gegner für die USA

Apropos Mullahs. Die Lage der Menschenrechte im Iran ist alles andere als erfreulich. Das gilt aber auch für Saudi-Arabien, wie die Pulp-Fiction-gleiche Ermordung und Zerstückelung des saudischen Exiljournalisten Jamal Khashoggi in Istanbul dramatisch vor Augen geführt hat. Trotzdem hat der Wüstenstaat noch immer ein deutlich besseres Image als die Islamische Republik. Konsequenzen hat Kronprinz Mohammed bin Salman, der eigentliche Machthaber in Riad, nicht zu befürchten – obwohl er den Mord wahrscheinlich persönlich angeordnet hat. Denn der größte Erdölproduzent ist ein enger Verbündeter der USA. Rund 10 Prozent aller amerikanischen Waffenverkäufe gehen nach Saudi-Arabien, das Land ist der weltweit drittgrößte Waffenimporteur nach China und Indien. Als Faustregel gilt: Alleinherrscher in der Region können ihre Bevölkerungen nach Belieben unterdrücken, solange sie prowestlich sind. Sind sie das nicht, droht ihnen, verstärkt seit 9/11, regime change. So auch Syrien, so auch dem Iran.

Sowohl die Präsidenten George W. Bush wie auch Barack Obama hatten zu Recht erkannt, dass der Iran ein militärisch ernst zu nehmender Gegner ist. Die Regionalmacht könnte im Kriegsfall nicht die USA oder Israel besiegen, wohl aber die Schiiten weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus mobilisieren, die gesamte Region nachhaltig destabilisieren und den Erdölexport aus den arabischen Golfstaaten durch die Straße von Hormus zumindest vorübergehend zum Erliegen bringen. Außerdem würden iranische Raketen alle US-Militärbasen in der Gegend sowie sämtliche saudischen Erdölförderanlagen erreichen. Nicht zuletzt mit Blick auf die übrigen Krisenherde setzte die Regierung Obama auf Deeskalation. Nach zwölfjährigen Verhandlungen wurde im Juli 2015 das Atomabkommen zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats plus Deutschland sowie der Außenbeauftragten der EU einerseits und dem Iran andererseits unterzeichnet. Damit sollte verhindert werden, dass der Iran Nuklearwaffen erwirbt.

Trumps Kündigung des Atomabkommens

Im Gegenzug für die umfassenden Kontrollen durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien wurde ein Großteil der gegen Teheran verhängten Sanktionen in den Folgemonaten wieder aufgehoben. Diese Annäherung wurde auch möglich, weil der iranische Präsident Ahmadinedschad, ein aggressiver Hardliner, 2013 von dem im Westen wertgeschätzten Pragmatiker Rohani abgelöst worden war. Ungeachtet des Abkommens blieb allerdings die iranische Infrastruktur nach wie vor Ziel von Cyberangriffen aus den USA und Israel, starben iranische Atomwissenschaftler bei Anschlägen, erhielten fragwürdige (Exil-)Gruppen und vor allem radikale Sunniten im Grenzgebiet zu Pakistan und dem Irak weiterhin Rückendeckung von außen – stets mit dem Ziel, das Regime zu schwächen.

Ungeachtet von zwölf umfassenden Gutachten der IAEA zwischen 2015 und 2018, die dem Iran sämtlich bescheinigten, alle vertraglichen Auflagen einzuhalten, kündigte US-Präsident Donald Trump das Atomabkommen am 8. Mai 2018 einseitig auf. Dass die übrigen Mitunterzeichner es beibehalten wollen, war ihm egal. Wichtiger erscheinen seiner Regierung die engen Beziehungen zu Israel, dessen Premier Beudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, lautet Regimewechsel. Idealerweise mithilfe von Wirtschaftssanktionen und innenpolitischen Unruhen. Durch die „sekundären Sanktionen“ sehen sich alle Unternehmen von Strafverfolgung in den USA bedroht, die nach dem 4. November noch Handel mit dem Iran betreiben. Solche Boykottmaßnahmen sind nach Maßgabe des Völkerrechts illegal, aber was kümmert es die Regierung Trump. Den Preis zahlt die iranische Bevölkerung. Die Landeswährung Rial hat seit Anfang 2018 einen Drittel ihres Wertes gegenüber Dollar oder Euro verloren. Die Inflation ist zweistellig, die Mittelschicht gerät ins Wanken. Die Europäer, Russland und China suchen das Atomabkommen zu retten, vor allem die sekundären Sanktionen zu umgehen. Ob das gelingt, bleibt offen.

Das iranische Regime wird nicht fallen. Aber die Lebensverhältnisse im Land werden sich katastrophal verschlechtern. Eine politische Alternative ist nicht in Sicht. Kommt es zum Äußersten, zum Krieg, wird das Ergebnis nicht ein neues Schah-Regime sein, sondern Armageddon im Orient.

Mehr Waffengang würde mehr Flüchtlinge bedeuten

Was also tun, um die Katastrophe zu verhindern? Zunächst einmal die richtigen Fragen stellen. Die Ära des vermeintlich „wohlwollenden Hegemons“ ist vorbei. Selbst nach einer Abwahl Trumps ist das traditionelle transatlantische Verhältnis, die Europäer als Juniorpartner der USA, nicht mehr wiederherzustellen. Auch deswegen nicht, weil die USA ihren Zenit als Weltmacht überschritten haben. Neue weltpolitische Akteure sind aufgetreten, allen voran Russland und China, die ihren Teil vom geopolitischen Kuchen einfordern. Europa und Deutschland haben gar keine andere Wahl, als sich neu zu justieren. Außenminister Maas geht zumindest rhetorisch erste vorsichtige Schritte in diese Richtung, unterwegs zu einer neuen multipolaren Weltordnung: nötigenfalls auch gegen Washington.

Ein Waffengang gegen den Iran würde auch bedeuten, dass erneut Millionen Flüchtlinge in Richtung Europa aufbrächen. Aus amerikanischer oder israelischer Sicht spielt das keine Rolle – die USA und Israel selbst nehmen ja keine auf. Allein deswegen sind die Europäer gut beraten, sich an ihren eigenen Interessen zu orientieren. Nicht aber an einer fragwürdigen „Staatsräson“ oder der Hypermoral politischer Amateure, deren Naivität den Spielemachern auf globaler Ebene bestenfalls ein müdes Lächeln abnötigt.

Illustrationen: Simon Prades

Dies ist die Titelgeschichte aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab morgen am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.













 

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