Großbritannien - Schöne Bescherung für Boris Johnson

Knapp vor Weihnachten geht wirklich alles für Boris Johnson schief. Nach Skandalen um illegale Weihnachtspartys, Korruptionsfällen und einer Meuterei der Tories gegen Impfnachweise verloren die Konservativen am Donnerstag bei Nachwahlen im mittelenglischen North Shropshire auch noch einen sicheren konservativen Sitz.

Vom Glück verlassen: Boris Johnson / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Seit 1832 gab es in Nord Shropshire fast immer eine konservative Mehrheit. Mit dem „Great Reform Act“ hatte man neue Wahlkreise gezogen. Die mittelenglische Grafschaft war und blieb ab diesem Zeitpunkt mit einem kurzen Intermezzo 1904–1906 fest in den Händen der Tories.

Bis zum 16. Dezember 2021. Da war die satte Mehrheit von 23.000 Stimmen plötzlich weg. Statt 62 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen 2019 bekamen die Konservativen nur noch 31 Prozent. Die Nachwahl war notwendig geworden, weil der bisherige Abgeordnete Owen Patterson wegen eines Korruptionsskandals zurückgetreten war. Die Ohrfeige galt vor allem einem: Boris Johnson.

Boris Johnson? Galt der 57-jährige konservative Premierminister nicht gerade noch als Volksliebling? Als chaotischer Charismatiker, der trotz aller Fehler für eine Mehrheit der Briten nichts falsch machen konnte?

Die Party ist vorbei

„Die Party ist vorbei“, sagte die liberaldemokratische Wahlsiegerin Helen Morgan in ihrer Rede in der Nacht auf Freitag und brachte damit den Ärger der Wähler auf den Punkt: Boris Johnson hat zwei Jahre nach seinem fulminanten Wahlsieg im Dezember 2019 seine Fans enttäuscht und unter Umständen ihre Gunst für immer verloren.

Allein diese Woche war voller politischer Katastrophen für den Regierungschef. Da war erst einmal die Sache mit den illegalen Weihnachtspartys. Seit Wochen bringen britische Medien immer neue Beweise, dass es in der Downing Street und anderen Ministerien während der Lockdowns 2020 und 2021 Weihnachtspartys und andere soziale Events gegeben hat, bei denen Regierungsmitarbeiter entgegen den eigenen Regeln feierten. All das, während das brave Volk vor einem Jahr sogar das Weihnachtsfest im engsten Kreis absagen musste, weil Boris Johnson wie immer zu spät zu Maßnahmen ergriffen hatte, um das Coronavirus einzudämmen.

Zentral für den Erfolg von Krisenmanagement in demokratischen Staaten ist eine Kernkompetenz, die Boris Johnson längst verspielt hat: Vertrauen. Verheerend waren die Signale, die seine Berater und Regierungsmitglieder während der harten Lockdowns im Frühling und Winter 2020 sendeten. Erst machte sein damaliger Chefberater Dominic Cummings im Mai 2020 trotz ausdrücklichen Ausfahrverbots mit seiner Frau eine Landpartie zum Schloss Barnard im hohen Norden – und trat nach dem Skandal nicht zurück. Dann knutschte ausgerechnet Gesundheitsminister Matt Hancock entgegen der eigenen Regeln mit einer Mitarbeiterin im Büro. Zu diesem Zeitpunkt war privater Kontakt nur innerhalb der eigenen Bubble erlaubt. Deshalb sind die Briten jetzt böse. Und die Wähler enttäuscht.

Vorbild Winston Churchill

2019 hatte sich das Wahlvolk auf dem Höhepunkt der Brexit-Verhandlungen begeistert Boris Johnson an den Hals geworfen. Mit 80 Mandaten Mehrheit konnte der populistische Konservative für die Tories einen historischen Wahlsieg einfahren. Der ehemalige Londoner Bürgermeister wollte – ganz im Zeichen seines großen Vorbildes Winston Churchill – das Vereinigte Königreich zu Glanz und Glorie führen.

Da es keinen Krieg mit Europa gab, hatte er einen erfunden. Die EU wurde Sündenbock für alles. Nach einem schmerzhaften Brexit-Prozess, der Land und Leute tief spaltete, führte Johnson die Briten aus der EU heraus. Nicht nur das: Sie traten auch aus dem EU-Binnenmarkt und  der EU-Zollunion aus.

Viele, auch in der konservativen Partei, hatten dabei ein mulmiges Gefühl. Boris Johnson, das war bekannt, nahm es mit der Wahrheit nicht so genau, interessierte sich nicht für Details und hatte vor allem nur eines im Auge: seine Karriere. Er drängte moderate Konservative aus der Partei, zog die Tories mit sich aus der zivilisierten Mitte an den rechten Rand und belohnte Brexit-Loyalisten mit Ministerposten. Der Brexit hat bis heute keine nennenswerten Vorteile gebracht. Nachteile aber schon: In Nordirland steigen die Spannungen.

99 Tory-Abgeordnete gegen den Premier

Gegenwehr gab es wenig, denn Boris Johnson hatte ein schlagendes Argument auf seiner Seite: Er gewann Wahlen. Auch unter den widrigsten Umständen.

