EU - Die Schlacht um Polen

Beim EU-Verfahren gegen die Regierung in Warschau geht es nicht nur um den Rechtsstaat. Es geht auch um die Zukunft der Union. Kann eine Spaltung noch vermieden werden?

PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski im Gespräch mit Senatssprecher Stanislaw Karczewski: Wie geht es mit Polen weiter? / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Sie haben viel versucht, um das Schlimmste zu verhindern. Schon vor der Sommerpause hatte Frans Timmermans, der mächtige Vizepräsident der Europäischen Kommission, Polen mit einem Sanktionsverfahren gedroht. Danach schwieg der niederländische Kommissar wochenlang. Fast schien es, als wolle er seine Drohung vergessen machen. Gleichzeitig startete Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Charmeoffensive. Noch am Tag, als die polnische Regierung ihre umstrittene Justizreform abschloss, gratulierte Merkel dem neuen Premierminister Mateuz Morawiecki. „Die deutsch-polnischen Beziehungen sind heute vielfältig und lebendig wie nie zuvor“, säuselte die Kanzlerin.

Gebracht hat alles nichts. Nun ist der Worst Case eingetreten: Die polnische Justiz wurde „politisiert“, die Regierungspartei PiS kann auf höchstrichterliche Entscheidungen „Einfluss nehmen“, wie Timmermans am Mittwoch in Brüssel beklagte. Damit ist genau das eingetreten, was die EU verhindern wollte – der Rechtsstaat ist in Gefahr.

Abgründe tun sich auf

Gleichzeitig hat Brüssel die schärfste Waffe gezogen und ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eingeleitet. Weil dieses Verfahren mit einem Entzug des Stimmrechts enden kann – also der Entmündigung Polens – wird es als „Nuklearoption“ bezeichnet. Ähnlich wie die Atombombe soll diese Waffe vor allem der Abschreckung dienen. Doch die Abschreckung hat versagt und der Dialog ist gegenseitigen Vorwürfen gewichen. Timmermans versuchte zwar noch, Brücken zu bauen. Er habe seine Entscheidung „schweren Herzens“ getroffen und würde sie gerne wieder rückgängig machen, sagte er. „Dies ist nicht die Nuklearoption, sondern der Versuch eines Dialogs“.

Doch in Warschau kommen diese Worte nicht mehr an, dort verschanzt man sich in der selbst gebauten Wagenburg. Sogar der polnische Präsident Andrzej Duda, der bis 2015 als Abgeordneter im Europaparlament saß, hat die EU der Lüge bezichtigt. „Viele Vertreter der europäischen Institutionen sagen Unwahrheiten über Polen. Sie lügen.“ Das Tischtuch ist zerrissen, nun tun sich Abgründe auf. Schon im Streit um die Flüchtlingspolitik hatte sich Warschau von Brüssel entfremdet. Beim EU-Gipfel vor einer Woche warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk, selbst Pole, vor einer Spaltung zwischen Ost und West. Die EU müsse ihren Kurs überdenken, wenn sie nicht Schaden nehmen wolle.

Der nationalistische Ostblock steht

Nun wirkt der Graben so tief, dass selbst ein EU-Austritt nicht mehr undenkbar scheint. Die rechtskatholische Regierung in Warschau habe die EU zum Gegner der Polen stilisiert, sagt die Politologin Renata Mienkowska in der „Zeit“. Das könne auch zu einem Abschied von Europa führen, nach dem Brexit sei ein „Polexit“ denkbar geworden. Bisher sieht es allerdings eher so aus, als habe Polen das innere Exil gewählt – und als stelle sich die Regierung in Warschau auf einen Kalten Krieg mit Brüssel ein. In diesem Szenario werden die nächsten drei Monate entscheidend sein. So lange dürfte es nämlich dauern, bis das nun eingeleitete Sanktionsverfahren Wirkung zeigt.

Bisher ist es vor allem ein symbolischer Akt, ohne konkrete Folgen. Polen steht am Pranger, muss aber sonst nicht viel fürchten. Zum Entzug des Stimmrechts wird es nicht kommen, da dafür Einstimmigkeit im Ministerrat nötig wäre und Ungarn ein Veto einlegen wird. Der neue nationalistische Ostblock steht, daran ist nicht zu rütteln. Die entscheidende Schlacht der nächsten Wochen wird woanders geschlagen: In den von Duda gescholtenen EU-Institutionen – und in der polnischen Öffentlichkeit. Die EU-Kommission wird versuchen, zunächst das (in dieser Frage durchaus willige) Europaparlament und dann die Mehrheit des EU-Ministerrats auf ihre Seite zu ziehen.

Ratspräsident Tusk als Herausforderer der PiS?

Im Rat braucht sie vier Fünftel der Mitgliedstaaten, also 22 Stimmen, um die Gefahr einer „schwerwiegenden Verletzung“ der europäischen Grundwerte feststellen zu lassen. Dies wird eine erste Bewährungsprobe - für die Kommission, aber auch für ihre Gegner. Wird Polen weitere Verbündete finden? Wie verhalten sich Tschechien oder Großbritannien? EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Vize Timmermans hoffen, dass die Mehrheit steht; Deutschland und Frankreich haben schon Unterstützung signalisiert. Sollte der erste Akt des Sanktionsverfahrens gelingen, so könnte die PiS-Regierung in Warschau nicht mehr die verfolgte Unschuld spielen, so das Kalkül in Brüssel.

Dann wäre sie allein zu Haus und müsste sich einer gestärkten, proeuropäischen Opposition stellen. Schon jetzt ist die polnische Gesellschaft tief gespalten. Nicht nur die Opposition hofft auf Europa. Auch viele Polen, die die Regierungspartei PiS gewählt haben, hängen an der EU – und sei es nur, weil sie von den Subventionen aus Brüssel profitieren. Eine Schlüsselrolle könnte Ratspräsident Tusk zukommen. Zum einen ist er es, der die Abstimmung im Ministerrat organisieren muss. Zum anderen werden dem EU-Gipfelchef neue politische Ambitionen nachgesagt: Er könnte rechtzeitig vor der nächsten polnischen Wahl 2019 nach Warschau zurückkehren und die PiS herausfordern.

Wie sieht die Zukunft der EU aus?

Doch was passiert, wenn dieser Plan nicht aufgeht? Wenn sich die – von der PiS-Regierung schikanierten – polnischen Medien endgültig gegen „Brüssel“ wenden und auch keine EU-Mehrheit für eine scharfe Rüge zustande kommt? Dann hätte sich das Sanktionsverfahren als stumpfe Waffe erwiesen. Die Kommission wäre ins eigene Messer gelaufen. Dies würde nicht nur die Spaltung zwischen Ost und West vertiefen. Es wäre auch Wasser auf die Mühlen all jener, die sich vom Modell der „inklusiven“ EU verabschieden wollen und einen „harten Kern“ oder eine „Avantgarde“ fordern. Ihr Vorreiter heißt Emmanuel Macron. Der liberale französische Staatschef fordert eine „Neugründung“ der EU – mit der Eurogruppe als Kern.

Bisher hielten Merkel und Juncker dagegen. Sie versuchen, die EU um jeden Preis zusammenzuhalten - und sei es mit finanziellen Sanktionen, also dem Entzug von EU-Hilfen. Doch wenn sie die Schlacht um Polen verlieren, dann wird die Debatte um die Zukunft der EU neu entbrennen. Dass Berlin (noch) keine neue Regierung hat, wird dann nicht mehr als Ausrede taugen.

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