EuGH-Urteil zur Flüchtlingspolitik - Mehr Fragen als Antworten

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs reißt alte Wunden in der Flüchtlingspolitik wieder auf. Sowohl Anhänger als auch Gegner der deutschen Grenzöffnung finden darin Bestätigung. Eigentlich lassen sich die Probleme nur politisch klären, doch im Wahlkampf besteht daran kein Interesse

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Bloß nicht zurückschauen. Bloß nicht nachfragen. Das war bisher die Devise der Bundesregierung in Berlin und der EU-Behörden in Brüssel, wenn es um die Ereignisse vom Herbst 2015 auf dem Balkan, in Österreich und in Deutschland ging. Die „Flüchtlingskrise“, wie man sie damals nannte, sollte aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt werden – als einmaliger Not- oder Sündenfall, der sich dank der seither europaweit forcierten „Sicherung der Außengrenzen“ niemals wiederholen würde. 

Wer auch nur versuchte, Analogien zu „damals“ zu ziehen, wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz mit Blick auf die neue Zuspitzung in Libyen und Italien, wurde mit Verachtung abgestraft. „Das ist doch überhaupt nicht zu vergleichen“, lautet das offizielle Verdikt.

Die gescheiterte Dublin-III-Verordnung, die überforderten Behörden, die Politik des „Durchwinkens“, aber auch die plötzliche, unilaterale Öffnung der deutschen Grenzen – und die ebenso plötzliche und bis heute andauernde Wiedereinführung von Grenzkontrollen – all das sollte kein Thema mehr sein.

EuGH-Urteil reißt alte Wunden auf

Denn es ist Wahljahr. Die Flüchtlingskanzlerin möchte keine mehr sein, Angela Merkel steht jetzt wieder für Recht und Ordnung. Und die EU in Brüssel möchte keine Krise mehr haben. Sie will der existenziellen Herausforderung, die die anhaltende Flüchtlingsbewegung darstellt, nicht mehr ins Auge sehen.

Doch nun hat das höchste EU-Gericht ein Urteil gefällt, und alle Wunden liegen wieder offen. Die Anhänger der „Willkommenskultur“ fühlen sich ebenso bestätigt wie die Hardliner in der CSU, die eine konsequente „Rückführung“ in die Erstaufnahme-Länder fordern. Der alte Streit lebt wieder auf, doch neue Antworten gibt es keine.

Was stimmt denn jetzt?

Denn das ist das Paradoxe des Urteils in der Rechtssache C‑646/16: Es wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Das fängt schon mit der Bewertung der Lage im Herbst 2015 an: Nach Ansicht der Generalanwältin Elanor Sharpston haben damals auf dem Balkan außergewöhnliche Umstände geherrscht, die eine Aussetzung der Dublin-Regeln gerechtfertigt haben. 

Doch das oberste EU-Gericht folgte dieser Auffassung nicht, im Gegenteil: Die EU-Asylregeln gelten auch in Ausnahmesituationen, urteilten die Richter. Kroatien hätte also die hunderttausend Flüchtlinge, die das Land auf ihrem Weg nach Österreich und Deutschland durchquerten, zurückhalten und die Asylberechtigung prüfen müssen. Denn so sieht es die Dublin-III-Verordnung vor: Zuständig ist das Land, in dem die Einreise in den Schengen-Raum erfolgte.

Bizarre Debatten

Dass Kroatien nie und nimmer in der Lage gewesen wäre, seinen Pflichten nach der Dublin-Verordnung nachzukommen, stört die Richter nicht. Sie urteilen über das EU-Recht, nicht über die europäische Realität im Herbst 2015. Österreich und Slowenien haben vor Gericht gesiegt; sie durften Flüchtlinge nach Kroatien zurückschieben – auch wenn dies in der Praxis nur in wenigen Einzelfällen möglich war.

Noch bizarrer mutet die Debatte über die deutsche Flüchtlingspolitik an, die sich an dem EuGH-Urteil entzündet hat. Denn Deutschland ist überhaupt nicht Gegenstand des Verfahrens. Doch zwei Passagen im Urteil heizen die deutsche Diskussion an. 

War Merkel im Unrecht?

Da ist zum einen die Aussage, dass die Weiterreise der Flüchtlinge von Kroatien nach Slowenien, Österreich und Deutschland als „illegal“ im Sinne der Dublin-III-Verordnung zu werten sei. Zwar dürfte man die Einreise aus humanitären Gründen gestatten – eine solche Sondergenehmigung gelte aber nur für das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, und nicht für das Hoheitsgebiet der übrigen Mitgliedstaaten.

