Großbritannien und der Corona-Impfstoff - Besser dran ohne Brüssel? 

Die Brexiteers dürften sich bestätigt fühlen: Großbritannien hat noch vor der EU den Impfstoff von Biontech und Pfizer zugelassen. Und der Grund dafür scheint vor allem die lahme Brüsseler Bürokratie zu sein. Europa muss nun schnell reagieren.

Hier hält Boris Johnson noch den Impfstoff von AstraZeneca in der Hand, doch geimpft wird zuerst mit dem Produkt von Biontech und Pfizer / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Better off. We will be better off, once we are out of Europe. Wartet ab. Wir sind besser dran, wenn wir aus der Europäischen Union raus sind. Das war immer das Kernargument der Brexiteers in Großbritannien. Und auch Hintergrundgespräche mit dem hiesigen britischen Botschafter, mutmaßlich kein Leaver tief in seinem politischen Herzen, intonierten und variierten das Thema über die vergangenen Monate stets auf Neue. Es werde Großbritannien besser gehen, wenn es sich seine Entscheidungen und Maßnahmen auf den Leib schneidern kann, tailor made, und nicht auf den zähen und langwierigen Prozess warten muss, bis sich der Moloch in Brüssel zu einer einstimmigen und für alle gültigen Entscheidung durchringt, mit der man am Ende nicht richtig glücklich ist. 

Corona legt die Dinge offen, sagt man immer. Es stimmt möglicherweise auch hier, erbarmungslos. Corona ist der erste Praxistest in dieser Frage. Und es lässt sich nicht leichterdings der Eindruck verjagen, dass in der entscheidenden Frage eines zugänglichen Impfstoffes der Beweis der Behauptung angetreten wird. Beim allerersten Anlass. Und bei was für einem. 

Es pressiert

Im britischen Gesundheitssystem werden in den nächsten Tagen die ersten Impfdosen von Biontech/Pfizer in die Oberarme von Menschen aus Risikogruppen versenkt werden. Aus Brüssel ist zu hören, dass die Zulassung spätestens am 29. Dezember erteilt würde. Das wäre vier Wochen später. Alle wissen, dass das Virus derzeit in Kontinentaleuropa und auf der Insel gleichermaßen stark grassiert. Die Zahlen in Deutschland lassen sich gerade mal halten, auf zu hohem Niveau. Ein wirkliches Brechen der Winterwelle ist noch nicht absehbar, trotz individuell und ökonomisch einschneidender Maßnahmen. 

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Es pressiert. Jeder Tag zählt, anders kann man das bei über 20.000 erwiesenen Neuinfektionen und knapp 500 Toten täglich nicht formulieren. Gründlichkeit vor Schnelligkeit ist ein gutes Konzept. Und es gibt auch allemal gute Gründe, in der Testphase der drei aussichtsreichsten Präparate nicht nach der Methode Sputnik V vorgegangen zu sein. Da sind ganze Testphasen einfach ausgelassen worden. Aber nach allem, was man als interessierter Laie in Erfahrung bringen kann, geht es jetzt nicht mehr um Tests. Sondern um Bürokratie. Um die Möglichkeit von Anhörungen, Fragen, die Abstimmung von Prozessen und Logistik. 

Die Erklärungsversuche sind unbefriedigend

Die Erklärungsversuche für die Langsamkeit der EU sind bemüht und unbefriedigend. Zu sagen, besser man lässt sich noch Zeit für die Zulassung, dann ist das Vertrauen unter den Impfskeptikern größer, klingt verdammt nach Krücke. Denn Impfgegner werden sich nicht wegen einer schwerfälligen Bürokratie von der Wirksamkeit und Notwendigkeit einer Impfung überzeugen lassen.

 

Auch die Vermutung, dass Biontech und Pfizer den Antrag auf Zulassung in Großbritannien möglicherweise früher als in der EU gestellt haben (dort vor zwei Tagen), wird sofort von stichhaltigen Zweifeln zerlöchert. Warum sollten die Unternehmen einen vergleichsweise kleineren Markt schneller erobern wollen und den mutmaßlich im Kern wortgleichen Antrag in London zwei Wochen oder vier Wochen früher abgeben als in Brüssel? 

Der Impfstoff als Game Changer

Hier steht schon in der Sache selbst viel auf dem Spiel. Der Impfstoff ist der Game Changer. Jeder Tag, den er früher kommt, ist ein guter Tag. Es steht aber noch mehr auf dem Spiel für die EU, nicht nur die für sich genommen schon enorm wichtige Frage, wann ein einigermaßen normales Leben, auch Wirtschaftsleben, wieder möglich sein kann. 

Die EU muss die Brexiteer-Behauptung, ohne Brüssel besser dran zu sein, nicht bei Themen wie der Krümmung einer Banane oder Gurke, sondern im Kampf gegen das schlimmste Übel der Nachkriegszeit widerlegen. Jeder Tag, den die Brüsseler Maschinerie das vor dem 29. Dezember schafft, ist daher nicht nur im Kampf gegen Corona ein guter Tag. Es schützt Menschenleben. Die Wirtschaft. Und das Bündnis vor weiteren Zerfallserscheinungen.

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