Euro-2020 und Covid-2021 - Anpfiff in den Virus-Fabriken

Bei den Fußballspielen im Wembley-Stadium sind in den kommenden Tagen 60.000 Fans erlaubt. Obwohl die Delta-Variante im Vereinigten Königreich grassiert. Boris Johnson verkündete am Montag dennoch weitere Lockerungen der Covid-Maßnahmen.

Spieler und Fans aus England feiern den Sieg über die deutsche Nationalelf nach der Finalrunde des Achtelfinales / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Boris Johnson wäre nicht Boris Johnson, wenn er nicht auch für das vorläufige Ende der Covid-Maßnahmen bereits einen wohlklingenden Titel erfunden hätte: „Freiheitstag“ nennt der britische Premierminister intern den 19. Juli, an dem die Masken fallen werden. Bei seiner Pressekonferenz am Montagnachmittag kündigte er für diesen Tag ein Ende der legalen Restriktionen an, die wegen der weltweiten Corona-Pandemie über die englische Bevölkerung verhängt worden sind. Die Schotten, die über ihre Gesundheitspolitik selbst entscheiden, zeigen sich noch vorsichtiger. Johnson zeigte sich dagegen für England zuversichtlich: „Ab dem 19. Juli muss jeder für sich selbst entscheiden, ob in öffentlichen Verkehrsmitteln, Restaurants und Läden Masken getragen werden. Verpflichtend wird es nicht mehr sein.“ 

Britische Virologen halten diesen Optimismus dagegen für verfrüht. Dass Musikfestivals und Sportveranstaltungen mit großen Zuschauerzahlen wieder erlaubt sind, halten viele für vollkommen verfehlt: „Das sind Virusvarianten-Fabriken!“, warnt Regierungsberaterin Susan Michie, Direktorin des „Centre for Behaviour Change“ an der Londoner Universität UCL. Bereits bekannt ist, dass sich 1.300 schottische Fussballfans beim Spiel Schottland gegen England in Wembley am 18. Juni angesteckt hatten. Catherine, die Herzogin von Cambridge, muss sich seit Montag nach Kontakt mit einem Covid-Kranken beim Tennisturnier in Wimbledon ein paar Tage in Quarantäne aufhalten.

Zigtausende Fußballfans tummeln sich in London

Ohnehin aber haben die vollen Tribünen bei den Euro-2020-Fußballspielen längst die Glaubwürdigkeit der bisher geltenden Covid-Maßnahmen untergraben. Bei den Semi-Finals am Dienstag und Mittwoch und beim Schlussmatch am Sonntag, den 11. Juli im Wembley-Stadium in London, erlaubt die britische Regierung bereits 60.000 Zuschauer, die Tribünen sind bis zu 75 Prozent der Kapazität gefüllt. In München waren dagegen nur 14.000 Fans in der Allianz-Arena erlaubt.

Schon 2013 wurde von der UEFA beschlossen, dass Euro-2020 in verschiedenen europäischen Städten abgehalten werden sollte – ein „EURO für Europa“. Seit 2014 steht außerdem fest, dass die Semi-Finals und das Endspiel im Wembley-Stadium in London stattfinden. 

All das wurde vor der Covid-Pandemie beschlossen. Dass ausgerechnet die britische Hauptstadt so eine wichtige Rolle spielt, ist wegen der gerade hier grassierenden Delta-Variante bedenklich. Denn für die letzten Spiele wollen ja nicht nur lokale Fans nach Wembley. Es reisen auch tausende Fans von außerhalb an. Am Dienstag spielt Italien gegen Spanien, am Mittwoch England gegen Dänemark. 5.000 dänische Fans werden dazu erwartet, die Mehrheit stammt aus dem Vereinigten Königreich. Sollte die kleine Nation überraschend ins Finale einziehen, dürften zusätzlich 1.000 Fans aus Dänemark einfliegen.

Aus Dänemark, Italien und Spanien können Fußballfans aber nicht einfach einreisen. Die Briten sind derzeit immer noch besonders strikt bei den Quarantäne-Bestimmungen für Reisende aus Ländern, die, was die Inzidenz betrifft, noch nicht im grünen, also sicheren Bereich sind. Wer derzeit aus diesen Staaten ins Vereinigte Königreich einreist, muss zehn Tage in Quarantäne. Man kann sich nach fünf Tagen freitesten. Die Tests muss man vor der Einreise bei privaten Firmen kaufen. Erst ab dem 19. Juli soll die Einreise erleichtert werden.