War es also illegal, hunderttausenden Syrern die Weiterreise von Kroatien nach Deutschland zu erlauben? War es eine Anmaßung von Kanzlerin Merkel, die Asylbewerber in ihr Land einzuladen und eine Art exterritoriales Visum zu erteilen? Das lesen die Kritiker der Merkelschen Politik aus dem EuGH-Urteil heraus.

Oder doch nicht?

Doch dasselbe Urteil enthält auch eine Klausel, die sich zugunsten der Kanzlerin auslegen lässt. Es ist die so genannte Eintrittsklausel. Sie besagt, dass ein EU-Land Asylbewerber aus humanitären Gründen freiwillig aufnehmen darf – auch wenn es für deren Anträge eigentlich gar nicht zuständig ist. Hatte Merkel also doch recht?

Ganz so einfach, wie es sich ihre Anhänger machen, ist es sicher nicht. Denn die fragliche Klausel gestattet es laut Gerichtsurteil den EU-Staaten – in diesem Falle Deutschland – ja nur, „bei ihnen gestellte Anträge auf internationalen Schutz auch dann zu prüfen, wenn sie nach den in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sind”.

Neues Streitpotenzial

Sie bezieht sich also auf die Prüfung der Asylanträge, nicht auf die Einreise – und schon gar nicht auf die Durchreise durch andere EU-Länder wie Slowenien oder Österreich. Die Durchreise war streng genommen illegal. Jedenfalls ist sie in der Schengen-Verordnung nicht vorgesehen – genauso wenig wie die von der EU beschlossene „Umverteilung“ von Flüchtlingen.

Doch auch an dieser Stelle sorgt der Europäische Gerichtshof für Verwirrung – und für neuen Streit. Denn in einem anderen Rechtsstreit empfahl der EuGH, zwei Klagen gegen die Umverteilung von insgesamt 120.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland auf andere EU-Länder abzuweisen. Auch Ungarn und die Slowakei müssten die im September 2015 vereinbarten Flüchtlingskontingente aufnehmen, erklärte EuGH-Generalanwalt Yves Bot.

Widersprüchliche Vorgaben

Allerdings ist dies bisher nur eine Empfehlung – und kein rechtskräftiges Urteil. Das wird erst im September erwartet. Selbst wenn der EuGH der Empfehlung des Generalanwalts (wie üblich) folgen sollte, bleibt ein Widerspruch zwischen dem vom Gericht postulierten, unbedingten Gültigkeitsanspruch der Dublin-Verordnung auf der einen und der „Pflicht zur Solidarität“ auf der anderen Seite.

Denn was gilt denn nun: Die Pflicht der „Frontstaaten“ an den EU-Außengrenzen, alle Asylanträge zu bearbeiten und die Flüchtlinge entsprechend lange aufzunehmen – oder die „Pflicht zur Solidarität“? Und wie ist die von der EU beschlossene Flüchtlingsquote mit den Aussagen über Dublin und „illegalen“ Durchreisen zu vereinbaren? Passt das lange vor 2015 eingeführte Dublin-System überhaupt noch in die Zeit der weltweiten Flüchtlingsbewegungen?

Fragen lassen sich nur politisch klären

Auf dem Höhepunkt der Krise gab Kanzlerin Merkel selbst die Antwort: Nein, es passt nicht mehr. Doch heute will sie davon nichts mehr wissen. Weil sich die 28 EU-Staaten nicht auf ein neues, krisenfestes und solidarisches Asylsystem einigen konnten, soll Dublin weiter bestehen. Den Schaden haben Länder wie Griechenland oder Italien, wo zehntausende Flüchtlinge festhängen. 

Deutschland hingegen ist (wieder) fein raus. Doch die Wunden, die der deutsche Alleingang in der Flüchtlingspolitik gerissen hat, bleiben. Und die Fragen, die das höchste EU-Gericht aufgeworfen hat, dürften so schnell nicht beantwortet werden. Denn sie lassen sich letztlich nur politisch klären. Doch im Wahlkampf muss die Europapolitik schweigen, die Flüchtlingspolitik sowieso.

Bloß nicht zurückschauen, bloß nicht nachfragen, heißt die Devise. Sondern weitermachen wie bisher – bis zur nächsten Krise.

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