EU-Ratspräsidentschaft - Wie Deutschland Europas Zukunftsfähigkeit gestalten kann

Am Mittwoch beginnt die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Die Erwartungen sind hoch, zumal Europa gerade eine nie dagewesene Krise stemmen muss. Doch führt der Kampf gegen die Folgen der Corona-Pandemie zu einer stärkeren EU?

Wird unter der deutschen Ratspräsidentschaft die EU weiter förderalisiert?
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Autoreninfo

Matthias Herdegen, Jahrgang 1957, ist Direktor an den Instituten für Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Bonn. Er studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Cambridge und war Gastprofessor unter anderem in Paris, New York und Mexiko-Stadt.

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Zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft steht für die EU viel auf dem Spiel. Die Coronakrise drängt zu einer neuen Existenzlogik der EU jenseits des Binnenmarktes und der künstlichen Beatmung der Eurozone durch stetige Geldvermehrung. Die angedachte neue Rolle der EU als Fels in der Brandung soll die Konflikte zwischen den überschuldeten, besonders von Corona getroffenen Mittelmeerstaaten, dem relativ finanzstarken „Norden“ der EU und dem Visegrad-Club überwinden.

Dieser neue Zusammenhalt kann aber nur gelingen, wenn die konkurrierenden Interessen der Mitgliedsstaaten so zum Ausgleich gebracht werden, dass das neue Handlungsformat in der ganzen EU als legitim verstanden wird. Eine solch breite Akzeptanz setzt die stimmige Verbindung von Solidarität mit Zukunftsfähigkeit voraus. Dies bedeutet auch, dass die Bilanz von Schuldenlast und von Investitionen für künftige Generationen positiv ausfallen muss. Gerade deshalb ist der vertragliche Rahmen der EU zu wahren, der die intergenerationelle Gerechtigkeit mit den Schranken für eine stetig wachsende Schuldenlast gegen die kurzfristige Befriedigung lautstark formulierter Interessen schützt.

Es geht um die Zukunftsfähigkeit der EU

Zum Selbstverständnis der EU gehört Solidarität, die von Corona besonders hart getroffene Mitgliedsstaaten zurecht anmahnen. Solidarität ist ein „Wieselwort“ im Sinn Hayeks, das ganz unterschiedliche Erwartungen und Motive bündelt, altruistische ebenso wie national-egoistische und gemeineuropäische Belange. Hierzu gehören Empathie für pandemiegeschädigte Gesellschaften, Wiederherstellung der Schuldentragfähigkeit und Sicherung eines Minimums an gleichwertigen Lebensverhältnissen in der Union.

Eine Strategie für Krisenbewältigung muss auch die gleichgerichteten und gegenläufigen Interessen der finanzstärkeren, solidaritätsgewährenden Partner definieren: Belebung der Märkte auch zugunsten der eigenen Exportprodukte und Abbau der Risiken des eigenen, in überschuldeten Ländern engagierten Finanzsektors, Grenzen der Belastbarkeit und Belastungswilligkeit der eigenen Steuerzahler. Schließlich geht es um die Zukunftsfähigkeit des gesamten europäischen Staatenverbundes mit Widerstandsfähigkeit gegen künftige Pandemien, wirksamem Klimaschutz, Energiesicherheit, leistungsfähigen Infrastrukturen und digitaler Modernisierung. Viel ist jetzt von der Zukunft Europas die Rede, aber erstaunlich wenig von den Zukunftslasten, die mit dem Geldregen auf die nächsten Generationen prasseln.

Kurzfristige Zwänge und langfristige Nöte           

Der Beistand von ESM und EZB nimmt Banken, die in einem anderen Euro-Staat engagiert sind, das Risiko eines Staatsbankrottes und einer Finanzkrise. Die Kapitalmärkte, im Vertrag von Maastricht eigentlich mit der Rolle eines Wächters und Warners bedacht, sind seit Jahren von der EZB-Politik in einen Dämmerschlaf versetzt worden.

