Die EU und ihre Balkan-Strategie - Konflikte ohne Ende

An diesem Dienstag startet ein EU-Gipfel in Slowenien, bei dem es um die Mitgliedschaft von sechs Balkan-Ländern in der Union geht. Ursprünglich galt deren Aufnahme als sicher, doch inzwischen wächst die Skepsis. Zumal soeben ein Konflikt zwischen Serbien und Kosovo an den Rand der Eskalation geriet. Worum geht es?

Polnische Soldaten der Friedensmission im Kosovo vorige Woche auf einer Straße in der Nähe des Grenzortes Jarinje; zwischen dem Kosovo und Serbien ist es wegen einer neuen Verordnung über die Zulässigkeit von Kfz-Kennzeichen zu Spannungen gekommen / dpa
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Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Am 29. September wurde bekannt, dass die Europäische Union den sechs Balkanländern, denen ein Platz in der Union versprochen worden war, womöglich keine künftige Mitgliedschaft mehr garantieren wird. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union diskutieren denn auch von heute an bei einem Gipfel in Slowenien nicht nur über ihr Verhältnis zu den USA, sondern ebenfalls über die Beitrittsperspektive für Serbien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Albanien und Nordmazedonien. Bei dieser Gelegenheit wird sich zeigen, was Sache ist. Sollten sich die Berichte über zunehmende Skepsis hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft bestätigen, würde dies der bisherigen Balkanstrategie der EU widersprechen – zumal sich die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo auf dem tiefsten Punkt seit einem Jahrzehnt befinden.

Der Kosovo hat 2008 einseitig seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, wird aber von der Regierung in Belgrad noch immer nicht anerkannt. Die Aussicht auf einen EU-Beitritt ist praktisch der einzige Grund dafür, dass überhaupt (von der EU vermittelte) Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen geführt werden.
Seit letzter Woche haben die Nato-Friedenstruppen (bekannt als KFOR) ihre Patrouillen an der Nordgrenze des Kosovo zu Serbien verstärkt. Lokalen Medienberichten zufolge überfliegen KFOR-Hubschrauber die Grenzübergänge Brnjak und Jarinje, Gebiete im Norden des Kosovo, die hauptsächlich von ethnischen Serben bewohnt werden. Dies geschah, nachdem Serbien beschlossen hatte, seine Truppen in den Garnisonen Raska und Novi Pazar in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze zum Kosovo zu schicken und Militärflugzeuge darüber fliegen zu lassen. 

Am Wochenende zogen sich die serbischen und kosovarischen Streitkräfte aus dem Gebiet zurück, nachdem am Donnerstag in Brüssel eine Einigung erzielt worden war, und am Montag wurde der Verkehr an der Grenze wieder normalisiert. Die EU-Mission im Kosovo wird den Abzug jedoch überwachen, und die KFOR wird noch zwei Wochen lang in der Region stationiert bleiben.

Streit um Autokennzeichen

Die jüngsten Entwicklungen waren das Ergebnis von Protesten der serbischen Gemeinden im Kosovo gegen die Entscheidung der Regierung, ein zehn Jahre altes Abkommen mit Serbien über Autokennzeichen nicht mehr anzuerkennen und nur noch Nummernschilder zu akzeptieren, die mit den Buchstaben RKS (Republik Kosovo) anstelle von KS (Kosovo) beginnen, welche von den Vereinten Nationen ausgegeben und von Kosovo und Serbien anerkannt wurden. (Die Maßnahme verlangte außerdem, dass serbische Autos, die die Grenze überqueren, eine Gebühr von etwa sechs Dollar entrichten müssen). Am 20. September – dem Tag, an dem die Entscheidung in Kraft trat – schickte die Regierung in Pristina bewaffnete Polizisten an die beiden wichtigsten Grenzübergänge zu Serbien, um die Entscheidung durchzusetzen.

Da wir uns auf dem Balkan befinden, ist eine scheinbar einfache Regelung für Autokennzeichen in Wirklichkeit äußerst komplex. Die Mehrheit der serbischen Gemeinschaft im Norden des Kosovo betrachtet die Verwendung von RKS-Kennzeichen als eine Beleidigung ihrer ethnischen Identität. Aus diesem Grund bezeichnete Belgrad, der selbsternannte Beschützer der serbischen Minderheiten, die Entscheidung des Kosovo als Provokation und schickte ebenso wie Pristina bewaffnete Polizisten und gepanzerte Fahrzeuge an die Grenze.

