Fußball-WM in Katar - Spielfeld für Streit

Katar ist seinen Nachbarn im Nahen Osten militärisch klar unterlegen. Als Ausgleich verfolgt das kleine Emirat seit Jahren eine aufwendige Strategie der Soft Power. Mit Investitionen in Wissenschaft, Kultur und vor allem – in Fußball. In zwei Jahren findet dort die WM statt.

Ausländische Arbeiter für die WM 2022 in Katar / dpa
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Ronny Blaschke hat fünf Bücher über politische Hintergründe im Fußball geschrieben.

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Im Januar 2019 findet das wichtigste Fußballturnier Asiens in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt, in einer der wohlhabenden Öl-Monarchien am Persischen Golf. Das Nationalteam des Nachbarn Katar muss auf der kurzen Anreise in Kuwait zwischenlanden. Fans aus Katar dürfen nicht einreisen. Dennoch stürmt ihre Mannschaft ins Halbfinale der Asienmeisterschaft und trifft dort auf den Gastgeber, die VAE.

In der Hauptstadt Abu Dhabi verteilt die Sportbehörde Tickets nur an heimische Fans. Meldungen kursieren, wonach eine Unterstützung für Katar juristisch bestraft werden könne. Das katarische Team gewinnt 4:0. Zuschauer des Gastgebers werfen Flaschen und Schuhe auf den Rasen; in der arabischen Welt: ein Zeichen tiefer Abneigung. Drei Tage später gewinnt Katar auch das Finale gegen Japan und ist erstmals Asienmeister. Politiker und Sportfunktionäre der gastgebenden VAE boykottieren die Siegerehrung.

„Der Fußball ist ein Spiegel der Spannungen am Golf“, sagt Jassim Matar Kunji, früher Torhüter in der katarischen Profiliga und nun Journalist beim Fernsehsender Al Jazeera. „Es wurden Sponsorenverträge zwischen den Ländern gekündigt und Spielertransfers abgesagt. Wenn Teams aus Katar in den VAE spielten, wurden sie von der Polizei begleitet.“

Politik durch Fußball

Seit 2017 spitzt sich ein alter Konflikt am Golf zu. Zu jener Zeit verhängt Saudi-Arabien eine wirtschaftliche Blo­ckade über Katar. Die VAE, Bahrain und Ägypten schließen sich an und setzen ihre diplomatischen Beziehungen mit Doha ebenfalls aus. Ihr Vorwurf: Katar würde Terrorgruppen unterstützen und pflege eine zu große Nähe zur Muslimbruderschaft und zum Iran. Saudi-Arabien stellt Lebensmittelimporte nach Katar ein. Durch die Unterbrechung wichtiger Reisewege werden Familien getrennt. Die staatliche Fluglinie Qatar Airways darf den saudischen Luftraum nicht mehr nutzen. Das Wirtschaftswachstum Katars erhält eine Delle.

„Viele Katarer haben eine Invasion von Saudi-Arabien für möglich gehalten“, sagt Jassim Matar Kunji. Die Armee Saudi-Arabiens zählt heute rund 200 000 Soldaten, die von Katar 12 000. Um die militärische Unterlegenheit auszugleichen, verfolgt Katar eine aufwendige Strategie der Soft Power: mit milliardenschweren Investitionen in Kultur, Wissenschaft und Fußball, mit Großveranstaltungen, Vereinsbeteiligungen oder Sponsoren-Partnerschaften bei Paris Saint-Germain oder beim FC Bayern München.

Die Austragung der Fußball-WM 2022 ist der wohl wichtigste Teil dieser Strategie. Es lohnt sich also, den sportlichen und damit auch politischen Aufstieg Katars genau zu betrachten – ein Modell, dem andere Staaten folgen könnten. Politik durch Fußball.