Der Ankauf von Staatsanleihen schwankender Euroländer und die erleichterte Kreditaufnahme nützen nicht nur den einzelnen Staaten und Volkswirtschaften in unterschiedlicher Weise, sondern berühren auch innerhalb eines Landes einzelne Gruppen ganz unterschiedlich. Während die niedrig gehaltenen Zinsen den Aktionär ebenso freuen wie den Finanzminister, schrumpft das reale Sparvermögen unmerklich, aber stetig. Dieser Interessenkonflikt ist also längst innerhalb der Gesellschaften der einzelnen Staaten angekommen und wirkt sich vielleicht weit größer aus, als der Interessengegensatz von überschuldeten und solideren Staaten.

Eine seltsame Überkreuzung von Vorteilen

Finanzielle Solidarität in der EU kann also für die Bürger massive Vorteile aber auch erhebliche Einbußen bedeuten. Dies führt zu einer seltsamen Überkreuzung von Vorteilen: Die Geldvermehrung der EZB und die ESM-Hilfen nützen aus zwischenstaatlicher Sicht vor allem den ärmeren, überschuldeten Ländern im Süden der EU; aus gesellschaftlicher Sicht fördert sie die Interessen der kapitalkräftigeren Schichten, die sich auf den volatilen Aktienmärkten engagieren können, aber auch der Hypothekenschuldner. Diese Allianz ist eine von vielen Stellschrauben europäischer Politik, die aber einen transparenten Umgang im Werben um Konsens fordern, wenn – wie beim Wiederaufbaupakt – Konsens hergestellt werden soll. Für die kapitalärmeren Gruppen verlangt die Geldflut einen steuerlichen oder anderen Ausgleich etwa bei der Altersvorsorge.

Die größte Auseinandersetzung nach der Corona-Krise steht der EU noch bevor: Es geht hier um das Wieviel, Wie und Woher von finanziellem Beistand aus dem EU-Haushalt. Gestritten wird vor allem darum, ob die EU hierfür Kredite aufnehmen soll und ob die Hilfen als Kredite oder als verlorene Zuschüsse gewährt werden sollen.   

Ein gigantischer Wiederaufbaufonds

Ein 100 Milliarden schweres Programm zur Sicherung von Arbeitsplätzen (SURE) hat die EU bereits aufgelegt. Nunmehr steht neben anderen Maßnahmen ein gigantischer Wiederaufbaufonds an. Der Merkel-Macron-Plan sieht 500 Milliarden an Hilfen in Form verlorener Zuwendungen vor. Finanziert werden soll das Ganze nach französischen Vorstellungen über eine Kreditaufnahme der EU. Die deutsche Bundesregierung hat sich zunächst gegen eine Kreditaufnahme zur Gewährung von Zuschüssen gestellt, ist dann aber umgeschwenkt. Jetzt erscheint diese Kehrtwende als leuchtendes Beispiel deutsch-französischer Führungskraft.

Dabei hatte die deutsche Regierung mit ihrem ursprünglichen Widerstand die europäischen Verträge auf ihrer Seite. Denn die in den Verträgen umrissenen und nach dem Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung (Art. 5 AEV) limitierten Kompetenzen der EU ermächtigen die Union nicht zu einer erheblichen Haushaltsfinanzierung über Kredite. Außerdem verlangen die Verträge einen ausgeglichenen Haushalt (Art. 310 Abs. 1 AEUV) und verbieten damit Zuwendungen ohne Gegenrechnung. All das ließe sich auch nicht mit der Vertragsabrundungskompetenz (Art. 352 AEUV) aushebeln, die keine Zustimmung des Europäischen Parlaments voraussetzt. Denn die Vorschrift deckt eine Kreditaufnahme nicht zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung, sondern allenfalls für eng umgrenzte Vorhaben. 

Der Aufbauplan „Next Generation“

Die EU-Kommission will mit ihrem Aufbauplan „Next Generation“ noch einmal auf die deutsch-französische Initiative aufsatteln. Das Wiederaufbaupaket soll nach den Kommissionsplänen insgesamt 750 Milliarden umfassen, von denen 500 Milliarden als Zuwendungen und der Rest als Kredite vergeben werden. Auch die Kommission will das Geld über Anleihen borgen. Die EU-Anleihen sollen mit nationalen Garantien unterlegt werden. Der EU-Haushalt soll über eine Erhöhung der Eigenmittel der Union zwischen 2021 und 2027 auf 1,1 Billionen aufgestockt werden. Dazu sollen auch neue Finanzierungsquellen für die EU (etwa Steuern auf die Operationen multinationaler Unternehmen) erschlossen werden.

