Europäische Union - Nur Deutschland kann die EU retten

Kurz vor dem EU-Gipfel in Brüssel hat die Europäische Kommission ein Weißbuch zu ihrer aktuellen Verfassung veröffentlicht. Die Krise ist offensichtlich, heraus kommen die 27 Staaten aber nur gemeinsam. Dafür braucht es eine verlässliche Führung

Deutschland kommt um eine Führungsrolle nicht herum, weil derzeit keine andere Kraft die EU zusammenhalten kann / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Die Europäische Union befindet sich in einer existentiellen Krise. Sie kann in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ihre eigene Integrationsdynamik, die Konsequenzen einer gemeinsamen Währung, nicht bewältigen. Sie hadert damit, gemeinsame Gefahren von außen zu erkennen, und kann deshalb gegenüber den nordafrikanischen Staaten oder Russland keine gemeinsamen Bedrohungswahrnehmungen ausbilden und Reaktionen vereinbaren. Sie ist im Innern zerstritten in unterschiedliche Fraktionen, die jeweils eigene, aber keine gemeinsamen Zwecke verfolgen. Im Süden betrifft das die lockere Geldpolitik, im Osten die Restauration nationaler Tendenzen.

Einen Grundkonsens gibt es nicht

Die Krise wird sich in den nächsten Jahren absehbar vertiefen. Die ordnungspolitischen Fragen nach der demokratischen Entwicklung der Mitgliedstaaten und der EU selbst werden keine gemeinsame und einheitliche Antwort finden. Im Gegenteil. Der demokratische Grundkonsens hat sich partiell bereits aufgelöst. Die unterschiedlichen Interessen auf verschiedenen Politikfeldern – von der Wirtschafts- bis zur Flüchtlingspolitik – werden keinen einheitlichen konzeptionellen Fluchtpunkt finden, an dem sie sich vereinbaren lassen. Und von außen wird die EU gleich drei Spaltungsbestrebungen gegenüberstehen: von Russland, das mit dem Auseinandertreiben der EU seinen regionalpolitischen Einfluss zu steigern versucht; von Großbritannien, das in den Brexit-Verhandlungen geradezu gezwungen ist, die Mitgliedstaaten von einander zu entfernen, und von den USA, die ihre wirtschaftlichen Interessen durch eine Schwächung der EU vorantreiben wollen.

In dieser Lage stellt die EU-Kommission ein Weißbuch zur Zukunft Europas vor, das den Blick bis ins Jahr 2025 richten soll. Im ersten Teil wird anschaulich skizziert, vor welchen Herausforderungen eine schrumpfende und alternde EU im internationalen Wettbewerb steht. „Die Kluft zwischen Versprechen und Realität“, wie es die Kommission nennt, stellt die EU vor die Herausforderung  sich, wie es Autor Thomas Schmid formuliert hat, klug rundzuerneuern. Davon ist die Kommission Lichtjahre entfernt.

Dringende Debatte über Europas Zukunft

Die fünf Szenarien, die das Weißbuch offeriert, sind weder neu, noch taugen sie für eine dringende Debatte über die Zukunft der EU. Anstatt Begeisterung oder Kritik rufen sie nur Mitleid hervor. Denn es wurde noch nicht einmal die Frage gestellt, warum die Kommission erst nach dem Brexit-Votum mit der Idee aufschlägt, eine Vielzahl von Ausnahmen im Integrationsbündnis zuzulassen. Der Kommissionspräsident fürchtet aus den Brexit-Verhandlungen einen schweren Schaden für die 27 EU-Staaten. Erst jetzt?

Das ist tragisch in einer Lage, in der sich die USA von ihrer Unterstützerrolle des europäischen Einigungsprozesses verabschieden, Großbritannien hingegen auf seinem Weg aus der EU hingegen unterstützen möchten. US-Präsident Donald Trump hatte den Brexit als „großartige Sache“ bezeichnet und die EU als wichtigen Faktor im unfairen wirtschaftlichen Wettbewerb charakterisiert, denn sie sei gegründet worden, „um die Vereinigten Staaten im Handel zu schlagen“.

USA ziehen sich zurück

US-Vizepräsident Mike Pence erklärte hingegen – und das nach bangem Warten in Brüssel – „dass die Vereinigten Staaten sich der weiteren Zusammenarbeit und Partnerschaft mit der EU verpflichtet fühlen“. Das gemeinsame Erbe und die gemeinsamen Ziele, „Frieden und Wohlstand durch Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu fördern“ würden beide Seiten verbinden. Vor dem Hintergrund des Machtwechseles im Weißen Haus und der tiefreichenden Irritationen war dies das geringste, was gesagt werden konnte, ohne einen Eklat zu provozieren.