Bis jetzt. Diese Woche kam es bereits vor der demütigenden Niederlage in North Shropshire zu einer innerparteilichen Meuterei von höchster Peinlichkeit für den Parteichef. Da die Infektionszahlen dank der Omikron-Variante in die Höhe schießen, musste Boris Johnson von seinem libertären Plan A abgehen: Es sollte keine Covid-Restriktionen mehr geben. Die Impfkampagne aber ist nicht wirksam genug gegen steigende Infektionen. Als Boris Johnson im Parlament am Dienstag über neue Covid-Maßnahmen abstimmen ließ – Maskenpflicht in öffentlichen Räumen und ein Impfnachweis bei Großveranstaltungen –, stimmten 99 Tory-Abgeordnete gegen den Premier.

Das Fass ist knapp vor dem Überlaufen: Noch ein Tropfen, „dann ist er weg“, drohte der Tory-Abgeordnete Roger Gale am Freitag. Neben der Meuterei in den eigenen Reihen wird Johnson den Skandal um die Renovierung seiner Dienstwohnung nicht los. Seine Partei musste jetzt 20.000 Pfund Strafe zahlen, weil eine private Parteispende, die für die neuen Goldtapeten in der Downing Street verwendet wurde, nicht ordnungsgemäß gemeldet worden war.

Kaum ist der Zauber des populistischen Politikers verblasst, planen seine Parteifreunde seinen Sturz. Die Tories sind dafür berüchtigt, erfolglose Premiers schnell zu entsorgen. Potentielle Nachfolgerinnen und Nachfolger bringen sich bereits in Stellung. Da wäre der 41-jährige Finanzminister Rishi Sunak, der sich mit großzügigen Geldspenden während der Covidpandemie beim Volk beliebt gemacht hat. Oder die 46-jährige Außenministerin Liz Truss, die allerdings ein Problem hat: Sie stimmte 2016 noch gegen den Brexit. Einen Makel, den sie heute mit besonderer Brexitgläubigkeit wettzumachen versucht.

Aus dem Krisenmanagement nicht mehr heraus

Boris Johnson hat das Land zu einem denkbar schwierigen Zeitpunkt übernommen. Denn kaum hatte man mit Ach und Krach in letzter Minute noch einen harten Brexit erreicht, legte die Covid-Pandemie ab März 2020 die Welt lahm. Seit dem kommt Britanniens Premier aus dem Krisenmanagement nicht mehr heraus.

Genau da aber sind seine Schwächen schnell zu Tage getreten. Erst unterschätzte er die Tragweite der Pandemie, weil er die Krisenstabssitzungen schwänzte. Dann wurde er selber krank – er hatte weder die individuelle noch die kollektive Gefahr von ansteckenden Krankheiten wissenschaftlich erfasst. Großbritannien hat bis heute mit 150.000 Covid-Opfern eine der höchsten Todeszahlen der Pandemie in Europa – weit höher als in Deutschland – zu verzeichnen.

Allein die Impfkampagne wurde ein großer Erfolg. Sie verschaffte ihm im Frühling 2021 eine Atempause. Er hatte schnell, beherzt und großzügig Impfstoff bestellt und dann früher als der schwerfällige EU-Apparat mit der Verimpfung beginnen lassen.

Doch auch beim Covid-Management ist die Problemlage so komplex, dass ein Politiker wie Boris Johnson, der politische Slogans mit drei Worten liebt, irgendwann an seine Grenzen stoßen muss. Gerade erst hat der Regierungschef den Briten versprochen, dass er täglich eine Million Menschen impfen lassen werde, um die grassierende Omikron-Variante im Zaum zu halten. Ein populistisches Versprechen, das sich von Tag eins an nicht halten lässt.

Die Opposition war bisher zu schwach

Omikron hat einen R-Wert von 3,5 erreicht und lässt sich nicht mehr stoppen. Zwar haben bereits 25 Millionen Briten den dritten Stich bekommen, aber von einer Million Impfungen pro Tag ist man weit entfernt. Ganz zu schweigen von den Nebenwirkungen: Wichtige Operationen müssen verschoben werden, weil der gesamte Gesundheitsapparat auf Covid-Bekämpfung abgestellt wird.

Der englische Impfstoff, der in Oxford mit dem Pharmakonzern AstraZeneca entwickelt wurde, wird außerdem für die Booster-Impfung auch im eigenen Land kaum mehr verwendet. Der deutsch-amerikanische Biontech-Pfizer-Impfstoff bietet nach Ansicht der Wissenschaftler besseren Schutz.

Boris Johnsons großes Glück bisher: Die Opposition war zu schwach, um ihn aus Downing Street zu vertreiben. Labour-Chef Keir Starmer fehlte das Charisma des Premiers. Die Partei war seit dem Abgang des Vorgängers Jeremy Corbyn 2019 von Flügelkämpfen gelähmt. Erst vor wenigen Wochen gestaltete Starmer sein Schattenkabinett um. Langsam entstehen wieder die Konturen einer Partei links der Mitte, die an britischen Wahlurnen eine Mehrheit bekommen könnte.

Vor allem dann, wenn Boris Johnson weiter in der Wählergunst sinkt und seine Partei mit in seinen Chaosstrudel reißt. Ob es reicht, wenn er jetzt sagt: „Ich weiß, ich muss diese Probleme in den Griff bekommen“? Für den angezählten Regierungschef besteht in diesen Tagen nur noch eine Hoffnung: dass sich ab jetzt für ein paar Tage Weihnachtsruhe einstellt.

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