Diese Erhöhung der EU-Eigenmittel setzt eine vereinfachte Vertragsänderung voraus. Sie verlangt in Deutschland – auch nach dem Lissabon-Urteil – eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Art. 311 Abs. 3 AEUV). Hiermit wird ein signifikanter Teil der finanziellen Leistungskraft des Gemeinwesens zu Lasten der Gestaltungskraft des deutschen Parlaments auf Dauer abgeschöpft. Die massive Finanzierung von Zuschüssen würde die Mittelverwendung auch qualitativ nachhaltig verändern. 

Beim Wiederaufbaupaket geht es nicht einfach um die Heilung der von der Corona-Pandemie geschlagenen Wunden. Vielmehr soll die Geldflut Investitionen in die Zukunftsfähigkeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten sichern: Klimaschutz, Cybersicherheit, Digitalisierung und über allem „Resilienz“. Es ist allerdings höchst zweifelhaft ob die Fülle der durchzuwinkenden Projekte zur dauerhaften Zielerreichung führen wird. Hierfür wäre eine aufwendige Qualitätskontrolle in den Mitgliedsstaaten und der EU erforderlich. Der jetzt absehbare Verteilungsschlüssel (mit den Kriterien Bevölkerungsgröße, Wirtschaftskraft und Arbeitslosenquote in den vergangenen Jahren) lässt keine stimmige Strategie erkennen. Offenbar sollen hiervon begünstigte Staaten wie Polen für eine Zustimmung gewonnen und ein Keil in die osteuropäischen Staaten getrieben werden. Das schwächt die Legitimität und Akzeptanz des ganzen Geldsegens.

Eine verlässliche Rechtsordnung

Seit langem konkurrieren in der EU unterschiedliche Deutungen vertraglicher Regeln. Das etwa in Deutschland herrschende Verständnis der EU als „Rechtsgemeinschaft“ betont die strikte Verbindlichkeit von Pflichten der Mitgliedstaaten etwa im Bereich der Haushaltsdisziplin und die Schranken der auf die EU übertragenen Kompetenzen. Eine andere Sicht, wie sie vor allem in Italien oder Frankreich anzutreffen ist, begreift die Verträge als ein eher elastisches Regelwerk, das kreativem Umgang mit Pflichten der Mitglieder und Befugnissen der EU-Organe weiten Raum lässt.

Gegebenenfalls muss man sich nach dieser „romanischen“ Sicht eben einmal im Interesse höherer Ziele wie der Bewältigung schwieriger Notlagen über Regeln hinwegsetzen, wie eine heute als EZB-Präsidentin amtierende Finanzministerin Frankreichs einst formuliert hat.
Bei der EU als Rechtsgemeinschaft geht es um Vertrauen in den verlässlichen Bestand des einmal Vereinbarten. Legitim sind nur Entwicklungen, welche die Staaten und ihre Parlamente bei der vertraglichen Zustimmung vorausgesehen haben.

Die EU macht sich angreifbar

Das Verbiegen von Regeln erscheint so auch als Angriff auf die demokratische Legitimation der Union. Dies macht die EU für ihre Gegner angreifbar. Die demokratische Legitimation einer berechenbaren Ordnung übersehen geistreiche Betrachter aus dem Mittelmeerraum, wenn sie wie Giorgio Agamben eine regelbasierte Sicht als starren Formalismus und als Instrument einer „germanischen Dominanz“ angreifen. Dabei hat gerade die oftmals gegeißelte „Austerität“ Deutschland und andere Mitglieder überhaupt zu effektiver Solidarität in Zeiten der Krise befähigt und damit manch überschuldeten Euro-Staat vor dem Kollaps bewahrt.

Freilich hat auch Deutschlands Regierung selbst das Verständnis der EU als Rechtsgemeinschaft bisweilen beschädigt. Sie hat immer wieder die Grenzen der EU-Kompetenzen angemahnt – und ist dann eingeknickt: so bei der Bankenaufsicht durch die EZB, so beim Restrukturierungsfonds und zuletzt beim Verbot der Kreditaufnahme zur Finanzierung von Zuwendungen aus dem Wiederaufbaufonds. Das deutsche Beharren auf verbindlichen Regeln und „roten Linien“ gewinnt so Züge einer juristischen Wanderdüne; bauen lässt sich darauf nicht. Jüngst hat das Bundesverfassungsgericht der deutschen Politik bescheinigt, dass sie ihre grundgesetzliche „Integrationsverantwortung“ gegenüber der Geldvermehrung durch die EZB missachtet hat. Eine Regierung, die man bei der Einhaltung von Regeln zum Jagen tragen muss, ist kein verlässlicher Wächter über die vertraglichen Vereinbarungen.    

