Frankreich - Kein Grund zur Sturmentwarnung

Nach dem ersten Wahlgang in Frankreich gilt ein Sieg des parteilosen Emmanuel Macron als sicher. Doch aufatmen kann Europa noch lange nicht. Die Gründe für den Aufstieg der Nationalistin Marine Le Pen bestehen nach wie vor

Der Front National ist nun die stärkste Partei in Frankreich, auch wenn Macron Präsident wird / picture alliance
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Nach dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen herrscht in Europa Erleichterung. Zu Unrecht.

Gewiss, Marine Le Pen zieht nicht als Erstplatzierte in die Stichwahl und hat kaum Chancen, gegen den Parteilosen Emmanuel Macron eine Mehrheit zusammenzubringen. Nach Menschenermessen kann die Kandidatin des Front National ihren Stimmenanteil kaum von 7,6 Millionen, ihrem Ergebnis am Sonntag, in zwei Wochen auf 18 Millionen Stimmen erhöhen.

Republikaner und Sozialisten am Boden

Das war allerdings schon vor dem ersten Wahlgang klar. Trotzdem legte die Pariser Börse am Montag stark zu, und trotzdem schreibt die selbst ernannte Stimme Deutschlands, die Bild-Zeitung, Europa könne „aufatmen“.

Wenn das so ist, dann nur kurzfristig. Tatsache ist, dass in Frankreich, der Wiege der Menschenrechte und der europäischen Idee, heute xenophobe EU- und Globalisierungsgegner den Ton vorgeben. Le Pen hat die zwei Parteien, die seit 1958 das Leben der Fünften Republik abwechselnd bestimmten – die Republikaner und die Sozialisten – auf die Ränge verwiesen. Und das geschah nicht so überraschend wie 2002, als ihr Vater Jean-Marie Le Pen in den zweiten Wahlgang vorstieß, sondern nach jahrelangem und stetigem Aufstieg des Front National zur stärksten Partei Frankreichs.

„Beunruhigende Fragilität“

Das hat seine Gründe: „Nichts von dem, das Marine Le Pen möglich gemacht hat, wurde wirklich angegriffen oder bekämpft“, kommentierte am Montag der französische Philosoph Michel Onfray. Die französische Politelite vernachlässigt nach wie vor all die Millionen von Ausgegrenzten, Arbeitslosen und Globalisierungsverlierern; und die EU hat bisher auch nicht die demokratische Antwort gefunden, die sie nach dem Brexit versprochen hatte. Denn das Gefühl, von Brüssel fremdgesteuert zu werden, haben nicht nur die Briten.

Einfach gesagt: Auch wenn Le Pen nicht in den Elysée-Palast einziehen dürfte, sind die Ursachen, die ihr und all den anderen Nationalisten in Europa soviel Auftrieb verleihen, keineswegs beseitigt. Das Pariser Linksblatt La Libération kommentierte am Montag, die von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik sei in einem Zustand „beunruhigender Fragilität“.

Leichtes Spiel für Le Pen und Co.

Das ganze Verfassungssystem beruht auf der starken Stellung des Staatspräsidenten – doch seine Legitimität wird nun von Anfang schwach sein: Der Bestplatzierte Emmanuel Macron erhielt im ersten Wahlgang nicht einmal ein Viertel der Stimmen, bedeutend weniger als vor fünf Jahren François Hollande, dessen Amtszeit ein einziger Kreuzweg war. Macron wird zudem dem Vorwurf ausgesetzt sein, den zweiten Wahlgang dank dem republikanischen Schulterschluss gegen Le Pen wie Jacques Chirac 2002 fast „automatisch“ gewonnen zu haben. Chirac war danach kaum mehr handlungsfähig.

Die „Souveränisten“, die die Unabhängigkeit Frankreichs in den Vordergrund stellen, stehen mit Len Pen und Jean-Luc Mélenchon sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite. Sie werden von Beginn an gegen den neuen Herrscher im Elysée-Palast mobilisieren. Von Seiten der Republikaner und Sozialisten, die noch monatelang mit sich selber beschäftigt sein werden, hat er nicht viel Hilfe zu erwarten. Solange die Strukturschwächen Frankreichs (Arbeitslosigkeit, Agrarkrise) und der EU (Demokratiedefizit, Euro-Widerspruch) nicht behoben sind, werden Le Pen und Konsorten leichtes Spiel haben. Nach der Wahl von Sonntag kann Europa keineswegs Sturmentwarnung geben.

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