Nach Verhandlungen am 30. September erklärten sich beide Seiten bereit, ihre Streitkräfte unter der Voraussetzung abzuziehen, dass eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der EU, Serbiens und des Kosovo gebildet wird, um eine dauerhafte Lösung für die Kennzeichenfrage zu finden. (Die Arbeitsgruppe sollte unter dem Vorsitz der EU stehen und am 2. Oktober gebildet werden – dem Tag, an dem sich sowohl die serbischen als auch die kosovarischen Streitkräfte von der Grenze zurückzogen.) Sie haben auch ein „Aufkleber-Regime“ eingeführt, bei dem ein serbisches Wappen auf Autos geklebt wird, die in den Kosovo einreisen – und so die Einreisegebühr vermieden wird.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass auf dem Balkan, einer ethnisch und religiös vielfältigen und daher stark umkämpften Region, Konflikte aufflammen. Die Wurzeln der aktuellen Spannungen liegen im Zerfall der Sowjetunion. Nach ihrem Zusammenbruch kam es zu einer Reihe von Konflikten entlang der Bruchlinien zwischen dem Westen und der Sowjetunion (und ihren verschiedenen Verbündeten). Besonders heftig waren sie auf der Balkanhalbinsel. Die westlichen Balkanstaaten, die sich jetzt um die EU-Integration bemühen, waren Teil des föderalen Staates Jugoslawien, der 1992 inmitten einer Reihe von Kriegen entlang ethnischer, nationalistischer und religiöser Linien zerbrach.

Der Konflikt zwischen dem Kosovo und Serbien ist noch nicht ausgestanden. Mehr als 20 Jahre nach der Nato-Intervention von 1999 zur Beendigung der serbischen Aggression gegen die Kosovo-Albaner und mehr als ein Jahrzehnt nach Pristinas Unabhängigkeitserklärung von 2008 betrachten Belgrad und Dutzende anderer Staaten, darunter fünf EU-Mitglieder, das Kosovo offiziell immer noch als abtrünniges Gebiet. Gleichzeitig hofft Serbien immer noch, mehr Rechte für die in Serbien lebende serbische Gemeinschaft und mehr Autorität über den Norden des Kosovo zu erlangen, in dem sich eine große Gemeinschaft ethnischer Serben und mehrere serbisch-orthodoxe religiöse Stätten befinden.

Zunehmende Distanz

Der Prozess der Nationenbildung, den das Kosovo seit Anfang der 2000er-Jahre durchlaufen hat, hat die lokalen Gemeinschaften zum Schlüssel für die Entwicklung und Stabilität des Staates gemacht. Doch der Krieg hat Narben hinterlassen, die kaum zu übersehen sind. Die Einheimischen sprechen von einer zunehmenden Distanz zwischen den ethnischen Gemeinschaften; die Dörfer werden immer homogener.

Und obwohl viele dieser Orte im Norden Kosovos innerhalb der Grenzen des Kosovo liegen, sind sie mehr mit Serbien als mit dem Kosovo verbunden. Die meisten Einheimischen gehen in Serbien zur Schule oder arbeiten dort. Aufgrund ihres Erbes und ihrer Identität haben sie die Unabhängigkeit des Kosovo nicht angenommen und lehnen die Autorität der Regierung in Pristina ab. Dies ist natürlich nicht nur im Kosovo der Fall. Auch die in der bosnisch-herzegowinischen Republika Srpska lebenden Serben sind von der serbischen Wirtschaft abhängig – der größten und am stärksten diversifizierten Wirtschaft der Region. 

Die Pandemie hat die Volkswirtschaften der westlichen Balkanländer besonders hart getroffen, was zum Teil auf ihre Abhängigkeit vom Dienstleistungssektor zurückzuführen ist. In Serbien entfallen 57 Prozent der Arbeitsplätze auf den Dienstleistungssektor; im Kosovo beschäftigt der Dienstleistungssektor mehr als 70 Prozent der Arbeitskräfte, während in Bosnien der Dienstleistungssektor von der öffentlichen Verwaltung dominiert wird, die etwa neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und mehr als 50 Prozent der Arbeitskräfte bindet. Auch in Serbien, das dank seiner Fähigkeit, Steuergelder zu mobilisieren, nur einen mäßigen Wirtschaftsabschwung verzeichnete, hat die Pandemie viele Menschen arbeitslos gemacht.

