INF-Vertrag - Zurück in den atomaren Albtraum?

30 Jahre nach der Unterzeichnung des INF-Vertrags steht das Abkommen kurz vor dem aus. Nun hat US-Präsident Donald Trump auch noch das anberaumte Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin beim G20-Gipfel abgesagt. Der Beginn einer neuen Aufrüstungsspirale?

Proteste gegen den G20-Gipfel vor dem Kongress in Buenos Aires / picture alliance
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Werner Sonne, langjähriger ARD-Korrespondent in Washington, ist der Autor mehrerer Bücher zu diesem Thema, u.a.  „Leben mit der Bombe“, sowie des jüngst erschienenen Romans „Die Rache des Falken“. 

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Erst „Ja“, und dann ganz plötzlich „Nein“: Donald Trump wird nun doch nicht mit Wladimir Putin in Buenos Aires zusammentreffen. Das teilte er überraschend aus dem Flugzeug heraus per Tweet mit. Dafür muss Angela Merkel ran. Sie soll nun in den eskalierenden Ukraine-Konflikt eingreifen – und sieht sich offenbar in eine Vermittlungsrolle gedrängt. Ob sie dazu jedoch rechtzeitig in Argentinien sein wird, ist wegen der Notlandung der Regierungsmaschine noch unklar

Donald Trump wollte sich zwei Stunden lang mit Putin treffen. Doch nach neuen Enthüllungen in der FBI-Untersuchung möglicher Russland-Kontakte im Wahlkampf 2016 steht er nun wieder heftig unter Druck – Fotos von Handshakes mit Putin passen zu Hause gerade sehr schlecht ins Bild, wenn im Asowschen Meer Russland ukrainische Schiffe aufbringt.

Dabei sollte es beim G20-Gipfel am Wochenende in Argentinien offiziell um den Austausch über Probleme des Wirtschafts- und Finanzsystems gehen. Jetzt jedoch geht es, wenngleich außerhalb der Tagesordnung, um Fragen von Krieg und Frieden. Und dabei passt ins Bild, dass nicht nur der Ukraine-Konflikt ein Thema sein dürfte, sondern auch der Konflikt um ein Waffensystem, das doch längst abgehakt zu sein schien: eine neue russische Mittelstreckenrakete mit der Nato-Bezeichnung SSC-8, die auch Atomsprengköpfe tragen kann.

Historische Rückblende

Kein Thema hat das damals noch geteilte Deutschland in den achtziger Jahren so durchgerüttelt, nie zuvor solche Massenproteste ausgelöst wie die sogenannte Nachrüstung: Es ging um die Aufstellung von hunderten atomar bestückten amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern – als Antwort auf die von der Sowjetunion entwickelten SS-20-Raketen mit Mehrfachatomsprengköpfen, die ganz Europa bedrohten.

Deutschland war damals ein unvorstellbares atomares Pulverfass. Bis zu 7000 Atomsprengköpfe waren auf deutschem Boden stationiert.Doch dann kam der Durchbruch: US-Präsident Ronald Reagan und Sowjet-Generalsekretär Michael Gorbatschow machten dem irren Rüstungswettlauf ein Ende und schafften mit dem INF-Vertrag eine ganze Kategorie von Atomraketen komplett ab: alle Mittelstreckenraketen wurden vernichtet – ein Wegbereiter für weitere Riesenabrüstungsschritte. Damit wurde zugleich das Vertrauen geschaffen, das auch die deutsche Einheit möglich machte. Wie kein anderes Land hat Deutschland davon profitiert.

Doch nach 30 Jahren wird nun offenbar das Rad der Geschichte zurückgedreht. Schon im Oktober hatte Donald Trump damit gedroht, aus dem INF-Vertrag auszusteigen. Und überall auf den Fluren der Macht in Washington geht man davon aus, dass Trump in Kürze diese Drohung wahrmachen wird. Damit würde eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen zusammenbrechen. Der Weg wäre frei für eine neue Aufrüstungsspirale.

Erneutes atomares Wettrüsten?

Dabei spielt allerdings auch eine dritte aufstrebende Militärmacht eine Rolle. Militärplaner sowohl in Moskau als auch Washington haben dabei auch China mit im Blick. China hat den INF-Vertrag nicht unterzeichnet hat und wird längst als Bedrohung angesehen.

Dennoch: Neue Mittelstreckenraketen sind ein dramatischer Rückschritt in die Zeiten des Kalten Krieges, allerdings mit einem langen Vorlauf. Auch wenn die Kritiker jetzt so tun, als komme die Androhung von US-Präsident Donald Trump, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, überraschend, so kann davon keine Rede sein. Spätestens seit 2014, zuletzt beim Nato-Gipfel in diesem Sommer, warnt der Westen Russland vor der Aufstellung der neuen Mittelstreckenraketen – und stieß dabei auf taube Ohren.

