Die zweite Corona-Welle - Warum in Frankreich die Zahlen wieder dramatisch steigen

Paris hat sich zum neuen Corona-Hotspot entwickelt. Auch der Rest von Frankreich steckt bereits mitten in einer zweiten Corona-Welle. Nicht nur das französische Savoir-vivre steht der Regierung im Weg. Auch das Vertrauen der Bürger in ihr Krisenmanagement ist begrenzt.

Die Cafés in Paris sind nach den Sommerferien wieder voll / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Über 270 Infektionen pro 100.000 Bürger: Paris hat sich erneut zum Corona-Hotspot entwickelt. Seit Dienstag gilt die „maximale Alarmstufe“ für Frankreichs Hauptstadt. Bars und Cafés werden für 14 Tage geschlossen, Restaurants dürfen weiterhin öffnen. Das leuchtet nicht jedem ein.

Selbst den schockierenden Bildern aus der Provinz Alpes-Maritimes im sonst so sonnigen Süden, die zeigen, wie Autos, Straßen und Häuser samt Menschen einfach in den Fluten verschwinden, wird es nur kurz gelingen, die Diskussion um verschärfte Anti-Corona-Maßnahmen in den Hintergrund zu drängen. Dafür ist das Problem bereits jetzt wieder viel zu groß. Frankreich steht nicht vor einer zweiten Corona-Welle, Frankreich ist bereits mittendrin.

Auf den Intensivbetten wird es wieder voller 

Die Zahlen sind alarmierend. Während Deutschland rund 2.300 Neuinfektionen pro Tag  verzeichnet, müssen die französischen Behörden immer neue Höchststände vermelden: 17.000 neue Fälle täglich – deutlich mehr als im Frühjahr. Und das ist noch nicht alles. Die Betten für Intensivpatienten sind in Paris – Stand heute - zu 35 Prozent mit Covid-Patienten belegt. In anderen Großstädten wie Marseille, Lyon, Lille oder Toulouse sind die Daten nur unwesentlich besser. Mediziner erklären, zum Glück seien die Krankheitsverläufe im Moment weniger heftig als im Frühjahr, sonst wäre die Lage bereits wieder kritisch. Der Anteil der positiv Getesteten stieg zuletzt auf 8,2 Prozent.

Dabei gilt in ganz Frankreich seit Wochen Maskenpflicht. Kein Schritt auf die Straße ist erlaubt ohne Mund-Nasen-Bedeckung. Die Regierung versucht alles, um einen zweiten Lockdown zu verhindern, denn der erste hat die Wirtschaft des Landes im Kern getroffen. Der coronabedingte Rückgang des Bruttosozialprodukts ist doppelt so groß, wie in Deutschland. Und die wirklich verheerenden Folgen stehen noch aus, denn noch wird vieles mit Staatsgeld überdeckt.

Erste Anzeichen einer Rezession  

Und doch: die ersten Hotels in Paris – vor der Pandemie die meistbesuchte Stadt der Welt – schließen komplett. Ein Gang durch die Einkaufsstraßen und Passagen lässt Leerstände erkennen. Vor allem kleine Einzelhändler sind betroffen, aber auch Ketten trennen sich von weniger umsatzstarken Filialen. Die Büromieten sinken erstmals seit Ewigkeiten. Noch ist das nicht flächendeckend, aber die Anzeichen für eine bevorstehende Rezession sind deutlich zu erkennen. 

Die Pariser selbst scheinen das nicht recht wahrhaben zu wollen. Viele Restaurants sind mittags wie abends knackevoll. Eingehaltene Abstandsregeln sind dabei eher die Ausnahme. Das liegt zum einen daran, dass es schlicht zum Lebensgefühl gehört, sich nach der rentrée – der allgemeinen großen Rückkehr aus dem langen Sommerurlaub Ende August – für mehrere Wochen dichtgedrängt in den Bistros und Restaurants zu treffen, um haarklein jede Begegnung, jedes Essen ausführlichst zu besprechen. Und wer will sich schon die Laune durch den Gedanken verderben lassen, dass so jede Menge Viren verbreitet werden. Aber ein Teil der hohen Besucherfrequenz ist eben auch darin begründet, dass nicht alle Restaurants den ersten Lockdown überstanden haben.

