Gipfeltreffen in Europa - Der große abwesende Drache

US-Präsident Biden ist nun eine Woche auf der großen internationalen Bühne. Der politische Westen soll organisiert werden. Und China und Russland sollen sehen, dass sich die Verhältnisse nach Trump wieder drehen. Nicht zuletzt geht es auch um das Selbstverständnis von Demokratien.

Joe Biden vor dem Abflug zur ersten Auslandsreise nach Europa Foto: Patrick Semansky/dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Präsident Bidens erste Auslandsreise nach Großbritannien, zu den G7, der Nato und der EU zielt darauf ab, die Reihen der Demokratien zu schließen und eine gemeinsame Position gegenüber China und Russland zu verabreden. Auch Indien, Australien und Südkorea werden vertreten sein. Man werde, ließ Biden vorab wissen, der Welt eine Alternative zu China anbieten, die auf der Revitalisierung der Zusammenarbeit der Demokratien beruht.

Dazu passt: Der US-Senat hat gerade ein 250 Milliarden Dollar-Paket verabschiedet, mit dem der technologische Vorsprung gegenüber China gewahrt bleiben soll. Und die amerikanische Regierung überprüft die Sicherheit von globalen Lieferketten, um von politischen Rivalen unabhängiger zu werden.

Die Pistole auf die Brust gesetzt

Dass Biden gleichzeitig bangen muss, sein zweites Konjunkturpaket durch den Kongress zu bekommen, weil Senator Manchin ihm die Pistole der überparteilichen Zustimmung auf die Brust setzte, zeigt, dass Außenpolitik immer auch Innenpolitik ist. West-Virginia bereitet ihm derzeit ebensoviel Kopfschmerzen wie Russland. Aber nun ist er eine Woche auf der großen internationalen Bühne. Der politische Westen soll organisiert werden. Und China und Russland sollen sehen, dass sich die Verhältnisse nach Trump wieder drehen.

China wird zwar nicht anwesend, aber der große Drache im Raum sein. Die dortige Einschätzung, dass die USA wirtschaftlich und politisch absteigen, China hingegen die Zukunft gehört, soll vor aller Augen zerstoben werden. Die USA nehmen die Herausforderung durch China an und haben die besseren Lösungen für die Probleme der Welt, wird die Botschaft der nächsten Woche sein. Denn die USA und China sind, wie es Henry Kissinger ausführte, „beide zu groß, um von der jeweils anderen Seite beherrscht zu werden, von zu eigenem Charakter, um transformiert zu werden, zu sehr aufeinander angewiesen, um die Isolation des anderen zu tolerieren“. Und genau da steht die Auseinandersetzung um die Gestaltung der Weltordnung jetzt, Russland eingeschlossen. Es geht, wie Präsident Biden formuliert, „um den Sieg im 21. Jahrhundert“, um den der Wettbewerb gerade begonnen hat.

Geostrategische Fehler

Am Ende dieser Reise wird Präsident Biden den russischen Präsidenten Putin treffen. Der Hinweis, den wiederum Kissinger 1972 gab, dass sich die USA in 20 Jahren „den Russen als Gegengewicht zu den Chinesen annähern“, wird unausgesprochen über den amerikanisch-russischen Gesprächen schweben: Wie können beide Staaten in ein Verhältnis zueinanderkommen, das ihren Handlungsspielraum gegenüber China erweitert? Denn auch wenn sich Russland in den vergangenen Jahren China angenähert hat, möchte es sich seinem bestimmenden Einfluss entziehen. Das ist aus eigener Kraft wirtschaftlich kaum möglich.

Die USA wiederum diskutieren gerade auf zwei Ebenen über Russland. Einerseits als autoritärer Widersacher, der bestrebt ist, die politische Ordnung der USA zu unterminieren und Europa in seinen Einflussbereich zu ziehen. Andererseits, sobald das Sichtfeld um China erweitert wird, als andersartiger Gefährte: Es sei der größte geostrategische Fehler der letzten Administrationen gewesen sein, Russland in die Arme von China driften zu lassen. Putin äußerte erst vor wenigen Tagen, dass es eigentlich keine Unstimmigkeit mit den USA gäbe, außer einer: Die USA wollten Russlands Entwicklung ersticken.

Der Westen braucht Russland

So sehen das die demokratischen Regierungen freilich nicht, die Hackerangriffe und den Umgang mit politisch engagierten Oppositionellen sowie die Destabilisierung der Ukraine bemängeln. Sie wollen auch den Nato-Russland-Rat wiederbeleben. Das wirft die Frage auf: Wie lassen sich der demokratische Ehrgeiz, die eigenen Werte weltweit durchzusetzen, und die strategische Notwendigkeit, mit Russland in ein verlässliches Verhältnis zu kommen, vereinbaren? Derzeit gar nicht. Der Westen kann nicht davon absehen, Russland für Normbrüche zu kritisieren und zu strafen, ohne seine eigenen Werte zu missachten. Gleichzeitig kann er auf die Zusammenarbeit mit Russland gegenüber China nicht verzichten, ohne seine strategischen Interessen zu missachten. Das ist das Dilemma, vor dem der amerikanische Präsident gerade steht.

Ein Blick zurück in die Zeit des Ost-West-Konflikts hilft dabei nicht wirklich weiter. Denn damals wurden im Rahmen der Antagonistischen Kooperation die jeweiligen Einflusssphären auf Kosten des Selbstbestimmungsrechts der Staaten (zumindest in Europa) akzeptiert. Das ist derzeit nicht der Fall. Beide Seiten konkurrieren nicht nur um Ideologie – insbesondere um die Frage, wie liberal Gesellschaften sein sollen –, sondern um Einflusssphären. Deshalb steht die Ukraine auch im Mittelpunkt strategischer Diskussionen, etwa bei Nord Stream 2.

Der Umgang mit Autokratien

Zwei parallele Entwicklungen könnten allerdings dazu beitragen, die politischen Kalkulationen in Moskau zu verschieben. Erstens kann die russische Wirtschaft, sofern fossile Energieträger unbedeutender werden, die Kosten militärischer Aufrüstung nicht dauerhaft aufbringen. Das ist kein Thema für die nächsten Jahre, vor allem auch, weil die neuen russischen Waffensysteme große Wirkung versprechen. Aber mit Blick auf die nächsten Jahrzehnte – und so weit wird im Kreml vielleicht vorausgeschaut – könnten hier Verwerfungen anstehen. Zweitens wird der Wettkampf um die technologische Führung zwischen den USA und China geführt. Wie Europa ist auch Russland international zu bedeutend, sich dieser Konkurrenz entziehen zu können. Welche strategischen Entscheidungen dies in Moskau auslöst, hängt allerdings von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der politischen Ausrichtung der Europäischen Union.

Sollten die geostrategischen Interessen gegenüber China an Bedeutung gewinnen, stellt sich für die Demokratien des Westens allerdings die Frage, ob, und wenn ja, wie mit Autokratien umgegangen werden kann. Dann steht eine Debatte über das Selbstverständnis von Demokratien in einer globalisierten, von unterschiedlichen politischen Ordnungen gleichzeitig geprägten Welt an. Und das schließt den Umgang mit China wieder ein.

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