Großbritannien - Tory-Aufstand gegen Boris Johnson

Innerhalb seiner eigenen Partei ist der konservative Premierminister Boris Johnson unter Beschuss. Ihm wird vorgeworfen, über illegale Partys in Downing Street während des Lockdowns gelogen zu haben. Ein Tory-Abgeordneter ist bereits zu Labour gewechselt. Es könnte zu einem Misstrauensvotum kommen.

Johnsons ehemaliger Chefberater Dominic Cummings stellt sich heute gegen ihn / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Knapp vor den mit Spannung erwarteten „Prime Minister’s Questions“ am Mittwoch Mittag hat der bisherige konservative Parlamentarier Christian Wakeford ein politisches Bömbchen ins Unterhaus geworfen: Der Tory-Abgeordnete für den Wahlbezirk Bury South verkündete am Mittwoch, er habe die konservative Partei verlassen und sei zur Labour-Party gewechselt. „Willkommen!“, sagte Labour-Chef Keir Starmer im Unterhaus und zeigte triumphierend hinter sich auf Wakeford, der sich bereits zu seinen neuen Parteikollegen auf die Labour-Bänke gesetzt hatte.

Das Abgeordnetenhaus kochte vor politischer Aufregung. Seit Mittwoch ist es nicht mehr klar, ob der umkämpfte britische Premierminister Boris Johnson diese Woche politisch überlebt. Unter dem Gejohle der Opposition erhob sich der 57-jährige Konservative von der grünen Regierungsbank und stellte sich an die Dispatch-Box. Jeden Mittwoch in der Parlamentssaison findet im Unterhaus im Westminster-Palast ein verbales Duell zwischen Regierungschef und Oppositionsführer statt. Boris Johnson, der seit seinen Studententagen im Oxford Union Club gerade unter Druck zu rhetorischen Höchstleistungen aufläuft, tat sich dieses Mal schwerer.

Angeblich nichts gewusst

Hat er oder hat er nicht von den illegalen Partys gewusst, die während der Covid-Lockdowns in seinem Regierungshauptquartier in Downing Street abgehalten wurden? Vor allem eine Party am 20. Mai 2020 macht dem Regierungschef zu schaffen: Hundert Mitarbeiter waren per E-Mail eingeladen worden, im Garten des Premierministers „das schöne Wetter zu genießen“. Boris Johnson nahm an der Party selbst teil. Covid-Regeln besagten dagegen für den Rest der Bevölkerung, dass man nur mit einer Person außerhalb des Haushaltes auf zwei Meter Abstand spazieren gehen durfte.

Ein knappes Jahr später, am 16. April 2021, fanden wieder Parties während des nächsten Lockdowns in Downing Street statt. Boris Johnson war selbst nicht dabei. Doch das Image ist verheerend, denn Queen Elizabeth II. saß am Tag darauf allein beim Begräbnis ihres Mannes Philipp auf der Kirchenbank – so wie es die Covid-Regeln zum damaligen Zeitpunkt vorschrieben.

Unter dem höhnischen Gelächter der Opposition versuchte Johnson, sich gegen die bohrenden Fragen des Oppositionschefs zu verteidigen: „Ich habe schon oft gesagt: Ich habe nicht gewusst, dass es sich um eine Party handelte.“ Keir Starmer hatte leichtes Spiel: „Hundert Mitarbeiter wurden zu einer Party mit Drinks eingeladen, und nur der Premierminister hat als einziger gedacht, es sei kein soziales Treffen? Weiß er nicht, wie lächerlich das klingt?“ Und: „Wenn ein Regierungschef das Parlament belügt, soll er zurücktreten.“

Neue Initiativen zur Ablenkung

„Es gibt eine offizielle Untersuchung!“, rief darauf Boris Johnson. In wenigen Tagen wird eine seiner Spitzenbeamtinnen, Sue Gray, ihren offiziellen Bericht über Partygate abliefern. Dann wird Boris Johnson dieser Frage nicht mehr ausweichen können. Sein ehemaliger Chefberater Dominic Cummings, der ihm seit seinem Auszug aus Downing Street vor etwas über einem Jahr zum gefährlichsten Gegner geworden ist, macht keinen Hehl daraus, dass Johnson lügt: „Nicht nur ich war dagegen, diese Party stattfinden zu lassen“, schreibt Cummings auf seinem Blog. „Auch zwei weitere Berater warnten ihn.“

Um von Partygate abzulenken, hat die Regierung in den vergangenen Tagen einige neue Initiativen lanciert. Die BBC soll ihre Lizenzgebühr 2027 verlieren; Flüchtlinge, die in Schlauchbooten über den Kanal nach England zu kommen versuchen, sollen mithilfe des Militärs zurückgebracht werden. Britische Journalisten nennen diese Versuche abfällig „Operation Red Meat“: Den knurrenden Tories soll frisches Fleisch serviert werden, um ihre Fresslust zu zähmen. Johnson will auch so bald wie möglich die noch herrschenden Covid-Maßnahmen aufheben. Denn im Vereinigten Königreich fallen die Infektionszahlen seit Tagen.