Geringes Vertrauen ins Krisenmanagement der Regierung 

Um Vorurteilen vorzubeugen: Die Franzosen halten sich weitgehend an die Regeln, die deutlich strenger sind als in Deutschland – nur eben nicht überall. Sie machen sich Sorgen und befürworten auch mehrheitlich strenge Maßnahmen – aber ihr Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung ist geringer. Während 70 Prozent der Deutschen die Regelungen der Bundesregierung im Prinzip für gut und richtig befinden, sind das in Frankreich nur 46 Prozent !

In Paris sind Wohnungen im Durchschnitt deutlich kleiner als in deutschen Städten. Und weniger Platz bedeutet weniger Distanz. Gerade in den sozial-schwachen Vororten sind 6 und mehr Personen auf 60 Quadratmetern keine Seltenheit, sondern eher die Regel. Auch das erhöht die Ansteckungsgefahr.

Der Zentralismus ist das Problem 

Und während in Deutschland Hauptkritikpunkt der uneinheitliche Flickenteppich an Regeln ist, entzündet sich der Streit in Frankreich an deren mangelnder Flexibilität. Égalité, Gleichbehandlung siehe oben, wird lediglich zwischen Restaurants, Bistros und Cafés gefordert, weil auch letztere schließlich Frühstück und Snacks servierten. Ansonsten kann und will man weder in Marseille noch in Lille verstehen, warum in Paris auch für sie entschieden werden soll.

Das liegt an zwei Faktoren. Die öffentliche Debatte kreist eher um Haltungen und Meinungen als um Wissen. Dazu tragen auch die Medien im Land bei. Dass zum Beispiel die Infektionsrate nicht die eigentlich wichtige Zahl bei der Bekämpfung der Pandemie ist, sondern die Verdopplungszeit, spielt kaum eine Rolle. Auch nicht die Frage, ob die Entwicklung dann außer Kontrolle gerät, wenn Kontaktpersonen nicht schnell identifiziert und informiert werden können.

Eben darum gibt es kaum Einsicht in die Notwendigkeit, auch zu guten Freunden Distanz zu wahren, ob nun bei der Begrüßung mit Bises oder dem Abstand zwischen Sitzplätzen im Café. Und die eigene Adresse im Restaurant zu hinterlegen, wie es die seit heute geltenden Richtlinien ähnlich der deutschen Regelung vorschreiben, ist in einem Land eher schwer vorstellbar, das ansonsten keine Meldepflicht kennt.

Corona-Regeln werden politisch instrumentalisiert  

Zum zweiten wird die Debatte zwischen den Bürgermeisterinnen der Großstädte und der Pariser Zentralregierung immer auch politisch überlagert: Anne Hidalgo, sozialistische Stadtchefin von Paris hat jahrelang betont, nicht für Frankreichweite Wahlen zur Verfügung zu stehen, aber trotzdem ist sie nach ihrem neuerlichen Wahlsieg Hoffnungsträgerin der Linken und die „geborene“ Gegenkandidatin zum Präsident Emmanuel Macron.

Ähnliches gilt für Michèle Rubirola, die Grüne Bürgermeisterin von Marseille oder für Martine Vassal, konservative Präsidentin der Region Aix-Marseille-Provence. Schon um der Eigenständigkeit ihrer jeweiligen Parteien willen müssen die drei ihre Opposition zu den Maßnahmen der Regierung betonen. Und sie tun das auch. Der Wille zur Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg ist in Frankreich nicht immer sonderlich ausgeprägt. 

Regeln für „Alarmstufe rot“ werden alle 14 Tage überprüft

Und die Regierung gibt sich auch wahrlich nicht immer die gebotene Mühe. Weder dabei, die Verordnungen gegenüber den Menschen zu kommunizieren, noch dabei, die lokalen Mandatsträger ins Boot zu holen. Das genau aber wäre die Aufgabe von Präsident Macron und seinem Premierminister Jean Castex. Sie müssen um jeden Preis einen neuerlichen Zusammenbruch der Wirtschaft, hervorgerufen durch einen zweiten Shutdown, verhindern.

Und das geht nur mit den Bürgermeisterinnen der anderen Parteien und nicht gegen sie. Vieles Stückwerk, vom Prinzip „Versuch und Irrtum“ geprägt. Die Regeln der maximalen Alarmstufe für Paris werden zum Beispiel alle 14 Tage überprüft und gegebenenfalls verändert. Denn keine Partei und kein Politiker kann für sich in Anspruch nehmen, heute schon zu wissen, wie sich die Pandemie in den kommenden Wochen entwickeln wird. 

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