Zukunft der EU - Eine Utopie für Europa

Warum es ein Fehler war, die europäischen Institutionen als Kopfgeburten zu begründen – und was die heutigen Europäer vom Heiligen Römischen Reich lernen könnten: ein historischer Blick

Erschienen in Ausgabe
„Benötigt Europa zuerst eine Periode des Chaos, um sich an seine eigentlichen Werte zu erinnern?“ / picture alliance
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David Engels ist Professor für Römische Geschichte an der Université Libre de Bruxelles und Autor zahlreicher Bücher.

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Die tiefe Krise, in der Europa steckt, ist nicht von außen aufgezwungen, sondern hausgemacht. Es rächt sich nunmehr, was schon von Gründungsvätern wie Robert Schuman befürchtet wurde, nämlich dass ein vereintes Europa kein wirtschaftliches und technokratisches Unternehmen bleiben dürfe: „Es braucht eine Seele, eine Bewusstseinswerdung seiner historischen Wurzeln und seiner gegenwärtigen und künftigen Verpflichtungen.“ Ohne gemeinsame Identität kann es in Umbruchzeiten wie heute auch keine europäische Solidarität geben; eine solche Identität muss aber auf mehr verweisen als nur die allgemeinen Menschenrechte, sondern hat das zu berücksichtigen, was Europa und den Europäern unverwechselbar zu eigen ist: ein tief in Tradition und Geschichte verwurzeltes abendländisches Menschenbild.

Scheitert ein solches Unterfangen, bestehen nur zwei Möglichkeiten: der Zerfall in Nationalstaaten, welche daraufhin Mächten wie China, Russland, der islamischen Welt oder den USA ausgeliefert sein werden, oder aber ein bürokratischer, seelenloser Zentralismus – zwei Risiken, vor denen bereits Schuman warnte, als er schrieb: „Die (europäische) Demokratie wird christlich sein oder vergehen. Eine antichristliche Demokratie wird eine Karikatur werden, die in Tyrannis oder Anarchie zerfällt.“

Verwaltungstechnischer Sachzwang

Wie hätte also, dem Geist wie den Institutionen nach, ein solches alternatives Europa aussehen können – eine Utopie, für die ich in Anlehnung an die griechische Bezeichnung für den äußersten Westen der Welt den Begriff „Hesperialismus“ prägen möchte –, und wie könnte es eines Tages tatsächlich aussehen?

Es war ein grundlegender Fehler, die europäischen Institutionen als reine Kopfgeburten zu begründen und ihre Entwicklung durch den zutiefst unehrlichen Mechanismus der „Méthode Monnet“ steuern zu lassen, welche die Vertiefung der Integration nicht aus der Zustimmung der Bürger, sondern vielmehr aus einem ständig neu provozierten verwaltungstechnischen Sachzwang ableitete. Vorbild für ein vereinigtes Europa hätten vielmehr jene Jahrhunderte abendländischer Geschichte sein sollen, welche bereits durch die weitgehende, nach außen wie nach innen hin friedfertige und doch wehrhafte Einigung des Kontinents geprägt waren: das knappe Jahrtausend, in welchem das Heilige Römische Reich (später mit dem Zusatz „deutscher Nation“) ein von Frankreich bis Polen und von Dänemark bis Italien reichendes Gebilde in einträchtiger Vielfalt zusammenhielt; eine Erfolgsgeschichte, die auch andere Staaten wie das gewaltige polnisch-litauische Reich inspirierte und auf einer grundlegenden Überzeugung beruhte, die auch heute fruchtbar sein könnte.

Reform der parlamentarischen Vertretung

Denn während die Teilstaaten über maximale Autonomie verfügten und ihre Interessen in regelmäßigen Reichstagen miteinander abstimmten, sicherte die durch Wahlakt bestimmte Reichsspitze ausschließlich die militärische Verteidigung nach außen, die Streitschlichtung nach innen und die Gewährleistung jenes Mindestmaßes an Normen, welche für ein wirtschaftliches wie kulturelles Blühen notwendig waren. Mit einer Lebensdauer von nahezu 1000 Jahren war jenes Reich sicherlich eine der erfolgreichsten Institutionen der europäischen Geschichte, und gerade heute, wo sich viele Vorhersagen George Orwells erfüllen, dürfte die innere Vielfalt jenes Staatswesens kaum noch (wie im 19. Jahrhundert) als Negativum erscheinen, sondern vielmehr als Garant einer zunehmend bedrohten Menschlichkeit, oder, mit den Worten Karl Theodor von Dalbergs, als „ein dauerhaftes gotisches Gebäude, das eben nicht nach allen Regeln der Baukunst errichtet ist, in dem man aber sicher wohnet“.

Ein alternatives Europa würde demgemäß an die Stelle des gegenwärtigen, unkontrollierten Einigungsprozesses einen einmaligen, definitiven Verfassungsentwurf setzen. Ein solcher wäre zunächst durch eine grundlegende Reform der parlamentarischen Vertretung gekennzeichnet, in welcher das EU-Parlament das Unterhaus, der Europäische Rat aber das Oberhaus darstellen würden, welche zusammen in Anlehnung an den alten Reichstag die volle legislative Gewalt wie auch die Budgethoheit ausüben würden.