Heraus aus der Umklammerung Saudi-Arabiens

Noch vor gut 50 Jahren liegen die arabischen Machtzentren in Kairo, Bagdad oder Damaskus. Die kleinen Scheichtümer auf der Arabischen Halbinsel wie Kuwait, Bahrain oder die VAE spielen noch keine Rolle. Katar, zuletzt unter britischer Kontrolle, hat im Jahr seiner Unabhängigkeit 1971 gerade mal 100 000 Einwohner und steht unter dem militärischen Schutz Saudi-Arabiens. 1990 marschiert der übermächtige Irak in Kuwait ein, die USA müssen zur Befreiung anrücken. In den kleineren Staaten der Region setzt sich das Bewusstsein durch, dass sie bei einem vergleichbaren Angriff – zum Beispiel durch den Iran – klar unterlegen wären.

Traditionell werden in Katar die wichtigsten Entscheidungen von einer Handvoll Menschen getroffen, schreibt der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava in seinem Buch „Qatar: Small State, Big Politics“. Seit Jahrzehnten an der Macht: die ursprünglich aus Saudi-Arabien stammende Dynastie Al Thani. 1995 setzt Hamad bin Chalifa Al Thani in einem unblutigen Putsch seinen eigenen Vater ab. In Saudi-Arabien und in den VAE fürchten die Herrscher, dass ihnen die Macht ebenfalls entgleiten könnte. Die Folge: eine zunehmende Abgrenzung zu Katar. 

Der neue Emir will Katar aus der Umklammerung Saudi-Arabiens lösen und leitet eine Modernisierung ein. Er lässt Mitte der neunziger Jahre den Nachrichtensender Al Jazeera aufbauen und öffnet die Wirtschaft für ausländische Investoren. In Doha entstehen Zweigstellen renommierter Universitäten aus den USA, Großbritannien und Frankreich, drei der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Dazu das Museum für Islamische Kunst, das Philharmonische Orchester, das Doha Tribeca Film Festival, überdies Werbevideos und Anzeigen in westlichen Medien.

Mit diesen Maßnahmen sichert sich Katar, etwa halb so groß wie Hessen, Kontakte nach Europa und Nordamerika, doch eine globale Öffentlichkeit erreicht die Soft Power noch nicht. „Die Staaten am Golf wollen neue Wirtschaftszweige entwickeln. Denn ihre traditionellen Einnahmequellen Öl und Gas sind endlich“, sagt der Sportwissenschaftler Mahfoud Amara von der Qatar-­Universität in Doha. „Der Sport dient als Strategie, um auch andere Sektoren wie Tourismus, Handel oder Transportwesen bekannter zu machen.“

Sport und Handel

Das katarische Herrscherhaus lässt eine der größten Sportakademien der Welt bauen, die Aspire Academy, eröffnet 2005. Dutzende internationale Wettbewerbe finden nun jährlich in Doha statt. Weltweit Schlagzeilen macht das erst im Dezember 2010 mit der Vergabe der WM 2022. Kurz danach erwirbt Katar die Mehrheit von Paris Saint-Germain. Der Emir besitzt in Frankreich Immobilien, Firmenanteile und Kunst sowie eine belastbare Beziehung zum damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Zudem wird Qatar Airways der erste Trikotsponsor des FC Barcelona. Immer mehr Spitzenklubs verbringen fortan Trainingslager in Doha, der FC Bayern bis heute zehn Mal.

Katar investiert weit mehr als eine Milliarde Euro in den europäischen Fußball. In Deutschland, England oder Frankreich steht die Finanzabwicklung in der Kritik, schließlich seien Besitzer und Sponsor kaum voneinander zu trennen. Aber in der arabischen Welt wächst der katarische Einfluss. Das ärgert den langjährigen Hegemon Saudi-Arabien, sagt der Experte für Sportökonomie Simon Chadwick: „Eine Agentur wollte nachweisen, wie ungeeignet Katar für die WM sei. Dann stellte sich heraus, dass die Kampagne von Saudi-Arabien finanziert wurde.“ Katar lehnt den Wunsch des Weltfußballverbands Fifa für eine nachträgliche Erweiterung der WM 2022 von 32 auf 48 Teams strikt ab. Ein deutliches Zeichen gegen mögliche Ko-Gastgeber wie die VAE und Saudi-Arabien.

