Europäischer Gerichtshof - Der Richterfürst

Koen Lenaerts führt den EuGH mit juristischer Brillanz. Im Ringen mit Polens Regierung um den Vorrang des EU-Rechts ist jedoch vor allem sein politischer Instinkt gefordert. Denn letztlich ist die Frage, wie frei die einzelnen Mitgliedstaaten gegenüber Brüssel sind, eine politische, keine juristische Angelegenheit.

Koen Lenaerts ist der erfahrenste Richter am EuGH / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Oliver Grimm ist Brüssel-Korrespondent für die österreichische Zeitung Die Presse.

So erreichen Sie Oliver Grimm:

Anzeige

Wer meint, der Gerichtshof der EU habe zu viel Macht, darf den französischen Grünen grollen. Die klagten Mitte der achtziger Jahre nämlich gegen die Regeln für die Erstattung der Kosten des Europawahlkampfs 1984. Am 23. April 1986 gab der Gerichtshof ihnen recht. Grundtenor des Urteils: Der Hof habe das letzte Wort darüber, ob das, was Kommission, Rat, Parlament und die Mitgliedstaaten tun, im Einklang mit dem Gründungsvertrag steht.

Das Urteil verfasste der belgische Richter René Joliet. Unter seinen Mitarbeitern: der junge Flame Koen Lenaerts aus der 26.000-Einwohner-Stadt Mortsel bei Antwerpen. Lenaerts war der Erste in seiner Familie, der studieren konnte. Er sollte diese Chance mit beiden Händen entschlossen packen: Abschluss in Leuven mit 23, Master of Laws in Harvard mit 24, Master of Public Administration ebendort mit 25, Professur in Leuven mit 29.

Seine spannendste Amtszeit

Zum Zeitpunkt des Urteils in der Sache „Les Verts“ 1986 war er nicht mehr am Hof – allerdings nur wegen eines kurzen Intermezzos als Anwalt in Brüssel. 1989 kehrte er nach Luxemburg zurück, wurde einer der ersten Richter am neu geschaffenen Gericht erster Instanz. Seither hat er die golden glänzenden Turmriegel des Gerichtshofs auf dem Plateau Kirchberg nicht mehr verlassen. „Dieser Mann ist seit 30 Jahren in Luxemburg“, sagt einer, der Lenaerts aus gemeinsamen akademischen Erfahrungen kennt, gegenüber Cicero. „Ich kenne niemanden, der so lange am Gericht war. Kein anderer Richter hat seine Erfahrung.“

Seit 2015 steht der verheiratete Vater von sechs Töchtern dem Gerichtshof vor. Am 8. Oktober wurde er von seinen 26 Kollegen für eine dritte Amtszeit wiedergewählt. Es dürfte seine bisher heißeste werden. Polens Regierung verneint kraft ihres mit Parteigängern ausstaffierten Verfassungstribunals offen den Vorrang des Unionsrechts. „Ich glaube, es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass das Überleben des europäischen Projekts in seiner gegenwärtigen Form auf dem Spiel steht“, warnte Lenaerts am 4. November in einer Rede.

Maria Berger, frühere österreichische Justizministerin und Europaabgeordnete sowie von 2009 bis 2019 Richterin am EuGH, teilt diese Sorge: „Wenn sich die Idee durchsetzt, dass das Unionsrecht nicht viel mehr ist als eine unverbindliche Empfehlung, dann ist das das Ende der EU.“ Sie bestätigt jenen Eindruck, den man im Gespräch mit Weggefährten von Lenaerts stets hört: „Er ist sehr freundlich, sehr kompetent, hat eine schnelle Auffassungsgabe. Er kennt unzählige Geschäftszahlen aus den sechziger und siebziger Jahren auswendig. Er ersetzt jedes Archiv, jede Datenbank.“ Eine „wandelnde Enzyklopädie des Europarechts“ nennt ihn der akademische Bekannte, der ihn als „sehr charismatisch, extrem scharfsinnig und mit unglaublich gutem Gedächtnis“ charakterisiert.

Wink nach Polen

Fragt man Lenaerts nach seinem wichtigsten Urteil, nennt er zwei aus dem Jahr 2018: eines die portugiesische Richtervereinigung betreffend, in dem der Hof präzisierte, dass die Organisation des Justizsystems zwar Sache der Mitgliedstaaten sei, dass aber alle nationalen Gerichte, die auch über EU-Recht urteilen, Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter gewähren müssen. Dies ist Lenaerts erster Wink mit dem Zaunpfahl an Polen.

Der zweite ist das Urteil Wightman, als der EuGH im Zuge des Brexit festhielt, dass die Mitgliedschaft in der EU freiwillig ist – und damit die Akzeptanz aller Rechte und Pflichten, welche ihr innewohnen. Auch dies eine unmissverständliche Botschaft an Warschau, wo bisweilen so getan wird, als sei man 2004 gegen den Willen des Volkes in die Union gezwungen worden.

Politik oder Justiz?

Für das Ringen mit Polen muss Lenaerts allerdings auf eine Qualität zurückgreifen, die ihm auch Kritik beschert hat. „Ich habe höchste Achtung vor seinen juristischen Qualitäten  – aber er ist ein unglaublicher Karrierist. Er ist nebenbei ein Politiker“, sagt einer, der Lenaerts ebenfalls seit Jahrzehnten kennt. „Es ist vernünftig, dass es an erster Stelle eine Frage des politischen Drucks sein soll, wenn es darum geht, dass die Staaten die Verträge, die sie verhandelt haben, einhalten sollen“, stellte Lenaerts selbst im Februar 2016 bei einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse fest.

Anders gesagt: Die Frage der Freiheit der Richter Polens ist eine politische, keine juristische Angelegenheit. Die Regierungen, die Kommission seien hier gefragt. Ist er jetzt also der richtige Präsident? „Man könnte sich keinen erfahreneren Mann in dieser Position vorstellen. Er hat ein gutes Gespür für die politischen Kräfte, die am Werk sind“, so der akademische Bekannte. Der Hof sei bei ihm in guten Händen. „Aber es wäre nicht gut, wenn er ausschließlich in den Händen einer Person wäre.“

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige