2020 in Paris - Das Jahr von Covid und Terror

Franzosen meckern gerne. Aber dieses Jahr haben sie wirklich allen Grund dazu. Unser Frankreich-Korrespondent Kay Walter blickt zurück auf ein Jahr, das von Corona und Terror geprägt war. Und wie die Franzosen damit umgegangen sind.

Frankreich hat ein schweres Jahr von Corona und Terror hinter sich / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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2020, das ist sicher, war in Frankreich ein echtes Seuchenjahr – wenn diese flapsige Bemerkung im Angesicht der Pandemie denn erlaubt ist. Nahezu die gesamten 12 Monate gab es in tous Paris nur zwei Themen: Corona und Terror. Und das gilt nicht nur oder in erster Linie für Journalisten. Nein, es gab schlicht kein anderes Gespräch in einer Stadt, die ansonsten ausschließlich, aber dafür stundenlang über Essen, Sex, Urlaub, Liebe – die Reihenfolge variiert je nach Alter -  und la colère, die Wut auf die Politik im Allgemeinen und den Präsidenten im Speziellen redet.

Also über die Dinge, die das Leben schön und lebenswert machen. Das ist auch kein subjektives Gefühl, rund drei Viertel all meiner Texte aus dem Jahr 2020 haben sich tatsächlich mit diesen beiden Problemen beschäftigt: Corona und Terrorattentate. Selbst die Recherche- und Fotoreisen für ein Buch über die Region am Canal du Midi, ihre Menschen und ihre bewegte Geschichte wurden vollständig determiniert durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Restriktionen.

Alles ordnet sich Corona unter

Alles musste der Frage untergeordnet werden, ob und wann man selbst überhaupt reisen durfte und ob und wie Örtlichkeiten zugänglich und geöffnet waren. Heul doch, bekäme ich in meiner westfälischen Heimat zu hören. Mancher würde wahrscheinlich nur kurz den Unterarm zeigen, um anzudeuten, wie albern er solche Anstellerei findet. Wer gesund ist und Arbeit hat, soll nicht mähren. Stimmt einerseits, sollte aber auch nicht den Blick darauf verstellen, wie besonders dieses Jahr gewesen ist.

Einen kompletten lockdown hat Paris, wie der Rest Europas, das letzte Mal zum Ende des zweiten Weltkriegs erleben müssen. 2020 gibt es nun bereits den zweiten Lockdown! Wir sind im Krieg! Ganze sechs Mal hat Präsident Emmanuel Macron diesen Satz in einer einzigen Rede am 16. März gesagt, um so die Franzosen auf das erste confinement einzustellen. Von 17. März bis zum 11. Mai war Frankreich mit einem der schärfsten Regelwerke in ganz Europa belegt.

Franzosen hart getroffen

8 Wochen Ausgangssperre, lediglich eine Stunde pro Tag Freigang und das auch nur im Umkreis von einem Kilometer um die Wohnung bei Mitführen einer gültigen Erlaubnis. Maskenpflicht in allen öffentlichen Räumen, auch auf der Straße. Dazu geschlossene Restaurants, Bars, Geschäfte. Kein kleiner Café zum Frühstück, kein Pastis zum Apéro auf der Terrasse. Das Schlimmste für jeden Franzosen, kein Zusammensein mit Freunden. Selbst der Kriegsbegriff des couvre feu, des Lichtverlöschens wurde für die nächtlichen Ausgangssperren wiederbelebt.

Für Journalisten hat sich dabei noch am wenigsten geändert. Am Computer sitzen und Texte verfassen ist auch bei Ausgangssperre kein deutlich anderer Prozess. Und doch: Nicht mehr raus zu dürfen, fühlt sich nach einigen Wochen sehr seltsam an. Die Gespräche fehlen, über Nichtigkeiten wie über wichtiges. Es gibt auch weniger relevante Geschichten, wenn ein Land heruntergefahren wird und die Menschen zu Hause bleiben müssen.

Und es wird schwerer, den Wahrheitsgehalt von Stories zu überprüfen, wenn man zwar selbst zur Not auf die Straße darf, aber eben sonst niemand. Langsam bekommt man eine Idee, wie der Prozess der Selbstradikalisierung am PC ablaufen könnte. Anfang Mai eine eigentlich noch verbotene Radtour durch die leere Stadt. 25 Grad, Sommer und kaum ein Mensch unterwegs, nur ein paar versprengte Jogger, zwei alten Damen mit zu dicken Hunden, drei Halbstarke auf laut knatternden Mopeds. Plötzlich und völlig unerwartet, weil komplett verboten, steht nahe Invalides ein Eiswagen vor einem Café. Drei Sorten handgemachtes Eis, genossen sitzend (natürlich verboten) auf der schmuddeligen Bank einer Bushaltestelle: eine Offenbarung von Freiheit, liberté.

Mon Dieu! Nicht mein Restaurant

Apropos liberté: Wenn Pariser von freiem Leben sprechen – und das tun sie ständig, Themen siehe oben – dann passiert das lautstark und öffentlich im Restaurant. Grundsätzlich. Man ist nicht zu Hause, als Pariser isst man im Restaurant. Die Küche ist nicht Zentrum der Wohnung, sondern häufig eine bessere Abstellkammer, es gibt Appartements ganz ohne. Pariser gehen Essen. Ob ins Stammbistro um die Ecke oder mit Freunden einen neuen Insidertip oder Gastro-Tempel entdecken ist gleichermaßen gut, aber in jedem Fall draußen, im Resto und nicht zuhause.