Ende Juni hatte die UEFA noch gedroht, die letzten Euro-2020-Spiele nach Budapest zu verlegen, sollte die britische Regierung nicht zustimmen, UEFA-VIPs und Sponsoren quarantänefrei direkt ins Stadium zu lassen. Boris Johnson ist auch deshalb bemüht, der UEFA entgegenzukommen, weil Britannien sich gemeinsam mit Irland um die Abhaltung der Weltmeisterschaft bewirbt, dem 2030 FIFA World Cup.

23.818 Neuinfektionen am Sonntag

Die Delta-Variante des Coronavirus ist im Vereinigten Königreich längst die dominierende Variante der Krankheit, die auch doppelt Geimpfte oder Genesene befallen kann. Die Hälfte der britischen Bevölkerung ist inzwischen doppelt geimpft. In den allermeisten Fällen landen Erkrankte aber nicht mehr im Krankenhaus und auf der Intensivstation. Doch die Infektionen steigen drastisch – vor allem unter jenen jungen Erwachsenen, die noch nicht doppelt geimpft sind und die sozial aktiv sind. Am Sonntag wurden 23.818 neue Infektionen registriert und 15 Covid-Tote. 

Seit dem Höhepunkt der Pandemie im Januar 2021, als pro Tag 60.000 Neuinfektionen und tägliche 1.200 Tote zu beklagen waren, sind die Zahlen wegen eines harten Lockdowns und einer schnellen Impfkampagne der britischen Regierung extrem gesunken. 

Seit dem 17. Mai sind Restaurants im Vereinigten Königreich auch über die Außengastronomie hinaus wieder geöffnet. Hochzeiten finden mit bis zu dreißig Gästen statt. Kinos, Theater und Museen empfangen Besucher auf sozialer Distanz und mit Maske. Ab 19. Juli sollen auch diese Restriktionen fallen. Die Maskenpflicht bleibt nur in Krankenhäusern bestehen, sonst beruht sie auf Freiwilligkeit. Bei den libertinären Engländern war der Gesichtsschutz ohnehin nie beliebt und es kann angenommen werden, dass die Masken weitgehend aus dem öffentlichen Raum verschwinden werden. 

Corona-Regeltreue lässt schon vor Lockerungen nach

Neben Euro 2020 hat noch ein zweites Ereignis die britische Covid-Moral untergraben: Hancock 2021. Der frühere Gesundheitsminister Matt Hancock musste Ende Juni zurücktreten, als die Tageszeitung „The Sun“ ein Video publizierte, das den Minister eng umschlungen mit seiner Freundin in seinem Büro zeigte. Und zwar Anfang Mai, als er noch öffentlich dazu aufgerufen hatte, keinesfalls Menschen außerhalb des eigenen Haushaltes zu umarmen. Da sowohl Hancock als auch seine Geliebte Gina Coladangelo noch mit ihren jeweiligen Partnern zusammenlebten, war dies ein klarer Bruch der Covid-Regeln. Warum soll man sich noch an Regierungsvorgaben halten, wenn selbst der zuständige Minister die eigenen Regeln nach Lust und Laune bricht?

Deshalb hinkt die britische Regierung jetzt schon in vieler Hinsicht den Realitäten hinterher. Schon bevor Boris Johnson am Montag die Aufhebung der Covid-Restriktionen für den 19. Juli ankündigte, war beschlossen worden, dass der britische Grand Prix der Formel Eins am 18. Juli in Silverstone vor 140.000 Zuschauern stattfinden wird. 

In einem letzten Versuch, doch noch etwas Vorsicht walten zu lassen, wollte Boris Johnson bis 19. Juli keine offizielle Siegesfeier genehmigen, sollten die Engländer am Sonntag Euro-2020 gewinnen. Denn nicht nur im Stadium, auch in den Fan-Zonen stecken sich derzeit viele mit der Delta-Variante an. 

Es ist anzunehmen, dass die englischen Football-Fans sich im Falle des Falles nicht an das offizielle Verbot ihres Premiers halten und trotzdem ausgiebig feiern werden.  

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