EU-Flüchtlingspolitik - Der Sisyphos aus Brüssel

EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos kämpft mit seiner Migrationspolitik einen immer aussichtsloseren Kampf – neuerdings auch gegen die deutsche Regierung

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Obwohl Avramopoulos in Mitteleuropa auf Granit beißt, will er den Felsblock weiter den Hang hochrollen / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Wenn es ernst wird, dann wird Dimitris Avramopoulos nicht gefragt. Das war schon im Herbst 2015 so, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Kanzlerin Angela Merkel ließ die Migranten von Ungarn nach Deutschland ziehen, ohne sich mit dem EU-Kommissar für Migration abzustimmen. An den Folgen dieses Alleingangs knabbert Europa noch heute. Avramopoulos hat es dennoch nicht übel genommen. „Merkel hatte keine andere Wahl“, ist der 65-jährige Grieche überzeugt.

Doch nun soll Avramopoulos schon wieder einen deutschen Alleingang schlucken. Abermals wurde er nicht gefragt. Diesmal geht es nicht um die Aufnahme von Flüchtlingen, sondern um deren Rückführung. Registrierte Asylbewerber sollen nach Griechenland und Italien zurückgeschickt werden, notfalls schon an der bayerischen Grenze. Avramopoulos kann das nicht gefallen. Denn nun gerät „Schengen“ in Gefahr, das System der grenzenlosen Reisefreiheit. Berlin und Wien müssten eine gemeinsame Lösung finden, fordert der Kommissar. „Wenn Schengen zusammenbricht, dann ist dies der Anfang vom Ende Europas. Das darf nicht passieren!“ Jahrelang hat der gemäßigt-konservative Politiker für offene Grenzen gekämpft. Und nun das. Nicht nur Merkel reißt das Steuer herum. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat eine Wende vollzogen.

Ein europäischer Sisyphos

Juncker will, dass die EU Auffanglager für Bootsflüchtlinge in Afrika plant, er nennt das „regionale Ausschiffungszentren“. Damit kommt er Italien und Österreich entgegen, die auf Abschreckung und Abschottung setzen. „Wir werden doch kein Guantánamo Bay für Flüchtlinge bauen“, ärgert sich Avramopoulos. „Wir haben unsere eigenen Werte, und die müssen wir verteidigen.“ Avramopoulos aber ist kein Typ wie Horst Seehofer, der sich verdeckt oder gar offen auflehnen würde. Er ist eher so etwas wie ein europäischer Sisyphos. Ohne zu murren, schiebt er den Felsblock immer wieder den Berg hoch, von wo er gleich wieder herunterrollt.

Also versucht er den Spagat – gegen seine eigene Überzeugung, aber mit Merkel und Juncker. Nein, Gefangenenlager für Migranten werde es nicht geben, sagt er in einer Pressekonferenz. Ja, wir sind weiter an die Genfer Flüchtlingskonvention gebunden. Nein, ein Bootsticket kann kein Freifahrtschein in die EU sein. Aber ja, unser Hauptziel ist es, Leben zu retten. Man merkt an jedem Satz, wie schwer es ihm fällt, die widersprüchlichen Ziele zusammenzubringen und ein „Rollback“ in der europäischen Asylpolitik zu verhindern.

Ein Grieche in Brüssel

Dabei bringt Avramopoulos das nötige Rüstzeug mit. Nach dem Studium der Rechts- und der Politikwissenschaften in Athen wechselte er als junger Mann nach Boston und Brüssel, wo er sich auf die Arbeitsweise internationaler Organisationen spezialisierte. Auch auf Diplomatie versteht er sich; unter anderem war er als griechischer Konsul in Lüttich tätig. Nach seiner Rückkehr nach Athen war Avramopoulos einige Jahre Bürgermeister der griechischen Hauptstadt und kümmerte sich um die Aufnahme albanischer Flüchtlinge. Dann trat er in die Regierung von Kostas Karamanlis ein. Er war erst Tourismusminister, schließlich Außenminister und Verteidigungsminister. Kaum ein EU-Kommissar verfügt über mehr Regierungserfahrung.

Die Nähe zur Politik hat ihm allerdings nicht sehr geholfen. Wenige Monate nach dem Amtsantritt in Brüssel verlor seine Partei, die Nea Dimokratia, die Macht in Athen. Plötzlich stand der Kommissar ohne Rückhalt da. Die neue griechische Linksregierung geriet sofort unter massiven Druck aus der EU. Als Grieche in Brüssel zu arbeiten, war von nun an kein Vorteil mehr, sondern ein Handicap. Auch mit seinen ersten Entscheidungen zur Migrationspolitik hatte Avramopoulos wenig Fortüne: Zusammen mit seinem deutschen Generaldirektor Matthias Ruete konzipierte er ein Quotensystem zur Umverteilung von Flüchtlingen. Insgesamt 160 000 Migranten sollten auf die EU-Länder verteilt werden.

Er beißt auf Granit

Doch Ungarn stellte sich quer, auch die anderen Visegrád-Staaten wollten keine Migranten aufnehmen. Seitdem beißt Avramopoulos in Mitteleuropa auf Granit. Selbst Deutschland hat seine Quote nicht erfüllt. Am Ende wurden nur knapp 35 000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien in andere EU-Länder geschickt. Es war die größte Niederlage seiner Karriere. Avramopoulos aber glaubt weiterhin an seine Mission: „Es wurde schon einiges erreicht, und darauf müssen wir aufbauen. Wir dürfen jetzt nicht wieder alles infrage stellen oder gar rückgängig machen. Das wäre ein Desaster!“

Bei anderen würde man es Starrsinn nennen. Doch dem Sisyphos von Brüssel nimmt man es ab, dass er es ernst meint. Avramopoulos will den Felsblock weiter den Hang hochrollen.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.
















 

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