Zukunft der EU - Mehr als Geld

Emmanuel Macron und Angela Merkel wollen bis zum Sommer einen ersten großen Entwurf für die Reform der EU vorlegen. Seit der Finanzkrise zerfällt die Solidarität der Mitgliedsländer. Gerade jetzt ist eine europäische Identität wichtiger denn je

„Die EU kann nur bestehen als Zusammenschluss von Staaten und Menschen, die sich mit sich selbst wohlfühlen“ / picture alliance
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Prof. Dr. Eckart D. Stratenschulte ist geschäftsführender Vorstand der Deutschen Nationalstiftung.
 

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Die Europäische Union ist ein Missverständnis. Es besteht in dem Denkfehler, die EU sei in allererster Linie eine wirtschaftliche Vereinigung. Der Binnenmarkt wird als Kernstück der europäischen Integration angesehen. Das stimmt und ist doch falsch. Die Europäische Union war von Beginn an ein politisches Unternehmen. Die Wirtschaft war und ist ein Instrument, die politischen Ziele zu erreichen. 

Darauf hinzuweisen heißt nicht, die wirtschaftliche Bedeutung der EU zu leugnen. Natürlich ist der Binnenmarkt für alle EU-Bürger von großer Bedeutung. Dennoch gilt: Das Herz der europäischen Integration ist er nicht. Alle wichtigen Weichenstellungen der EU waren politisch bedingt.

Keine Kritik, solange es lief

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 kam nicht aus heiterem Himmel zustande. Andere Versuche, Westeuropa zu integrieren, waren zu diesem Zeitpunkt bereits gescheitert. Es ging der EGKS darum, den Frieden nach zwei verheerenden Kriegen zu sichern und die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich zu beseitigen. Alle weiteren Integrationsschritte folgten dieser Logik: die Römischen Verträge, mit denen 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft gegründet wurden, die Süderweiterung 1981 um Griechenland und 2007 um Spanien, sowie die Osterweiterung von 2004 und 2007.

Die Europäische Gemeinschaft ist nicht auf Liebe und Vertrauen aufgebaut worden, sondern auf Hass und Misstrauen. Welcher Franzose hätte 1950 auch die Deutschen lieben sollen? Die Basis war, dass nicht ein Land die anderen dominierte – und schon gar nicht Deutschland die europäischen Partner. Diese Voraussetzung war durch ein weitgehendes Gleichgewicht zwischen West-Deutschland und Frankreich, später auch Großbritannien, gegeben, geriet aber mit der Perspektive der deutschen Wiedervereinigung ins Wanken. Die Konsequenz daraus war die Währungsunion, mit der Deutschlands wichtiges Machtmittel, die D-Mark, an die Kette des gemeinsamen Geldes gelegt wurde. 

Lange Zeit wurde das europäische Integrationsprojekt nicht hinterfragt. Wirtschaft und Währung erfüllten ihren Zweck als Klebstoff der Europäischen Union so lange, wie es ökonomisch bergauf ging. Die Finanzkrise ab 2007, der Streit um Verschuldung, Schuldentragfähigkeit und die Rettung eines Euro-Staates durch die anderen, die drastischen sozialen Folgen des Euro-Stabilitätskurses in einigen Mitgliedstaaten – all das hat diesen Kitt allerdings brüchig werden lassen. 

Versuch eines Neustarts

Zurzeit versucht die Europäische Union einen Neustart. Ein „Weiter so“ ist nicht möglich. Sie muss sich verändern und sich dabei auf ihre ideellen Grundlagen besinnen. Die Europäer müssen ihr Gefühl der Gemeinsamkeit stärken. Spätestens jetzt zeigt sich dabei, dass eine europäische Identität kein Stoff fürs Feuilleton ist, sondern eine grundlegende Notwendigkeit, wenn es darum geht, das europäische Projekt sicher im 21. Jahrhundert zu verankern.

Tatsächlich ist Identität mehr als der Gegenstand von Kaffeehausdiskussionen, sie ist die Voraussetzung für Solidarität. Die Europäische Union ist eine Solidargemeinschaft. Sie baut darauf auf, sich gegenseitig zu helfen, so wie es im Rahmen der Struktur- oder Agrarpolitik täglich geschieht. Wenn die Solidarität zerbricht, zerbricht auch die EU. 

Identität wird konstruiert und das nach einem einfachen Prinzip. Wir sind wir, weil wir anders sind als die anderen. Die Identität besitzt einen Aspekt der Inklusion, der sich auf Gemeinsamkeiten stützt, und einen der Exklusion, der sich auf Unterschiede bezieht. Daraus folgt zweierlei: Zum einen muss eine Gemeinsamkeit nicht nur vorhanden sein, sie muss auch empfunden werden. Das bedeutet andererseits, dass es zur Identitätsbildung auch eine Außenwelt geben muss, von der man sich durch seine Identität abgrenzt. Das „Wir“ schließt gleichzeitig ein und aus. Zur Konstruktion beispielsweise der deutschen Identität werden Gemeinsamkeiten herangezogen, die die individuellen Identitäten überwölben. Dabei stehen Sprache und Geschichte im Fokus. Danach folgt die deutsche Kultur: Goethe, Schiller, Heine, Hegel oder Kant zum Beispiel. Aber natürlich kennt nicht jeder diese Männer. 