In der Golfregion konkurriert Katar um Investoren, Touristen und Fachkräfte vor allem mit Abu Dhabi und Dubai, den beiden einflussreichsten Kleinstaaten der VAE. Das größere Dubai setzt auf Einkaufszentren, Familienunterhaltung und Großereignisse wie die Expo 2021. Der Flughafen in Dubai ist ein führendes Drehkreuz, auch dank Fußball. Die staatliche Fluglinie Emirates mit Sitz in Dubai ist seit Beginn des Jahrtausends als Sponsor in großen europäischen Ligen aktiv, beim FC Arsenal, AC Mailand oder Real Madrid.

Das kleinere Abu Dhabi legt 2008 nach und kauft sich bei Manchester City ein. Als Trikotsponsor wirkt die staatliche Fluglinie Etihad, Konkurrenz von Emirates und Qatar Airways. Die zuständige City Football Group spannt ein globales Netzwerk und erwirbt Vereins­anteile in New York, Melbourne oder Yokohama, auch in Chengdu im Südwesten Chinas. Etihad möchte Chengdu als ein Drehkreuz für Ostasien entwickeln. Und in Katar wiederum wird das Stadion für das WM-Finale 2022 von chinesischen Firmen gebaut. „Wir sehen in der Fußball­industrie eine massive Machtverschiebung nach Osten“, sagt Simon Chadwick. „Der Sport als Ausgangspunkt für neue Handelsbeziehungen.“

Dohas Rekordsumme

Der Fußball ist dabei ein Brennglas auf wirtschaftliche Machtkämpfe, Gebietsansprüche und religiöse Spannungen. Bestärkt durch einen Generationenwechsel unter den Herrschern: 2013 übernimmt in Katar Tamim bin Hamad Al Thani die Macht von seinem Vater, mit 33 Jahren ist er zu jener Zeit der jüngste Staatschef der arabischen Welt. In Saudi-­Arabien tritt Mohammed bin Salman, genannt MBS, als Kronprinz aus dem Schatten des Königs hervor. Und in den VAE positioniert sich Mohammed bin Zayed, genannt MBZ, als neuer starker Mann. MBS und MBZ verbünden sich gegen das aufstrebende Katar.

Die Ursachen für das wachsende Misstrauen sind komplex. Katar bezieht Stellung während des Arabischen Frühlings 2011 und auch danach: für die Muslimbruderschaft in Ägypten, für islamische Kräfte in Tunesien, für die Rebellen in Libyen gegen Gaddafi und in Syrien gegen Assad. „Katar will sich als eine führende Regionalmacht positionieren“, sagt Joachim Paul, der sich für die Heinrich-­Böll-Stiftung mit der Golfregion beschäftigt hat. „Saudi-Arabien und die VAE möchten den politischen Islam eher eindämmen, vor allem die Muslimbruderschaft.“ Zudem verweigert Katar der saudischen Militärallianz im Krieg in Jemen die bedingungslose Unterstützung.

Saudi-Arabien und seine Verbündeten rufen 2014 zunächst ihre Botschafter aus Katar ab. Etliche Geschäfte in Riad überkleben Sponsorenschriftzüge von Qatar Airways auf den Trikots des FC Barcelona und des FC Bayern. Das Zeigen katarischer Symbole wird unter Strafe gestellt. An eine Neuauflage der Panarabischen Spiele ist schon gleich gar nicht zu denken. Letztmalig fand das regionale Ereignis 2011 in Doha statt, seither kann man sich nicht auf einen Gastgeber einigen. 2017 erfolgt schließlich die Verkündung der Blockade Katars. Riad fordert unter anderem die Schließung von Al Jazeera und der Qatar Foundation, zwei der wichtigsten Institutionen für Doha. 

