Deutscher EU-Vorsitz - Vorsicht, toxische Mischung!

Auf der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lasten hohe Erwartungen. Dabei stehen Angela Merkel und Ursula von der Leyen nicht nur vor einem Problemberg. Sie haben auch weniger Verbündete als beim letzten deutschen EU-Vorsitz 2007.

Raus aus dem Corona-Koma: Angela Merkel und Ursula von der Leyen / dpa
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Hurra, die Deutschen kommen! Zum Start der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli freuen sich viele in Brüssel auf die nächsten sechs Monate. Kanzlerin Angela Merkel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen, so die Hoffnung bei Diplomaten und Bürokraten, können den Club der 27 Mitgliedsstaaten aus dem Corona-Koma holen und zu neuen, sicheren Ufern führen.

Nötig wär’s. Denn in den vergangenen Monaten zeigte die EU bedrohliche Lähmungserscheinungen. Das Virus der Spaltung sei wieder im Umlauf, warnte der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors im Frühjahr. Gemeint waren nicht nur die Briten, die im Januar ausgetreten waren – sondern auch die Deutschen, die wegen Corona die Grenze dicht gemacht hatten.

Hurra, die neuen Deutschen kommen!  

Von Egoismus, Nationalismus und Scheitern war die Rede, Deutschland saß auf der Anklagebank. Doch kaum drei Monate später ist all das vergessen. Merkel hat eine 180-Grad-Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vollzogen und will nun einen Wiederaufbau auf Pump – genau wie von der Leyen. Hurra, die neuen Deutschen kommen!

Doch zunächst kommen erst einmal die Probleme. Sie häufen sich zu einem riesigen, toxischen Problemberg. Bis Ende Dezember gilt es nicht nur, die Corona-Pandemie einzudämmen und den Wiederaufbau der schwer getroffenen Wirtschaft zu organisieren. Es gilt auch, ein neues Sieben-Jahres-Budget zu verabschieden, den „European Green Deal“ auf den Weg zu bringen und den Brexit abzuschließen.

Aus der Eurokrise in die Rezession

An all diesen Problemen könnten sich Merkel und von der Leyen die Zähne ausbeißen. Corona ist noch längst nicht besiegt, Virologen warnen vor einer zweiten Welle im Herbst. Der Wiederaufbau ist keine Sache von Monaten, sondern von Jahren. Auf das nächste Budget konnten sich die Staats- und Regierungschefs schon bei einem Sondergipfel im Februar nicht einigen. Und der Brexit ist eine unendliche Geschichte ohne Happy End.

Toxisch ist diese Mischung, weil sie die EU unvorbereitet trifft und weiter schwächt. Die Narben der Eurokrise sind noch nicht vollständig verheilt - da rutscht Europa schon in die nächste, vermutlich schwerste Rezession. Der Brexit ist noch nicht verdaut – da müssen sich die 27 bereits auf den nächsten Schock einstellen: den britischen Abschied vom Binnenmarkt zum Ende des Jahres.

Ein Machtwechsel in den USA garantiert keine Entspannung 

Und dann sind da noch die außenpolitischen Turbulenzen. Die erste Krise droht gleich zu Beginn der deutschen Präsidentschaft, wenn Israel wie angekündigt große Teile des Westjordanlandes annektieren könnte. Ausgerechnet auf Deutschland käme dann die Aufgabe zu, Israel in die Schranken zu weisen und die EU zusammenzuhalten. Zuletzt konnten sich die Außenminister auf nichts mehr einigen.

Die zweite Krise droht im November, mit der Präsidentschaftswahl in den USA. Falls Präsident Donald Trump wiedergewählt wird, muss man sich auf neue transatlantische Spannungen einstellen, auch und vor allem in mit Berlin. Schließlich hat sich Trump auf Merkel eingeschossen. Doch selbst ein Machtwechsel, den sich viele in Brüssel wünschen, wäre keine Garantie für Entspannung.

Problemfall China 

Zum Problem hat sich auch China entwickelt. Eigentlich wollte Merkel ihre Präsidentschaft mit einem EU-China-Gipfel krönen. Doch das für September geplante Spitzentreffen in Leipzig wurde vorerst abgeblasen – offiziell wegen Corona, in Wahrheit aber wohl wegen zunehmender Spannungen. Weder beim geplanten Investitions-Abkommen noch bei den Menschenrechten sind Fortschritte erkennbar.

In Berlin gibt man sich von all dem unbeeindruckt. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“, lautet das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft. Das soll selbstbewußt wirken, doch es klingt eher wie Pfeifen im Wald. In Wahrheit geht die EU extrem geschwächt in das „deutsche Semester“ – auch die wachsenden Spannungen in der Außenpolitik tragen zur toxischen Mischung bei.

Handeln ohne transatlantisches Sicherheitsnetz

Wie ernst die Lage ist, zeigt ein Vergleich mit 2007. Damals, bei ihrer ersten Ratspräsidentschaft, konnte sich Merkel noch auf die USA und Großbritannien verlassen. Doch dreizehn Jahre später gibt es kein transatlantisches Sicherheitsnetz mehr, die deutsch-britische Freundschaft ist erschüttert. Merkel darf schon froh sein, wenn am Ende ihres EU-Vorsitzes doch noch ein Handelsabkommen mit London steht – bisher sieht es nicht danach aus.

Doch zunächst richtet sich der Blick auf den nächsten EU-Gipfel am 17. und 18. Juli. Dort will Merkel den Gordischen Knoten durchschlagen und sowohl ihren Schuldenplan für den Wiederaufbau als auch das neue EU-Budget durchbringen. Die Hilfe des französischen Staatschefs Emmanuel Macron hat sie sich gesichert – bei einem Treffen in Meseberg sagte Macron am Montag Unterstützung zu.

Widerstand der „Sparsamen Vier“ 

Doch das eigentliche Problem sind die „Nordlichter“ – also die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich, die sich in der Gruppe der „Sparsamen Vier“ zusammen-geschlossen haben. Bis zu ihrer fiskalpolitischen Kehrt-wende hat Merkel eng mit ihnen zusammen gearbeitet. Nun muß sie ihre ehemaligen Gesinnungsgenossen davon überzeugen, einen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm zuzustimmen und Finanztransfers zu bewilligen.

Das wird nicht einfach, wie die harte Haltung von Sebastian Kurz zeigt. Der österreichische Kanzler hat sein Nein zu Transfers gerade noch einmal bekräftigt. Ob er sich seine Zustimmung für ein paar Zugeständnisse – etwa beim EU-Beitragsrabatt – abkaufen lässt, ist offen. Merkel kann an einigen Stellschrauben drehen und Kompromisse ausloten, eine Einigung erzwingen kann sie nicht.

Asylthemen rangieren unter „ferner liefen“

Das gilt auch für andere strittige Themen wie den Rechtsstaat und die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Lange galten sie als Prioritäten der deutschen Europapolitik, in der Flüchtlingsfrage hat Merkel sogar noch eine alte Rechnung mit Ungarn und Polen offen. Doch nun, da die Kanzlerin das Ruder in der EU übernimmt, sind diese alten Streitthemen plötzlich keine Prioritäten mehr. 

Sie hätten die toxische Mischung für die nächsten sechs Monate wohl noch explosiver gemacht – und wurden ans Ende der deutschen Agenda geschoben, unter „ferner liefen.“

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