„Einheit in Vielfalt“

Was in Bezug auf die deutsche Identität schon Kopfschmerzen bereitet, ist für die europäische Identität noch komplizierter. Der Wahlspruch der EU lautet: „Einheit in Vielfalt“. Etwas polemisch könnte man sagen: Was uns eint ist, dass wir nichts gemeinsam haben. Auch hier wird die gemeinsame Geschichte beschworen, die doch bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts vor allem der Versuch der gegenseitigen Ausrottung war. Schafft Auschwitz wirklich eine gemeinsame Identität zwischen Deutschen und Polen? Eine gemeinsame Sprache gibt es in Europa nicht, wenn wir vom immer weiter um sich greifenden „broken English“ absehen. Die Lebensverhältnisse sind sehr unterschiedlich, schon zwischen Nord- und Süditalien, umso mehr zwischen Dänemark und Rumänien oder Malta und Estland.

Während die europäische Identität also recht schwammig ist, wird die Identität als EU-Bürger deutlicher sichtbar. Hier ist zumindest rechtlich völlig klar, wer dazu gehört. Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die wir teilen. Dazu gehört der europäische Rechtsraum, symbolisiert auch durch die Reisefreiheit. Wir kommen mit dem Verständnis einer europäischen Identität nicht weiter, wenn wir bei dem Konstrukt der Abgrenzung verharren. Der französische Philosoph François Jullien fordert, die identitäre Abgrenzung voneinander durch das Konzept des Abstandes zu ersetzen. In diesem Konzept wird die Unterschiedlichkeit der Kulturen durchaus wahrgenommen, aber sie wird nicht zur Ausgrenzung genutzt, sondern zur Konstruktion eines größeren Gemeinsamen. 

Identität durch Diskurs

Das Ziel kann also nicht sein, Menschen zu „entbulgarisieren“ oder zu „entgermanisieren“, um sie zu europäisieren, sondern im Gegenteil: Die Europäische Union kann nur bestehen als Zusammenschluss von Staaten und Menschen, die sich mit sich selbst wohlfühlen. Menschen, die sich daher freiwillig in einen supranationalen Zusammenhang bringen, um ihre gemeinsame Zukunft zu gestalten. So ist die deutsche, bulgarische, polnische oder französische Kultur kein Gegensatz zur europäischen Kultur, sondern Bausteine derselben.

Eine gemeinsame europäische Identität lässt sich nicht bürokratisch generieren. Sie bildet sich im kritischen und kontroversen Diskurs heraus. Das konstituiert eine wichtige Aufgabe für die politische Bildung in unseren Ländern. Sie muss die Menschen darin stärken, diesen Diskurs führen zu können – besonders in Krisenzeiten. Man muss nicht alles gut und richtig finden, was in Brüssel und Straßburg entschieden wird. Genauso wenig sollte man alles, was in Europa nicht klappt, der EU in die Schuhe schieben. 

Der Wille zur Macht

Bei der EU stellt sich meist sofort die Grundsatzfrage: Wenn man eine bestimmte Politik Brüssels nicht teilt, wird dies oft in eine generelle Ablehnung der Europäischen Union umgemünzt. Dafür, dass dies nicht geschieht, ist ein Gefühl einer gemeinsamen europäischen Identität wichtig. Wir streiten über Flüchtlinge und den Euro, wir finden Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gut oder schlecht, aber wir streiten darüber. Die europäische Identität ist dabei der Rahmen, der die Union zusammenhält und die Kontroversen einhegt. Diese Identität entsteht in den Köpfen der Menschen als Gefühl der Verbundenheit. Sie motiviert Menschen, sich mit den anderen zu befassen und das Gemeinsame zu erkennen, indem man es erlebt. 

Gerade in der gegenwärtigen Situation, die sehr stark durch den Zustrom von Schutzsuchenden in die EU bestimmt wird, erodiert dieses Gefühl von Gemeinsamkeit. Vielen Politikern und ihren Gesellschaften scheint es mehr Erfolg zu bringen, sich einer gemeinsamen Lösung zu verweigern und sich buchstäblich einzumauern. Dies mag bis zum nächsten Wahltermin gelingen, gefährdet aber die Zukunft des Kontinents, der jetzt schon weltpolitisch an Bedeutung verliert.  

Der Wille zur Macht, das klingt in europäischen Ohren hässlich, ist aber die Voraussetzung dafür, internationale Politik beeinflussen zu können. Wer darauf verzichtet, kann den Artikel 21 des EU-Vertrags, der die Ziele des Auswärtigen Handels der EU beschreibt, ausradieren. Wer sie aber ernst nimmt – und hier geht es um Frieden, Demokratie, Umweltschutz und den Kampf gegen die Armut –, braucht das Gefühl der Gemeinsamkeit, um vereint handeln zu können. 

Das Wohlstandsversprechen muss gehalten werden

Natürlich kann die europäische Identität den wirtschaftlichen und politischen Erfolg der EU nicht ersetzen. Die Europäische Union muss ihr Wohlstandsversprechen gegenüber ihren Bürgern nicht nur bekräftigen, sie muss es auch umsetzen. Hohe Arbeitslosenraten, gerade unter jungen Menschen, eine sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich, versagende Rechtssysteme, die den Bürger mit Bedrohungen alleine lassen, gefährden das europäische Projekt. Das kann auch durch eine europäische Identität nicht ausgeglichen werden. Wenn alle das Gefühl hätten, auf der „Straße der Verlierer“ zu sein, wäre zwar auch das eine Gemeinsamkeit, aber keine, die zur Produktivkraft einer Zukunftsgestaltung werden kann. 

Umgekehrt gilt: Die europäische Identität ist das Gefühl, dass wir vieles gemeinsam haben und gemeinsam gestalten können, gerade weil wir die kulturelle Vielfalt nationaler Identitäten in das Projekt einbringen. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die Probleme anzupacken und dabei Kompromisse zu finden, mit denen alle nicht nur leben, sondern besser leben können.

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