Katar wehrt sich. Im August 2017 wird der Wechsel des brasilianischen Spielers Neymar vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain bekannt gegeben, für die Rekordsumme von 222 Millionen Euro. „Eine strategische Meisterleistung“, sagt der Politikwissenschaftler Danyel Reiche, Herausgeber des Buches „Sport, Politics, and Society in the Middle East“: „Kurz nach Beginn der Blockade veränderte Katar das Narrativ in den Medien. Der Transfer war unfassbar teuer. Aber alle redeten nur noch über Fußball und nicht mehr über das isolierte Katar.“

Saudi-Arabien will das konservative Image loswerden

Der Fußball als Megafon für Feindseligkeit, das verdeutlicht vor allem BeIN Sports. Der katarische Sportsender war 2003 als Ableger von Al Jazeera gegründet worden, ist seit 2012 eigenständig und gehört nun zu den Fußballanstalten mit der größten Reichweite weltweit. Wenige Wochen nach Beginn der Blockade 2017 geht ein neuer Sender an den Start: BeoutQ strahlt den gleichen Inhalt aus wie BeIN Sports, die gleichen Spiele, Kommentare, Analysen, allerdings mit eigenen Logos, Grafiken und Werbeblöcken. Bald verteilt BeoutQ das Material aus Katar auf zehn eigene Kanäle. „Das ist eine neue Dimension der Piraterie“, sagt Jonathan Whitehead, Führungskraft bei BeIN Sports. Schnell wird klar: Organisation und Technik von BeoutQ stammen aus Saudi-Arabien.

Mehrere Anwaltskanzleien lehnen die Betreuung einer Klage gegen ­BeoutQ ab. Wollen sie sich nicht mit Saudi-­Arabien anlegen? In Regionen, wo ­BeoutQ zu empfangen ist, gehen die Abozahlen von BeIN Sports zurück. In den ersten sechs Monaten der Piraterie liegt der katarische Verlust bei einer Milliarde Dollar. BeIN Sports muss 300 Mitarbeiter entlassen. In den arabischsprachigen Programmen des Senders äußern sich Kommentatoren wütend gegen die Blockadestaaten. ­BeoutQ sendet mit einer Zeitverzögerung und kann rechtzeitig Werbung einblenden.

Unter den Golfstaaten kopiert Saudi-­Arabien spät die sportpolitischen Ambitionen seiner Nachbarn. Riad beginnt 2016 mit der Organisation kleinerer Wettbewerbe: im Wrestling, Schach, im Rennsport Formel E. Dann mit größeren: im Handball, Tennis und im Boxen. Im Oktober 2018 findet in Riad der Fußballgipfel zwischen Brasilien und Argentinien statt. Für mehr als 100 Millionen Dollar sichert sich Saudi-Arabien die Austragung des italienischen und spanischen Supercups. Mehr als zwei Milliarden Dollar sollen insgesamt in Sport und Kultur fließen. „Saudi-Arabien will das Image der konservativen, verschlossenen Gesellschaft loswerden“, sagt Mahfoud Amara von der Qatar-Universität.

Fußball ohne Grenzen

Sobald es um emotionale Debatten im Fußball gehe, argumentiert Human Rights Watch in einem Sonderbericht, treten die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien in den Hintergrund. Zwar dürfen Frauen nunmehr Auto fahren, Stadien besuchen oder zur Gesundheitsförderung ins Fitnessstudio gehen, aber noch immer befänden sich Frauenrechtlerinnen in Gewahrsam.

Mohammed bin Salman lässt 2017 Intellektuelle und Religionsgelehrte verhaften, die seinen Kurs gegen Katar nicht bedingungslos stützen wollen. Auch Exilanten sind in Gefahr, wie der Mord am Journalisten Jamal Khashoggi 2018 im Konsulat von Istanbul zeigt. „Durch Sport legt sich Saudi-Arabien eine vermeintlich unpolitische Fassade zu“, sagt Wenzel Michals­ki von Human Rights Watch.

