Griechisch-türkischer Mittelmeerkonflikt - Wenn jemand noch Einfluss auf Erdogan hat, dann Merkel

Angela Merkel will im griechisch-türkischen Streit um die Bodenschätze im östlichen Mittelmeer vermitteln. Dabei kann die Kanzlerin einen ersten Entspannungserfolg erzielen: Der türkische Staatschef Erdogan lenkt ein. Aber der eigentliche Konflikt bleibt ungelöst.

Nach Erdogans Einlenken könnte es Merkel tatsächlich gelingen, die Streitparteien an einen Tisch zu bringen / dpa
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Gerd Höhler berichtet für mehrere deutsche Tageszeitungen aus Athen über Griechenland, die Türkei und Zypern.

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Eigentlich geht es beschaulich zu auf der kleinen griechischen Insel Kastelorizo. Das Eiland mit seinen nicht einmal 500 Einwohnern und dem malerischen Hafen gilt als Geheimtipp für Segler. Rucksacktouristen kommen mit der Fähre, die dreimal in der Woche Kastelorizo mit dem drei Stunden entfernten Rhodos verbindet. Auch aus dem nur sieben Kilometer entfernten türkischen Hafen Kas setzen Besucher über, die Fahrt dauert nur 20 Minuten.

Etwa 100 Touristen befanden sich vergangene Woche auf Kastelorizo. Aber dann war es plötzlich vorbei mit der sommerlichen Ruhe. Türkische F-16-Kampfjets donnerten über die Insel, wieder und wieder. „Normalerweise dauern solche Überflüge nicht länger als fünf Minuten, diesmal waren es zweieinhalb Stunden“, berichtet der Vizebürgermeister der Insel, Dimitris Achladiotis.

Epizentrum der griechisch-türkischen Spannungen

Unversehens ist Griechenlands östlichste Insel zum Epizentrum der griechisch-türkischen Spannungen geworden. Seit Jahrzehnten streiten die beiden verfeindeten NATO-Verbündeten um die Grenzen, die militärischen Befugnisse und die beiderseitigen Wirtschaftszonen.

Die Kontroverse eskaliert, seit im östlichen Mittelmeer vielversprechende Erdgasvorkommen entdeckt wurden. Nachdem die Türkei bereits seit einigen Jahren der geteilten Inselrepublik Zypern ihre Wirtschaftszone streitig macht, erhebt sie nun auch Ansprüche auf Seegebiete, die nach dem Regeln der Uno-Seerechtskonvention Griechenland als Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) zustehen.

Völkerrechtswidrige Teilung zwischen Türkei und Libyen 

Ende 2019 unterzeichnete der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Istanbul mit dem libyschen Übergangspremier Fayiz as Sarradsch ein Abkommen über die Abgrenzung der beiderseitigen Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer. Damit teilten die beiden Länder einen Seekorridor zwischen der libyschen und der türkischen Küste untereinander auf – ohne Rücksicht auf die dort gelegenen griechischen Inseln Kreta, Karpathos, Rhodos und Kastelorizo.

Die Europäische Union und die USA betrachten die Vereinbarung als völkerrechtswidrig. Mitte Juli warnten die EU-Außenminister die Türkei vor weiteren Erdgas-Erkundungen im östlichen Mittelmeer, der Außenbeauftragte Josep Borell kündigte die Vorbereitung weiterer Strafmaßnahmen an.

Erdogan bleibt unbeeindruckt 

Aber Erdogan zeigt sich davon unbeeindruckt. Eine Woche nach dem Außenministertreffen reservierte die Türkei mit einer sogenannten Navtex, einer Sicherheitsinformation, ein großes Seegebiet südlich von Kastelorizo. Dort sollte das Forschungsschiff „Oruc Reis“ nach Erdgas suchen.

Damit wird die kleine Insel zum Brennpunkt eines Konflikts, der sich gefährlich hochzuschaukeln begann. Um ihren Plänen Nachdruck zu verleihen, ließ die türkische Marine mehr als ein Dutzend Kriegsschiffe von den Marinestützpunkten Izmir und Aksaz mit Kurs auf Kastelorizo auslaufen. Griechenland versetzte umgehend seine Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft und beorderte Flottenverbände von der Marinebasis Salamis in die Ägäis und ins östliche Mittelmeer.

Erinnerungen an die Imia-Krise

Erinnerungen an die Imia-Krise werden wach: Anfang 1996 gerieten die beiden NATO-Partner im Streit um zwei unbewohnte Felseninseln in der Ägäis an den Rand eines Krieges. Auf dem Höhepunkt der Konfrontation lagen vor den Imia-Inseln etwa 30 griechische und türkische Kriegsschiffe einander gefechtsbereit gegenüber. In nächtlichen Telefonaten mit Ankara und Athen gelang es dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, die Krise in letzter Minute zu entschärfen.

Diesmal griff niemand im Weißen Haus zu Telefon. Stattdessen schaltete sich Angela Merkel ein. Nachdem der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis die Kanzlerin telefonisch über die Zuspitzung des Konflikts informiert hatte, ließ sich Merkel mit Erdogan verbinden. Über den Inhalt des Telefonats drang nichts an die Öffentlichkeit.

Merkels Einfluss auf Erdogan?