Abgesehen von seinem ethnischen und wirtschaftlichen Einfluss hält Serbien seine Macht über die serbischen Gemeinschaften durch einzigartige politische Beziehungen aufrecht. Nehmen wir zum Beispiel Bosnien. Nach dem Ende des Krieges im Jahr 1995 wurde das Land in zwei verschiedene Einheiten aufgeteilt: Die Föderation von Bosnien und Herzegowina, die zu etwa 70 Prozent von muslimischen Bosniaken bewohnt wird, und die Republika Srpska, deren Bevölkerung zu etwa 80 Prozent serbisch und christlich-orthodox ist.

Jede Entität ist autonom und hat mit der Zeit ihre eigenen Beziehungen zu den Nachbarstaaten entwickelt. Die Republika Srpska unterhält gute Beziehungen zu Belgrad, und ihr wirtschaftlicher Fortschritt und ihre Infrastruktur sind größtenteils mit der serbischen Wirtschaft verbunden. Im Gegensatz zum Nordkosovo verfügt die Republika Srpska über lokale Gesetzgebungsbefugnisse, und ihr gewählter Anführer, Milorad Dodik, hat sich serbischer nationalistischer Rhetorik bedient, um seine Wiederwahl zu sichern. Dodik hat die Idee unterstützt, dass die Republik ein Referendum über die Unabhängigkeit abhalten und damit den Weg für eine Abspaltung von Bosnien ebnen sollte. (Die Pandemie hat die diesbezüglichen Bemühungen der Organisation beeinträchtigt.) Im Hinblick auf die im nächsten Jahr anstehenden Parlamentswahlen hat Milorad Dodik die jüngsten Ereignisse an der Grenze genutzt, um Pläne für eine „Armee der Republika Srpska“ zu verkünden.

Bevorstehende Wahlen als Grund für Spannungen

In der Tat lassen sich fast alle jüngsten Spannungen in der Region auf die bevorstehenden Wahlen zurückführen. Die Kommunalwahlen im Kosovo werden am 17. Oktober abgehalten. Die derzeitige Regierung wurde im Februar vorigen Jahres eingesetzt und muss ihre Unterstützung ausbauen, um effektiv regieren zu können. Seit seiner Wahl hat sich der kosovarische Premierminister Albin Kurti kritisch zu den Verhandlungen mit Serbien geäußert – er gewann die Wahl mit dem Versprechen, den Kosovo mit Serbien gleichzustellen. Die Einführung der Kfz-Kennzeichen war also eine Art selbsterfüllende Prophezeiung – Kurti wusste, dass er damit einen Konflikt mit Serbien heraufbeschwören und die Wählerschaft des nördlichen Kosovo verprellen würde.

Sowohl die kosovarische als auch die serbische Regierung profitierten von dieser Situation, da sie sich in einer ähnlichen Lage befanden. Serbien bereitet sich auf die Parlamentswahlen im Jahr 2022 vor – die Ereignisse der vergangenen Woche ermöglichen es der derzeitigen Regierung, ihr Engagement für den Schutz der serbischen Gemeinschaft im Kosovo zu zeigen, ohne einen internationalen Konflikt zu riskieren. Das Interesse des Kosovo wiederum besteht darin, seine Grenzen zu schützen und gleichzeitig die internationale Anerkennung anzustreben.

Serbiens unmittelbares Interesse hingegen ist es, ein Gleichgewicht zwischen ausländischen Mächten herzustellen, um bestmöglich Geschäfte machen zu können und gleichzeitig den Einfluss auf die serbisch dominierten Gebiete außerhalb Serbiens zu erhöhen. Indem sie Stärke und Verhandlungsbereitschaft zeigen, können beide Regierungen im Wahlkampf der kommenden Wochen und Monate die nationalistische Karte ausspielen.

Nationalismus ist immer ein wichtiges politisches und wahltaktisches Thema auf dem Balkan – das war selbst zu Zeiten so, als eine potenzielle EU-Mitgliedschaft glaubwürdig erschien, obwohl sie nicht unmittelbar bevorstand. Aber der Nationalismus wird als politisches Instrument besser funktionieren, wenn die EU die Erweiterung der Region nicht mehr in Betracht zieht, wie es jetzt der Fall zu sein scheint. Die Spannungen werden zunehmen, insbesondere an den Grenzen. 

Und in einer Region, die tief in verschiedenen kulturellen Identitäten verwurzelt ist, können die Spannungen im Handumdrehen in Konflikte umschlagen.

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