Es geht nicht um theoretische Pläne, es geht um ein  bereits stationiertes Waffensystem. Eine Boden-Boden-Rakete, die auch mit atomaren Sprengköpfen ausgestattet werden kann. Zudem sind die Abschussrampen mobil, was sie wiederum schwer erkennbar macht. Russland kontert damit, die amerikanischen Flugkörper des Raketenabwehrschirmes etwa in Rumänien könnten auch als Mittelstreckenraketen eingesetzt werden. Ein Vorwurf, der aus technischen Gründen nicht haltbar sei, kontert man in Washington.

Geschicktes Einlenken aus Moskau

Lange hat Moskau die Existenz der SSC-8 einfach abgestritten. Aber pünktlich vor dem G-20-Gipfel hat die russische Regierung eingeräumt, dass dieses Raketensystem tatsächlich bereits getestet wurde. Allerdings, so der stellvertretende russische Außenminister Sergei Ryabkov, habe sie nur eine Reichweite von unter 500 Kilometern und bleibe damit unter den Bestimmungen des INF-Vertrages. Der verbietet alle Atomraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern.

Tatsächlich beginnen die Experten im Nationalen Sicherheitsrat im Weißen Haus herumzueiern, wenn man sie nach der genauen Reichweite der Russen-Raketen fragt. Aus Nato-Kreisen war zu hören, darüber seien sich die westlichen Nachrichtendienste weiterhin nicht sicher. Doch im Weißen Haus  bleibt man fest dabei:  Die Reichweite liege auf jeden Fall über dem Limit von 500 Kilometern, Russland verletze eindeutig den Vertrag. Das ist auch die deutsche Position.

Das Eingeständnis Moskaus ist geschickt. Einerseits wurde nur eingeräumt, was nicht mehr zu leugnen ist: Es gibt die SSC-8-Rakete. Andererseits wird so der Schwarze Peter an Donald Trump weitergereicht. Wenn er wirklich aus dem INF-Vertrag aussteigt, und keiner zweifelt in Washington daran, dann wird man ihm in der öffentlichen Meinung der Welt die Schuld zuweisen, den historischen Vertrag aufgekündigt zu haben – ein politischer Albtraum in Europa und ein unbezahlbarer PR-Erfolg für Wladimir Putin. Die Botschaft: Seht her, wir halten uns mit dem neuen Waffensystem an den Vertrag, die Amerikaner jedoch steigen aus! Wladimir Putin würde damit einen Keil zwischen Washington und die Nato-Staaten in Europa treiben.

„Es ist Russlands letzte Chance“

Im Pentagon versucht man, die nervösen deutschen Verbündeten, die derzeit ihre Diplomaten in Washington ausschwärmen lassen, zu beruhigen. Bisher sei keineswegs daran gedacht, nun ebenfalls mit einer neuen Generation von Mittelstreckenraketen zu antworten. „Wir wollen nicht zurück in die achtziger Jahre“, versichert ein Pentagon-Experte.

Aber es geht nicht nur um eine neue Mittelstreckenrakete. Viel mehr steht auf dem Spiel. Auf beiden Seiten laufen längst mit aberwitzigen Kosten Modernisierungsprogramme für die Atomwaffen aller Größen (auch für die 20 Sprengköpfe, die noch in Deutschland stationiert sind), verbunden mit der Entwicklung neuer Trägerwaffen – Raketen, Bomber, U-Boote. Das sogenannte NEW-START-Abkommen, das bislang die Zahl der strategischen Atomwaffen stabil hält, läuft 2021 aus. Es muss jetzt dringend darüber verhandelt werden, es mindestens zu verlängern, besser aber noch, die Zahl der Sprengköpfe weiter zu reduzieren. Russland und die USA, die über 90 Prozent aller Atomsprengköpfe auf dieser Welt verfügen, haben hier eine entscheidende Verantwortung, auch um atomare Begehrlichkeiten etwa im Iran und anderswo im Zaum zu halten. Die großen strategischen Atomwaffen haben bisher eine Balance des Schreckens erhalten. Kleinere Mittelstreckenraketen senken diese Schwelle, sie machen ihren Gebrauch wieder wahrscheinlicher. Das ist die eigentliche Gefahr.

Wenn Trump nun ernst macht mit dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag, dann bleibt formal eine Frist von sechs Monaten, in denen die Russen ihre neuen Atomraketen wieder abbauen könnten. „Es ist Russlands letzte Chance“, sagt man dazu im Weißen Haus. Doch realistisch ist das wohl kaum.

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