Die Ergebnisse der Intervention sind aber offensichtlich: Die „Oruc Reis“, die eigentlich jetzt bei Kastelorizo nach Erdgas suchen sollte, liegt immer noch vor dem türkischen Hafen Antalya vor Anker. Die meisten türkischen Kriegsschiffe kehrten am Wochenende in ihre Häfen zurück. Inzwischen kündigte Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin an, die Türkei werde weitere Erkundungen im östlichen Mittelmeer „für eine Weile auf Eis legen“, um der Diplomatie eine Chance zu geben.

Wenn überhaupt ein europäischer Politiker noch Einfluss auf Erdogan hat, dann ist es wohl Merkel. Trotz seiner zunehmend europafeindlichen Rhetorik weiß der türkische Staatschef: Sein Land braucht die EU. Sie ist der wichtigste Absatzmarkt für die türkischen Exporteure, von dort kommen die meisten ausländischen Investitionen.

Ankaras Wunsch nach mehr Freihandel

Die Zollunion spielt dabei eine Schlüsselrolle. Ankara wünscht eine Ausweitung des Freihandelsabkommens. Erdogan weiß: Der Schlüssel dazu liegt in Berlin.

Merkel ihrerseits hat die Brisanz des Konflikts zwischen der Türkei auf der einen und den EU-Staaten Zypern und Griechenland auf der anderen Seite erkannt. Aus dem kalten Krieg im östlichen Mittelmeer könnte schnell eine militärische Konfrontation werden. Das Thema steht deshalb weit oben auf der Agenda der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Merkel versucht, Anknüpfungspunkte für einen griechisch-türkischen Dialog zu finden.

Die Indiskretion des türkischen Außenministers

Aber wie undankbar die Rolle des Vermittlers ist, erfuhr man in Berlin erst kürzlich: Unmittelbar vor der EU-Außenministerkonferenz trafen sich dort Erdogans Vertrauter Kalin und die Chefin des diplomatischen Büros des griechischen Ministerpräsidenten, Eleni Sourani, mit dem außenpolitischen Berater der Kanzlerin, Jan Hecker. Es ging darum, Gesprächsmöglichkeiten auszuloten.

Man vereinbarte Vertraulichkeit, das Sondierungstreffen sollte geheim bleiben. Trotzdem plauderte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Begegnung schon anderntags aus. Die griechische Regierung sieht darin den Versuch der Türkei, den Dialog zu torpedieren, bevor er überhaupt begonnen hat. Auch in Berlin sei man wegen der türkischen Indiskretion verstimmt, heißt es in Diplomatenkreisen.

Dialogbereitschaft aus Athen

Die Athener Regierung beteuert derweil ihre Dialogbereitschaft, „aber nicht unter dem Druck türkischer Drohungen und Erpressungen“, wie Premier Mitsotakis verlauten lässt. Trotz der jüngsten Entspannung bleiben die griechischen Streitkräfte in Alarmbereitschaft, heißt es im Verteidigungsministerium.

Zugleich bemüht man sich im Kanzleramt in Berlin, die Kontakte nicht abreißen zu lassen, auch um ein Wiederaufflammen der Krise zu verhindern. Sie laufen im Dreieck: Sourani und Kalin stehen jeweils in Verbindung mit dem Merkel-Berater Hecker.

Merkel als Streitschlichter 

Nach Erdogans Einlenken könnte es Merkel tatsächlich gelingen, die Streitparteien an einen Tisch zu bringen. Aber eine rasche Verhandlungslösung ist nicht in Sicht. Denn kaum ein Konflikt in Europa ist so kompliziert wie der Streit um die Grenzen und Hoheitszonen in der Ägäis.

Griechenland beansprucht unter Berufung auf die UNO-Seerechtskonvention für jede seiner Inseln einen eigenen Festlandssockel und eine Wirtschaftszone, auch für das kleine Kastelorizo, das unmittelbar vor der türkischen Küste liegt. Damit bliebe für die Türkei, die über die längste Küstenlinie aller Mittelmeerländer verfügt, nur wenig übrig. Ankara argumentiert deshalb, Inseln hätten grundsätzlich keinen eigenen Festlandssockel.

Erdogans geopolitische Ambitionen

Und: Es geht um mehr als Öl und Gas. Streit gibt es auch um den militärischen Status der griechischen Inseln und die Hoheitszonen im Luftraum, wo türkische und griechische Kampfpiloten fast täglich riskante Abfangmanöver fliegen. Nirgendwo in Europa ist die Gefahr eines militärischen „Unfalls“ größer als in der Ägäis.

Erdogan verfolgt geopolitische Ambitionen. Er will sein Land zur dominierenden Macht im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeer machen. Dem dienen seine Kriege im Nordirak, in Syrien und Libyen. Vor diesem Hintergrund bekommt der jahrzehntealte griechisch-türkische Konflikt eine neue, gefährliche Dimension.

„Politik der militärischen Nadelstiche“

Der Türkei-Experte Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik erwartet, dass der türkische Präsident „seine Politik der militärischen Nadelstiche“ gegenüber Griechenland fortsetzen wird. Erdogan gehe es darum, „eine große Türkei zu errichten, die sich auf die Geschichte und imperiale Größe des Osmanischen Reichs besinnt“, erklärte Seufert in einem Interview der Deutschen Welle.

Dazu gehören auch symbolische Schritte, wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee. Ob die türkische Politik zu einem Krieg führen werde, hänge von den Reaktionen Griechenlands ab, meint der Türkei-Experte Seufert – und davon, ob die großen NATO-Länder vermittelnd eingreifen.

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