Trotzdem sind Boris Johnsons Stunden gezählt. Denn eine Rebellion von Hinterbänklern, nach einem berühmten englischen Traditionsgericht – der Schweinepastete im Teigmantel – „Pork-Pie-Putsch“ genannt, formiert sich bereits. Doch es könnten lange Stunden werden.

Der Putsch könnte schiefgehen

Denn die Regeln zur Abwahl eines konservativen Parteichefs sind extrem kompliziert: Ein Misstrauensvotum kann initiiert werden, wenn 15 Prozent der Tory-Abgeordneten einen entsprechenden Brief schreiben, den sie beim Vorsitzenden des 1922-Komittees abgeben. Diese Gruppierung unter dem Vorsitz von Graham Brady repräsentiert die Hinterbänkler der Partei, also jene, die nicht vorne auf der Regierungsbank sitzen.

Von den 2019 gewählten 365 konservativen Abgeordneten gibt es noch 360. 15 Prozent davon sind 54. Nach neuesten Berichten dürfte Brady diese nötige Zahl an Briefen am Mittwoch gesammelt haben, um ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister einzubringen.

Dieses könnte dann bereits einen Tag später durchgeführt werden. Johnson bräuchte die Unterstützung von mehr als 50 Prozent der Parlamentsfraktion – das sind derzeit mindestens 181 Tories. Die Gefahr für die Putschisten: Sollte der Plan nicht klappen, kann es ein Jahr lang kein neues Misstrauensvotum geben. Auf der Website der Parteibasis Conservative Home schreibt Paul Goodman: „Schießt man auf den Elefanten und trifft ihn nicht, dann könnte er noch ein Jahr weiter durch den Dschungel trampeln.“

Auf der Regierungsbank selbst rumort es

So wohnt die Shakespeare-Nation atemlos einem neuen politischen Drama bei. In den Kinos läuft gerade „The Tragedy of Macbeth“ mit Denzel Washington in der Titelrolle. Wie der umkämpfte König von Schottland in Shakespeares Stück irrt jetzt auch Boris Johnson in seinen letzten Stunden durch den Regierungsitz und sucht nach den früheren Verbündeten. Doch die Soldaten betrügen ihn schneller, als der ehemalige Volkstribun und Wählermagnet Boris Johnson jemals angenommen hat.

Nicht nur der Abgeordnete Christian Wakeford hat die Seiten gewechselt. Der ehemalige Brexit-Minister und Tory-MP David Davis sagt: „In Gottes Namen: Geh!“ Auf der Regierungsbank selbst rumort es. Wie bei Macbeth steigt schon vor dem Königsmord unter den ehemaligen Gefolgsleuten die Gier nach der Macht. Die wenigsten Minister waren in den vergangenen Tagen noch bereit, Johnson öffentlich zu verteidigen. Vor allem die potentiellen Nachfolgerinnen und Nachfolger hielten sich spürbar mit Solidaritätsbezeugungen zurück.

Finanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss, denen die besten Chancen für die Nachfolge nachgesagt werden, wollen sich ihre Chancen nicht verderben, einen Neustart für Partei und Land zu repräsentieren. Sunak verließ sogar abrupt und ohne zu antworten ein Skynews-Interview am Dienstag, als er gefragt wurde: „Unterstützen Sie den Premierminister auf jeden Fall?“ Sunak ignorierte die Frage, erhob sich und stürzte davon.

Kann sich Johnson noch bis zu den Gemeinderatswahlen im Mai im Amt halten? Oder ist es aus Gründen der Schadensbegrenzung für die Tories besser, ihn früher abzusägen? An entsprechenden Macbeth-Zitaten zur Lage fehlt es nicht. Der ehemalige Chefredakteur der Financial Times, Lionel Barber, twitterte Mittwochmittag: „Wenn es erledigt werden muss, dann wäre es gut, es wäre schnell erledigt.“

 

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