EU-Gipfel - Wunsch und Wirklichkeit

Merkel und Macron scheiterten mit dem Plan, sich mit Putin an einen Tisch zu setzen. Dass der Vorstoß der beiden üble EU-Politik war, weil sie die anderen Staaten überwältigen wollten, steht außer Frage. Die EU wirkt erneut führungslos.

Die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen im Gebäude des Europäischen Rats Foto: Olivier Hoslet/dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Bundeskanzlerin Merkel nicht die Anführerin der EU ist, so wurde er im Juni 2021 vom EU-Gipfel erbracht. Zusammen mit Frankreich wollte sie durchsetzen, dass es wieder Treffen zwischen den EU-Staaten und Russland auf Leitungsebene geben sollte. Konkret: Dass man sich mit Präsident Putin an einen Tisch setzt. Als Begründung dafür, die Distanzierung nach der Annexion der Krim 2014 fallen zu lassen, wurde angeführt, auch der amerikanische Präsident Biden habe sich mit Putin getroffen.

Köstlich war der Kommentar des litauischen Präsidenten Nauseda: Die Amerikaner hätten strategische Nuklearwaffen und die Europäer Werte. Ob ein Dialog mit dem russischen Präsidenten kluge Russlandpolitik ist oder nicht, kann unterschiedlich betrachtet werden. Dass der Vorstoß von Merkel und Macron üble EU-Politik war, weil sie die anderen Staaten überwältigen wollten, steht außer Frage. Das ist das Gegenteil von Führung. So treten dominante Staaten auf. Wenn sie sich nicht durchsetzen, sind sie nicht einmal das. Und weil Deutschland und Frankreich es nicht klüger anstellen, ist die EU seit Jahren führungslos.

Sanktionen aus Selbstachtung

Als Beweis, dass die Staatengemeinschaft doch handlungsfähig sei, wurden in dieser Woche Sanktionen auf den Weg gebracht – gegen Weißrussland – und weitere angedroht – gegen Russland. Sie umfassen inzwischen, das ist bemerkenswert, auch Wirtschaftssanktionen in der Breite. Solche Sanktionen seien, schrieb vor kurzem Stefan Kornelius, bei Regelbrüchen schon aus Selbstachtung nötig, auch wenn sie ihre politischen Zwecke selten erreichten. Das ist es wert, hinterfragt zu werden.

Denn während die EU-Staaten ihren östlichen Nachbarn Verhaltensänderungen über Sanktionen abtrotzen wollen, sind drei von ihnen gerade bestrebt, die (amerikanischen) Sanktionen gegen den Iran wegzuverhandeln, weil auf diesem Weg Verhaltensänderungen nicht erreicht werden können. Die Schwere des von westlichen Normen abweichenden, devianten Verhaltens der Regierungen in Russland, Weißrussland und dem Iran kann dieses Paradoxon schwerlich erklären. Auch die Erwartung an zukünftiges Auftreten kann keine derart unterschiedlichen Entscheidungen anleiten. Noch diffuser werden die Motive, wenn China mit in den Blick genommen wird, das auf EU-Sanktionen mit aller Schärfe reagierte.

Pflege des Selbstbildes

Niemand konnte ernsthaft davon ausgehen, dass die nach der Annexion der Krim erlassenen Sanktionen zu einer geänderten Haltung Russlands führen würden. So wird auch niemand erwarten können, dass die gegen Weißrussland verhängten Wirtschaftssanktionen dazu führen, dass diese Regierung ihr Verhalten ändert. Im Gegenteil. Die Lage im Land wird steiniger, die Beziehungen zu Russland werden noch enger, der autonome Handlungsspielraum der weißrussischen Zivilgesellschaft wird restriktiver ausfallen. Das alles ist nicht beabsichtigt und wird doch sehenden Auges ausgeführt. Derartige pädagogische Außenpolitik mag das Selbstbild pflegen, interessengeleitete Außenpolitik ist es nicht.

Aber die EU hat gegenüber Russland strategische Interessen. Das erste Interesse ist, jeden Versuch Russlands zu unterbinden, die EU in Uneinigkeit zu führen und zu spalten. Das zweite Interesse besteht darin, Russland nicht zum engen Verbündeten Chinas werden zu lassen. Diese Ziele sind erreichbar, vor allem, weil sie mit der amerikanischen Interessenlage übereinstimmen. Sie sind auch nicht neu und die EU-Regierungen hätten schon jahrelang daran arbeiten können.

Frustration und Enttäuschung

Sie haben sich hingegen mit der Verwaltung des Mangels an kohärenter Außenpolitik zufriedengegeben. Eine strategisch ausgerichtete, konzeptionell durchdachte und mit Fähigkeiten unterlegte Russlandpolitik der EU-Staaten existiert deshalb bis heute nicht. Regierungschefs können das unterlassen, wenn die Bevölkerung ausreichend desinteressiert ist.

Ein dritter Zweck liegt ebenfalls im EU-Interesse. Russland sollte zu einer Demokratie transformiert werden. Doch dieser Zweck ist auf absehbare Zeit nicht zu erreichen. Die russische Regierung akzeptiert „Opposition“ nur im Rahmen der von ihr präferierten politischen Ordnung. Sanktionen helfen jedoch keinen Zentimeter weiter, dies zu ändern. Die Anziehungskraft der europäischen Gesellschaftsordnungen und Lebensweisen zu stärken, wäre hier weit eher angesagt. Magnettheorie wurde dieser Ansatz zu Beginn des Kalten Krieges genannt.

Wenn die EU-Staaten hingegen übereinkommen, die Beziehungen bei Fehlverhalten Russlands zu eskalieren, dann sollten sie vorab prüfen, ob sie dazu überhaupt befähigt sind. Denn bei keinem Akteur mit internationalem Gestaltungsanspruch fallen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander wie bei der EU. Das kann in einigen Staaten Frustrationen hervorbringen, die dem Zweck, die Einheit des Staatenbundes zu bewahren, entgegenwirken. Die russische Regierung weiß, wie sie diese Enttäuschungen zur Spaltung der EU nutzen kann.

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