Großfinanzier der Zukunftsinvestitionen

Sowohl die Kreditaufnahme als auch die Zuwendungen in Höhe von einer halben Billionen Euro oder mehr verändern den Charakter und die Finalität der Union im Kern: Die EU würde zu einer Schuldengemeinschaft und zugleich zum Großfinanzier der Zukunftsinvestitionen in den Mitgliedstaaten. Verlässlicher und transparenter ist die Alternative: eine Erhöhung der Eigenmittel ohne Kreditaufnahme, die allen Bürgern eine klare Rechnung präsentiert. 

Eine Schuldenaufnahme der EU ohne vertragliche Grundlage provoziert geradezu neue Verfassungsbeschwerden wegen einer Kompetenzüberschreitung vor dem Bundesverfassungsgericht. Es wäre keine gute „Strategie“, auf ein Verrinnen der Zeit bis zu einem abschließenden Urteil zu spekulieren. Der Geldfluss könnte auch mit einer einstweiligen Anordnung versiegen. Ohne Deutschland als Hauptfinanzier wird sich auch das ambitionierteste Investitionsprogramm in heiße Luft auflösen.       

Die Metamorphose wird beschleunigt

Wollen wir allein durch die Anziehungskraft des EU-Haushalts mit einer Vergemeinschaftung eines immer größeren Anteils am Bruttoinlandsprodukt der Mitgliedstaaten eine Para-Föderalisierung Europas? Auch wer einer solchen Entwicklung positiv gegenübersteht, kann nicht wünschen, dass dies unter dem Druck einer pandemischen Krise durch die Hintertüre geschieht.  

Jedoch scheint der deutsche Finanzminister mit dem Merkel-Macron-Plan gerade eine beschleunigte Metamorphose der EU zu einem bundesstaatlichen Gebilde herbeibeschwören zu wollen, wenn er von einem „Hamilton Moment“ (in Analogie zur Übernahme der Schulden der amerikanischen Einzelstaaten durch die US-Föderation im Jahre 1790) spricht. Anders als im Falle von Alexander Hamilton gibt es eben für Europa keine Bundesverfassung und keine Vereinigten Staaten. In den USA schützt die Verfassung auch keinen Staat vor dem Bankrott.  

Verantwortung gegenüber künftigen Generationen

Wie immer man dazu steht, bedarf der Prozess einer Föderalisierung Europas über den Haushalt einer neuen demokratischen Legitimation und einer neuen vertraglichen Grundlage. Das wird dauern. Bis dahin bleibt ausreichend Raum für eine neue Rolle der EU als Krisenmanager: mit erhöhten Eigenmitteln und großzügiger Kreditvergabe zur Förderung zukunftsrelevanter Investitionen, aber nicht auf der schwankenden Grundlage geborgten Geldes.

Mit dem geplanten „Wiederaufbau“ darf die EU nicht so viel an steuerlicher Leistungskraft aus den Mitgliedstaaten herausziehen, dass der Spielraum der EU-Mitglieder zu eigener politischer Gestaltung radikal schrumpfen würde. Klima, digitale Infrastruktur, Cybersicherheit und Widerstandsfähigkeit gegen neue Pandemien sind zentrale Aufgaben, aber die Verschiebung der Mittel nach Brüssel will ebenso wohl bedacht sein wie die damit verbundenen Erwartungen an die EU. So muss auch finanzieller Spielraum für die militärische Sicherheit und das zugesagte NATO-Engagement (2%- Ziel) bleiben.

All das gehört zu einer Strategie, die sich einer unbehaglich gewordenen Weltordnung stellt. Ebenso wichtig ist die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Diese Verantwortung darf nicht beim Klimaschutz und der Digitalisierung enden. Den folgenden Generationen müssen wir durch eine beherrschbare Schuldenlast auch finanziell den Freiraum lassen, den wir heute für uns beanspruchen. 
 

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