Flüchtlinge auf der „Aquarius“ - Das Ende der Solidarität

Wohin mit den Flüchtlingen von der „Aquarius“? Zwei Wochen vor dem EU-Gipfel haben sich Deutschland, Frankreich und Italien in der Frage zerstritten. Eine neue Allianz könnte jedoch die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin aushebeln

Wohin mit den Flüchtlingen? Die EU ist in der Frage so zerstritten wie noch nie /picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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„2015 darf sich nicht wiederholen“ –  seit Wochen wiederholen Angela Merkel und Horst Seehofer, aber auch Emmanuel Macron und Jean-Claude Juncker dieses Mantra. Chaotische Zustände wie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise vor drei Jahren wollen die EU-Politiker unbedingt vermeiden. 2019 ist Europawahl, ein neuer Flüchtlingsstreit wäre Wasser auf die Mühlen der Populisten und EU-Gegner. Also wurden die Probleme kleingeredet. 

Doch nun ist der Streit da. Merkel gegen Seehofer, Frankreich gegen Italien, Italien gegen den Rest der EU – die Kontrahenten streiten auf offener Bühne. Fast gleichzeitig ist die Lage in Berlin, Brüssel und Rom eskaliert. In Berlin spitzt sich der Machtkampf um Seehofers „Masterplan“ zu. Manche sprechen schon von einer Regierungskrise. In Brüssel sorgt das Drama um die „Aquarius“ mit 629 Flüchtlingen an Bord für Hochspannung. 

Brisante Lage vor dem EU-Gipfel

Und in Rom dreht sich alles um Frankreich. Nach der scharfen Kritik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an der Weigerung Italiens, die Menschen der „Aquarius“ aufzunehmen, bestellte die Regierung den französischen Botschafter ein. Innenminister Matteo Salvini warf Macron Heuchelei vor und sagte mehrere Termine ab. Sogar der Antrittsbesuch von Ministerpräsident Giuseppe Conte am kommenden Freitag in Paris scheint in Gefahr.

Kaum mehr als zwei Wochen vor dem entscheidenden EU-Gipfel in Brüssel ist damit eine brisante Lage entstanden. Denn ohne Deutschland, Frankreich und Italien geht in der Asyl- und Flüchtlingspolitik gar nichts. Bisher galten diese drei Länder als Garanten einer gütlichen Einigung, die den Widerstand der Viségrad-Staaten in Osteuropa brechen würden. Rom würde die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer aufnehmen, Berlin und Paris würden für die Umverteilung sorgen – so die Hoffnung.

Die EU hat noch immer keine Lösungen 

Diese Hoffnung stand schon bisher auf schwachen Füßen, denn Polen, Ungarn und andere Osteuropäer mauern. Sie lehnen eine neue Quotenregelung strikt ab. Doch nun ist auch noch der Westen zerstritten – und die EU-Kommission schaut zu. Gleich mehrfach lehnte es die EU-Behörde ab, Fragen zur neuen Flüchtlingskrise zu beantworten. Die Sprecher von Kommissionschef Juncker wollten nicht einmal sagen, ob Deutschland Asylbewerber aus anderen EU-Ländern an der Grenze abweisen darf, wie es Seehofer fordert.

Dieses Schweigen ist verräterisch. Es zeigt nicht nur, dass sich die „politische Kommission“ in Brüssel davor fürchtet, in den innerdeutschen oder französisch-italienischen Streit hineingezogen zu werden. Es zeigt auch, dass die EU-Behörde mit ihrem Latein am Ende ist. Drei Jahre nach dem offiziellen Ende der Flüchtlingskrise hat Brüssel immer noch keine Lösungen parat. Dabei hatte Kommissionschef Juncker noch vor kurzem geglaubt, den Schlüssel in der Hand zu halten.

Erst Schutz, dann Solidarität 

Es war vor einer Woche, beim Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz in Brüssel. Da fand Juncker die Formel, die den Knoten lösen sollte: Der Schutz der Außengrenzen habe absolute Priorität, erklärte der Luxemburger. Ganz im Einklang mit Kurz, der am 1. Juli den halbjährlichen EU-Vorsitz übernimmt. Erst wenn die Außengrenzen gesichert sind, so die Überlegung, könne man auch wieder über Quoten oder andere Formen der Umverteilung von Flüchtlingen sprechen.

Das klingt einleuchtend, denn es kommt den Solidaritäts-Verweigerern in Osteuropa entgegen. Sogar Österreichs Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der rechten FPÖ kann mit diesem Ansatz leben. Erst der Schutz, dann die Solidarität, so lässt sich dieser Ansatz zusammenfassen. Doch was, wenn der Schutz nicht funktioniert? Oder wenn sich jeder beim Schutz „seiner“ Grenzen selbst der nächste ist? 

Der Bumerang-Effekt

Genau dieses Problem steckt hinter der neuen Krise. Wenn Italien seine Häfen dicht macht und Deutschland seine Grenzen, dann kommt es schnell wieder zu jenem Bumerang-Effekt, der schon 2015 kaum beherrschbar war. Dann werden Flüchtlinge von Land zu Land „durchgereicht“, bis sie am Ziel sind. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass Deutschland heute nicht mehr als finale Destination zur Verfügung steht, Frankreich offenbar auch nicht.

Kanzlerin Merkel setzt deshalb – ähnlich wie 2015 – auf eine „europäische Lösung“. Damals hoffte sie auf eine „Koalition der Willigen“, die jedoch trotz mehrfacher Krisensitzungen nicht zustande kam. Wie heute eine „europäische Lösung“ aussehen könnte, ist rätselhaft. Die EU-Politiker in Brüssel haben alles versucht – und nichts gefunden.

Bulgarien reicht das Problem an Österreich weiter

Die bulgarische Ratspräsidentschaft schlug zuletzt ein dreistufiges Kompromissmodell vor, das bei besonders starkem Zustrom von Flüchtlingen eine verpflichtende Umverteilung vorsieht. Die Hälfte aller zugewiesenen Schutzsuchenden könnte ein Land dann noch durch andere Beiträge – etwa Extrazahlungen – abwenden. Doch selbst dieser Kompromiss ist beim letzten Treffen der EU-Innenminister durchgefallen.

Bulgarien dürfte das Problem nun an Österreich weiterreichen, das im Juli den Ratsvorsitz übernimmt. Bundeskanzler Kurz spricht auch wieder von einer „Koalition der Willigen“. Allerdings geht es diesmal nicht mehr, wie noch 2015, um eine Aufnahme von Flüchtlingen innerhalb der EU, sondern um Flüchtlinge von außerhalb, etwa aus Nordafrika. Und von einer Flüchtlingsquote spricht er gleich gar nicht mehr. Die Solidarität ist weg, sie ist einfach kein Thema mehr. 

Seehofer schmiedet eine neue Allianz 

Eine Verständigung scheint derzeit nur noch zwischen den Hardlinern möglich. So haben Bundesinnenminister Seehofer und Sebastian Kurz eine enge Zusammenarbeit beim Schutz der Außengrenzen vereinbart. Auch mit seinem italienischen Amtskollegen Salvini steht Seehofer schon in Kontakt. Wenn die drei es darauf anlegen, könnten sie die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin gemeinsam aushebeln. 

Sie könnten aber auch eine Gegenreaktion auslösen. Das hofft man zumindest in Brüssel. Wenn Merkel sich mit Seehofer arrangiert und Macron seine harte Haltung lockert und endlich auch Flüchtlinge aus Italien aufnimmt, könnte doch noch Bewegung in die festgefahrenen Fronten kommen. Viel mehr als eine vage Hoffnung ist es aber nicht. 

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