Interview des Bundespräsidenten - Steinmeiers Neuvermessung

In einem Gespräch mit der „Rheinischen Post“ verklärt Frank-Walter Steinmeier die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 zu einem Friedensprojekt vor dem Hintergrund des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Die Ukraine reagiert empört. Tatsächlich hat der Bundespräsident den Gipfel der Heuchelei erklommen.

Ohne Gespür: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Frank-Walter Steinmeier galt einmal als guter Außenminister. Manche langgediente Diplomaten sagen sogar, er sei einer der besten seit Hans-Dietrich Genscher gewesen. Wie dem auch sei: Als Bundespräsident scheint ihn sein außenpolitisches Gespür komplett verlassen zu haben. Denn was er soeben in einem Interview mit der Rheinischen Post von sich gegeben hat, bringt nicht nur den ukrainischen Botschafter in Deutschland auf die Palme, sondern einige andere mehr. Und zwar völlig zurecht.

Es ging, wie so oft beim Thema Russland, um die Erdgaspipeline Nord Stream 2, welche umstritten zu nennen ein Euphemismus ist. Denn kein anderes Projekt sorgt für mehr Spaltung nicht nur innerhalb Europas, sondern auch innerhalb der EU im Besonderen. Die Argumente dürften inzwischen samt und sonders ausgetauscht worden sein, und dass Länder wie Polen sowie insbesondere eben die Ukraine die Leitung zwischen Russland und Deutschland äußerst besorgniserregend finden, liegt auf der Hand. Denn selbstverständlich ist Nord Stream 2 weit mehr als ein ökonomisches Vorhaben. Wenn es um Energie geht, geht es stets auch um Geopolitik. Und Nord Stream 2 ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sondern ein echter Trumpf für den Kreml.

Bestechende Logik

Wie er also zur Fertigstellung von Nord Stream 2 stehe, wollten die beiden Interviewer von Steinmeier wissen, nachdem er sich lang und breit über die Verhaftung Alexej Nawalnys empört hatte, welcher „sofort und ohne Vorbedingungen freigelassen werden“ müsse. Und siehe da: Plötzlich verfiel der Bundespräsident in eine weit weniger apodiktische Wortwahl. Die ganze Sache sei eben nicht einfach, und im Übrigen gelte es zu bedenken: „Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa.“

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Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Nicht nur, dass ein wesentlicher Teil Europas auf diese Art von Beziehungen sehr gern verzichten würde, und Steinmeier ganz paternalistisch die Umgehungs-Pipeline zu einer Art paneuropäischem Friedensprojekt umdeutet: Seine Logik ist ungefähr so bestechend, als würde der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall argumentieren, Waffenlieferungen an den Iran seien allemal besser, als den Kontakt zu den Mullahs ganz abbrechen zu lassen. Für diesen salbungsvollen Zynismus muss man seine Lehre als Vorzimmer-Instanz von Gerhard Schröder allerdings übergründlich absolviert haben. 

Übrigens spricht derselbe Steinmeier im selben Interview von einer „geopolitischen Herausforderung“, wenn China und Russland derzeit ihre Vakzine an Länder mit Mangel an Impfstoffdosen aus westlicher Produktion liefern: „Das könnte politische Kräfteverhältnisse weit in die Zukunft hinein verändern.“ Bleibt festzuhalten: Russischer Impfstoff mag womöglich Leben retten, ist aber trotzdem eine Gefahr für die freie Welt. Russisches Erdgas hingegen trägt zur allgemeinen Völkerfreundschaft bei. Allein diese geradezu irre Volte des deutschen Bundespräsidenten hätte ausgereicht, um die Regierung in Kiew vor den Kopf zu stoßen.

Gipfel an Heuchelei

Es kam aber noch besser. Steinmeiers apologetisches Nord-Stream-2-Geschwafel gipfelte in der Feststellung, dieses Projekt sei angesichts der deutsch-russischen Vergangenheit von geradezu historischer Relevanz. Für „uns Deutsche“, so der Bundespräsident, komme noch eine ganz andere Dimension hinzu: „Wir blicken auf eine sehr wechselvolle Geschichte mit Russland zurück.“ Es habe Phasen fruchtbarer Partnerschaft gegeben, aber noch mehr Zeiten schrecklichen Blutvergießens. „Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen.“

Das ist tatsächlich der Gipfel an Heuchelei. Weil Deutschland also vor 80 Jahren die Sowjetunion überfallen hat, soll Nord Stream 2 offenbar als Wiedergutmachung für Kriegsgräuel dienen beziehungsweise künftige Abschlachtereien verhindern? Nur selten musste man sich für die Worte eines bundesrepublikanischen Staatsoberhaupts derart schämen. Kaum ein Land hat im Zweiten Weltkrieg schlimmere Verheerungen erlebt als die damalige Sowjetrepublik Ukraine. Und jetzt soll sie eine deutsch-russische Pipeline, die sich explizit gegen die Interessen Kiews richtet, gefälligst als Versöhnungsprojekt akzeptieren? Angesichts derartiger Kaltschnäuzigkeit wird einem im Nachhinein noch ganz anders, wenn man bedenkt, dass der einstige Schröder-Adlatus lange Jahre die deutsche Außenpolitik verantwortet hat.

Es ist geradezu ein Hohn, wenn Steinmeier im Interview mit der Rheinischen Post in staatsmännisch-präsidialem Ton verkündet, Vergangenheit sei „gegenwarts- und damit demokratierelevant“, um im nächsten Satz hinterherzuschieben: „Indem wir unsere Nähe oder Distanz zu geschichtlichen Ereignissen neu vermessen, verorten und vergewissern wir uns auch als Gesellschaft immer wieder neu.“

Auf die historische Neuvermessung des Frank-Walter Steinmeier hätten der ukrainische Botschafter und seine Landsleute allerdings gut verzichten können. Viele Deutsche übrigens auch.
 

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