Keiner der Staaten am Persischen Golf wird demokratisch regiert, eine Gewaltenteilung existiert nicht. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen für das Jahr 2020 liegt Katar von 180 Staaten auf Rang 129, die VAE auf 131, Saudi-Arabien auf 170. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen. In Katar sind Parteien verboten. Unabhängige Medien, die die Erbmonarchie hinterfragen, gibt es nicht. Wenzel Michalski sieht es kritisch, dass Vereine aus demokratisch regierten Ländern wie der FC Bayern die katarische Außenpolitik mit ihren Partnerschaften aufwerten: „Wenn europäische Klubs auf den Profit schon nicht verzichten wollen, dann könnten sie zumindest den wenigen kritischen Aktivisten vor Ort mehr Interesse entgegenbringen. Der Fußball sollte sich regelmäßig von Menschenrechtsorganisationen beraten lassen.“ 

Unwürdige Zustände für Arbeitsmigranten

In Katar sind Proteste wie 2019 in Algerien oder im Libanon unwahrscheinlich. Der Emir hat im Staatswesen ein dichtes Netz aus Familienmitgliedern und Freunden geknüpft, vielen von ihnen mit mehreren Ämtern, durchaus üblich am Golf. Die Herrscherfamilie lässt die Bevölkerung am Wohlstand teilhaben, zumindest die 250 000 Staatsbürger. In Bildung, Gesundheitsvorsorge und Jobvergabe genießen sie enorme Privilegien, ihr Pro-Kopf-Einkommen ist eines der höchsten weltweit.

Rückblick: In der Aufbauphase des katarischen Staates, in den siebziger Jahren, hat das Herrscherhaus mehr Widerstand zu fürchten. Gastarbeiter kommen damals überwiegend aus Ägypten, Palästina und Jemen. Sie sprechen die gleiche Sprache wie die Einheimischen, aber viele von ihnen haben antimonarchistische Einstellungen. Nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait 1990 bemüht sich die katarische Regierung um Arbeitsmigranten aus Südasien, die sie kulturell leichter abschotten kann. Die Arbeiter aus Indien, Bangladesch oder Pakistan erhalten einen Kafala, einen Bürgen, der ihre Pässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren, ihren Jobwechsel verhindern kann.

Diese Arbeiter ermöglichen die rasante Entwicklung von Doha. Viele von ihnen erkranken bei den hohen Sommertemperaturen oder kommen ums Leben. Genaue Zahlen sind nicht zu erfahren.
Die breite Öffentlichkeit der westlichen Industriestaaten erfährt von diesem System, das auch in anderen Golfstaaten praktiziert wird, erst durch die WM-Vergabe 2010. Insbesondere Medien aus Großbritannien und Deutschland machen die menschenunwürdigen Bedingungen der Arbeiter öffentlich. „Die Katarer waren erstaunt über die Wucht der Kritik, denn sie waren eigentlich der Meinung, dass sie Fortschritte machen“, sagt Houtan Homayounpour, Leiter des Büros der ILO in Doha, der International Labour Organization, einer UN-Agentur zum Schutz von Arbeitsrechten.

Es ist eine Frage der Perspektive: Nach Maßstäben Europas, deren Gewerkschaften sich über Jahrzehnte herausgebildet haben, ist Katar rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion, die Arbeiterbewegungen nicht kennt, ist Katar ein Zukunftsmodell. In Katar wird 2020 der erste Mindestlohn der Region eingeführt. Arbeiter benötigen künftig keine Ausreisevisa mehr und sollen Verträge leichter ändern können. Aber werden die Gesetze ausreichend kontrolliert? Die internationale Aufmerksamkeit liegt auf den WM-Baustellen, dort sind 31 000 Arbeitsmigranten tätig – von landesweit 2,3 Millionen. Houtan Homa­younpour appelliert an Unternehmer: „Wenn Migranten weniger Einschränkungen haben, wird das weitere Fachkräfte und Investoren ins Land locken. Aber wir müssen noch mehr dafür tun, dass sich die Arbeiter willkommen fühlen.“