Ist damit ausgeräumt, dass Präsident Trump zuvor äußerte, ihm sei der Fortbestand der EU egal? Trump hat damit ausgedrückt, was in breiten republikanischen Kreisen gedacht wird. Gouverneur John Kasich – den viele in der EU weitaus lieber im Oval Office gesehen hätten – erklärte in einem Interview mit dem Handelsblatt auf die Frage, ob die Einigung Europas nicht mehr im amerikanischen Interesse liege: „Ich weiß ehrlich nicht, wofür die EU steht. Das ist wie ein kleiner Klub für Europa.“ Später gab er noch zu bedenken: „Wer für die Nato ist, muss nicht für die EU sein.“ In den nächsten vier Jahren wird es keine Integrationsunterstützung aus Washington geben.

Rückbesinnung auf eigene Initiative

Im Gegenteil. Noch immer ist als US-amerikanischer Botschafter in der EU Ted Malloch vorgesehen, obwohl harsche Kritik aus Brüssel davor warnte. Denn Malloch versprach, die EU zähmen zu helfen und wies darauf hin, dass es für die USA vorteilhafter sei, mit den einzelnen europäischen Staaten direkt zu verhandeln. Deshalb kündigte er richtungsweisende Veränderungen im Verhältnis zwischen den USA und der EU an. Rechtspopulistische Parteien in Europa werden seit geraumer Zeit von amerikanischen Spendern unterstützt, die für ihr Geld einen nationalistischen und kulturkämpferischen Kurs erwarten.

Wenn die beiden bisherigen Hauptantriebkräfte der EU – die USA und der Prozess der fortdauernden Institutionalisierung – ausfallen, bleibt nur die Initiative der Mitgliedstaaten. Hier kommt der deutschen Europapolitik eine besonders wichtige Aufgabe zu. Denn sie muss eine führende Position – am besten mit anderen, im Zweifel auch alleine – übernehmen. Anders als vielfach festgestellt hat, Deutschland das bisher nicht getan. 

Selbstdistanzierung muss aufgegeben werden

Das aber setzt voraus, dass die Selbstdistanzierung aufgegeben wird. Wenn es in der Debatte darum geht „ob Deutschland es mit seinen engsten Partnern versteht, eine politische Mitte zu schaffen und zu bewahren, aus der heraus ein gemeinsames, starkes Europa handeln kann“, wie es in mehreren politischen Texten erläuternd heißt, muss dies nun konkret werden.

Selbstverständlich mit den engsten Partnern und zum Zwecke einer starken EU. Doch daraus resultieren Fragen, vor denen man sich derzeit drückt. Wer sind die Partner in der Führung? Wer gehört folglich nicht dazu? Frankreich, Italien, Spanien, Polen? Welche sind die unbedingten Fähigkeiten, die ein Staat bieten muss? Wer stellt sie bereit? Welche politischen Prioritäten werden vereinbart und welche Interessen werden zurückgestellt?

Deutschlands Position in der EU

Deutschland kommt um eine Führungsrolle in der EU nicht herum, weil derzeit keine andere Kraft die Gemeinschaft zusammenhalten kann. Unterbleibt es, diese soziale Rolle im multilateralen Verbund einzunehmen, gibt man der Agonie des europäischen Prozesses nach.

Führung basiert auf der freiwilligen Gefolgschaft der anderen Staaten, woraus ein erheblicher Einfluss dieser Staaten resultiert. Wer Führung scheut, weil er Herrschaft ablehnt, geht fehl. Führung ist nachgerade das Gegenteil von Herrschaft: Nicht der Starke bestimmt, sondern die anderen prüfen die Vorteile seiner Führungsrolle.

Führung kann kollektiv ausgeübt werden, wenn sie sich als solche konstituieren lässt. Das ist in der EU ebenso wünschenswert, wie derzeit leider praktisch unmöglich. Auch deshalb, weil ständig unterschiedliche Konstellationen an Mitgliedstaaten – mal die Gründer, mal mit Italien, mal das Weimarer Dreieck – für diese Rolle herangezogen werden. Jene Vielfalt war in guten Zeiten sinnvoll, in den vor uns liegenden Jahren aber benötigen die EU-Mitgliedstaaten eine verlässliche Führung. Diese kollektiv auszugestalten ist eine wichtige Aufgabe deutscher Europapolitik.

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