Deshalb haben die Menschen an der Seine, die verordnete Schließung aller Restaurationsbetriebe und das gleichzeitige Verbot, sich draußen auf der Straße oder im Park zusammenzufinden, als persönlichen Angriff  auf ihr gesamtes Leben wahrgenommen. Parisern ihr Restaurant zu nehmen ist wie Deutschen zu sagen: sämtliche Autos werden abgeschafft und durch Tretroller ersetzt. Dementsprechend war die Stimmung.

Eine Maßnahme für die Reichen

Mit Presseausweis und gültigem Rechercheauftrag konnte man sich in gewissen Grenzen bewegen und insofern hatte man es als Korrespondent noch ausgesprochen gut. Besser als die meisten anderen zumindest. Es war auch hochspannend mutterseelenalleine auf dem Trocadéro oder den Champs Elysées zu stehen. Eine sehr exklusive Erfahrung. In anderen Jahren sagten Pariser Freunde immer, wenn sie die unfassbare Hektik, den Lärm und Stress von Paris nicht mehr aushielten, sie gingen jetzt ein Wochenende nach Berlin, um sich in der Ruhe dort zu erholen.

Das war dieses Jahr nicht nötig. Keine Touristen, kein Lärm, kaum Verkehr. Und doch: Man geht doch als Journalist nicht nach Paris, um sich zu erholen. Man lebt auch nicht in dieser wunderschönen Stadt, um dann die eigene Wohnung nicht zu verlassen. Auch in Paris wird eine Wohnung sehr klein, wenn man nicht raus kann und darf. Das hilft dann allerdings nachzuvollziehen, wieso die Menschen in den Banlieues von Paris, da wo sich 6-8 Personen ein Appartement von 50 m³ teilen müssen, im Sommer sagten, das confinement sei eine Maßnahme nur für Reiche.

Sie könnten nicht einmal die vorgeschriebenen Abstandsregeln in der Wohnung einhalten, geschweige denn aushalten, längere Zeit derart eingepfercht zu sein. Reisen in den Süden, ans Meer, das wird auch im Sommer nur eingeschränkt möglich sein, weil Corona auch dort eingeschleppt ist. Mit Maske an den Strand lässt nur bedingt Urlaubsgefühle aufkommen, selbst wenn sie direkt am Wasser abgenommen werden darf.

Ende des ersten Lockdowns

Egal. Wenigsten haben wir unsere Bars und Bistros zurück, sagen die Menschen am Nachbartisch. Es ist der 11. Mai. Das erste confinement ist aufgehoben. Das erste Bier vor meiner portugiesischen Stammkneipe. Und alle sind da, wirklich alle. Meine Frau holt mich ab, sagt: das ist viel zu eng hier, zu eng und zu gefährlich. Ja, die Tische stehen etwas weiter auseinander, man versucht Abstand zu halten. Die Stadt hat erlaubt, mehr Fläche auf den Trottoirs zu bestuhlen. Selbst Parkplätze werden für Autos gesperrt, um Raum für Tische und Stühle zu schaffen.

Aber weil alle in die Restaurants strömen, sitzen die Menschen schon nach wenigen Tagen so dicht gepackt wie eh und je. Und natürlich kommt das Virus zurück. Mit erschreckenden Zahlen. Vier Mal höher als in Deutschland. Und dann brach im September, gerade als die Menschen in Paris begannen, ein Umgehen mit der Pandemie zu finden und sich mit den Bedingungen zu arrangieren, eine erneute Terrorwelle über das Land herein.

Und dann die Terrorwelle

Drei brutale Terroranschläge innerhalb von nur 5 Wochen brachten Frankreich nahe an den Ausnahmezustand: Ein Land im Doppelschock. Als würde der nahezu zeitgleiche zweite lockdown  Menschen und Wirtschaft nicht schon schwer genug treffen, fühlte sich Frankreich vor allem von der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty in seinen Grundfesten erschüttert. Einen Mann, der Laizität erklärt und verteidigt hinterhältig zu ermorden, war mehr, als Frankreich ertragen kann.

Das hat einen spürbaren Knacks verursacht, größer als die Verunsicherung durch den sich abzeichnenden Wirtschaftseinbruch. Franzosen lieben es, über alles und jeden zu meckern. Sie sind ständig en colère, wütend und aufgeregt. Aber sie sind das gerne und lustvoll. Egal wie Ernst ein Thema ist und wie sehr man sich aufregt, das muss auch Spaß machen. Wesenskern des französischen savoir vivre sind Lebensfreude und Genuss.

Das hat einen nahezu unerschütterlichen Optimismus als Voraussetzung. 'Ich weiß zwar noch nicht wie, aber wir machen es uns auch morgen wieder schön' – ist das allgemeine Grundgefühl. Das ist schwer angeknackst.  Man sieht deutlich mehr Menschen auf den Straßen, als das nach den strengen Vorschriften seien dürfte. Man schaut aber auch immer häufiger in immer mehr miesepetrige Gesichter.

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