Der europäische Geist muss belebt werden

Auch würde eine solche Versammlung eine Reihe von Staatssekretären bestellen, welche an die Stelle der aufzulösenden Kommission treten und unter Berücksichtigung regelhafter Vertretung aller Mitgliedstaaten jene Aufgaben auszuüben hätten, die zur inneren wie äußeren Sicherung des Kontinents der Abstimmung bedürfen: Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Streitmacht, Organisation eines übernationalen Polizeidiensts mitsamt Schutz der Außengrenzen, Ausbau der wichtigen Infrastrukturen, rechtliche Abstimmung, Gewährleistung strategischer Ressourcen, Durchsetzung gemeinsamer Forschungsprojekte und schließlich Verwaltung der entsprechenden Finanzen.

Nur die Außenpolitik ebenso wie die Leitung einer dauerhaften Schlichtungskommission bei Streitfällen zwischen den Mitgliedstaaten wären einem von allen Bürgern gewählten Präsidenten zu übertragen, der nach dem Vorbild des alten Reichsoberhaupts das vereinigte Europa nach innen wie außen zu vertreten hätte.

Wichtiger aber als die Institutionen wäre der Geist, der sie beleben müsste, und dessen Grundwerte in einer neuen Verfassung verbindlich festgehalten werden sollten, um auch dem europäischen Gerichtshof als Maßstab zu dienen. Diese Werte sollten nicht nur die allgemeinen Menschenrechte umfassen, sondern auch die Verbundenheit des Abendlands mit dem Welt- und Menschenbild seiner tausendjährigen Vergangenheit rechtlich verankern. Die Geburt Europas verdankt sich schließlich nicht dem Jahr 1789 oder gar 1945, sondern reicht in die tiefste Vergangenheit zurück, oder, um Paul Valéry zu zitieren: „Jedes Volk und jedes Land, das romanisiert, christianisiert und der geistigen Disziplin der Griechen unterworfen wurde, ist absolut europäisch.“ Dies ist die „Leitkultur“, die zu schützen und zu pflegen ist.

Falsch verstandene Vielfalt

Europa ist mehr als die bloße Summe der Menschen, die in unseren Landen leben, sondern hat durch Sicherung eines positiven Verhältnisses zur antiken und christlichen Tradition, durch Schutz des abendländischen Familienideals und durch einen gesunden Stolz auf die Einzigartigkeit seines Erbes dem Vermächtnis der Vorfahren treu zu bleiben. Die sittliche Pflicht, sich kritisch mit den Verbrechen der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, korrespondiert mit dem Auftrag, auch der Errungenschaften und Leistungen unserer Zivilisation zu gedenken.

Nur, wenn diese Erkenntnis den Geist Europas prägt, wird es möglich sein, den gegenwärtigen Zerfall aufzuhalten, welcher daraus resultiert, dass in jedem Lebensbereich nicht mehr zwischen Regel und Ausnahme geschieden wird, sondern im Namen falsch verstandener Vielfalt jede noch so kleine Abweichung von der Norm jener Letzteren gleichgestellt wird, sodass es also nicht zur Förderung von Zusammenhalt und Kompromiss kommt, sondern vielmehr zur Fragmentierung unserer Gesellschaft und somit, früher oder später, zu Krise und Gewalt.

Eine neue Ordnung

Ist es bereits zu spät für eine solche „hesperialistische“ Besinnung auf unsere abendländischen Traditionen? Benötigt Europa, wie so viele Gesellschaften in der Weltgeschichte, zuerst eine Periode des Chaos, um sich an seine eigentlichen Werte zu erinnern? Leider ist dies nicht unwahrscheinlich. Und doch: Selbst die Aussicht auf eine Folge unsicherer „Jahre der Entscheidung“ sollte uns nicht der Pflicht entheben, an Europa zu arbeiten und schon jetzt – sei es auch nur als Utopie – ein Modell ins Auge zu fassen, welches sowohl die doppelte Gefahr von Zentralismus wie Nationalismus bannen als auch Europa endlich zu jener inneren Stärke verhelfen könnte, welche bitter nötig ist, wenn es die Herausforderungen bestehen möchte, die nicht nur von außen in Form konkurrierender Mächte, sondern auch von innen in Form von Werteverfall und Parallelgesellschaften entstanden sind.

Ist eine solche Hoffnung unrealistisch? 2019 vielleicht. Aber ist es erst einmal so weit gekommen, dass eine neue Wirtschaftskrise auch in anderen Staaten „griechische Verhältnisse“ geschaffen, dass die Unzufriedenheit der Bürger mit ihren Eliten auch außerhalb Frankreichs zu nicht abschwellenden Protesten geführt, dass politischer wie religiöser Terror das gesellschaftliche Miteinander zerrissen und dass der Kampf zwischen „Parteienkartell“ und „Populismus“ die nationalen wie die europäischen Institutionen paralysiert haben – dann, so legt die historische Erfahrung nahe, mag es nur eines kleinen Auslösers bedürfen, um aus dem Chaos eine neue Ordnung zu schaffen.

Dies ist ein Artikel aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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