Die Furcht, man könnte sich zu sehr öffnen

Von den rund 2,5 Millionen Einwohnern haben nur 10 Prozent einen katarischen Pass. In keinem anderen Land ist der Anteil an Einwanderern so hoch. „Einige Geschäftsleute haben Bedenken, dass sich Katar durch die WM zu sehr öffnen könnte“, sagt der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava von der George­town-Universität in Doha. Sie fürchten, dass Fußballfans 2022 Alkohol in der Öffentlichkeit trinken und Schwule ihre Sexualität nicht verbergen. 2018 lässt der Emir die Alkoholpreise durch Steuern massiv erhöhen, an der Qatar-Universität ersetzt er als Hauptsprache Englisch durch Arabisch. Zugeständnisse an konservative Kreise, denn nur mit innenpolitischer Stabilität lässt sich außenpolitisch Soft Power betreiben. Mehran Kamrava: „Durch die WM kann die Politik Reformen schneller voranbringen, die Teile der Wirtschaft nicht wirklich wollen.“ Es sind Reformen, die Saudi-Arabien und die VAE mitunter als Provokation empfinden.

Gibt es Zeichen der Annäherung? Im November 2019 sollte der Golf-Cup in Katar stattfinden, ein regionales Fußballturnier auf der Arabischen Halbinsel. Dieses Mal mit fünf statt acht Teams, denn Saudi-­Arabien, die VAE und Bahrain planten einen Boykott. Zwei Wochen vor dem Turnier kündigen die Blockadestaaten überraschend doch ihre Teilnahme an. Die Mannschaft Saudi-Arabiens reist mit der heimischen Fluglinie ohne Umweg nach Katar, dabei ist der direkte Flugverkehr ausgesetzt. Für den Golf-Cup überqueren nach mehr als zwei Jahren erstmals Busse mit saudischen Staatsbürgern die Grenze zu Katar. Doha hat sich inzwischen auf die Blockade eingestellt, importiert Lebensmittel vermehrt aus der Türkei und Iran. „Der Fußball schafft einen größeren Kontext, in dem Politiker sich leichter annähern können“, sagt Mehran Kamrava. Er hält es für unwahrscheinlich, dass Riad die Blockade bis zur WM 2022 aufrechterhält.

Fußball als Türöffner in die ganze Welt

Der Nahe Osten wandelt sich ständig, und der Fußball ist dabei ein wichtiges Machtinstrument. Ab Spätsommer 2020 nimmt Israel diplomatische Beziehungen zu drei arabischen Staaten auf, zu den VAE, Bahrain und Sudan. Sehr wahrscheinlich in Absprache mit Saudi-­Arabien, glaubt James Dorsey, Autor des Buches „The Turbulent World Of Middle East Soccer“: „Es könnte bald Freundschaftsspiele zwischen den Ländern geben. Ich glaube, dass die VAE im Fußball ein politisches Ziel verfolgen: Sie wollen mit Soft Power in Israel offenbar anti­arabische Einstellungen aufweichen, auch im komplizierten Verhältnis mit den Palästinensern.“ Eine Machterweiterung gegenüber Katar?

Doha knüpft sein eigenes Netzwerk und wirkt als Vermittler längst über den Golf hinaus, mit Kontakten in den Westen, aber auch zum politischen Islam in Ägypten, im Libanon und im Iran. Überdies erweitert Katar auch in demokratischen Staaten seinen Einfluss, mit der Förderung von Moscheen und islamischen Kulturzentren. Schon 2004 spendet das Olympische Komitee Katars sechs Millionen Dollar für das neue Stadion in Sachnin, es ist die erste Investition eines Golfstaats in einer israelischen Stadt. Von den 30 000 Einwohnern sind mehr als 90 Prozent muslimische Araber. 2004 gewinnt der FC Bnei Sachnin den israelischen Pokal. Bis heute hält Katar keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Doch das Stadion in Sachnin trägt den Namen der katarischen Hauptstadt.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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