Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ostukraine - Was will Putin im Donbass ?

Die Lage im ostukrainischen Gebiet Donbass spitzt sich zu. Russland konzentriert seine Truppen an der Grenze. Immer mehr Menschen sterben bei Kämpfen zwischen prorussisschen Separatisten und der ukrainischen Armee. Bringt sich der Kreml für einen Angriff in Stellung?

An der Front: Der ukrainische Präsident Selenskyi (links) macht sich ein Bild von der Lage an der russischen Grenze / dpa
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Denis Trubetskoy ist in Sewastopol auf der Krim aufgewachsen. Er arbeitet heute als Korrespondent für verschiedene Medien in Kiew. 

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Seit Ende März eskaliert die Lage in der Ostukraine wieder. Ab Montag bestätigte die ukrainische Armee, die seit Frühjahr 2014 in der Industrieregion Donbass gegen die von Moskau unterstützten Separatisten kämpft, bereits den Tod von zwei Soldaten. Auch am Wochenende meldete Kiew Verluste. Die OSZE spricht von einem deutlichen Anstieg der Waffenruhebrüche. Gleichzeitig kursieren Bilder, die zeigen, wie Russland im Bezirk Woronesch, 270 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, ein Feldlager aufbaut. Das vorerst von den russischen investigativen Bloggern vom Conflict Intelligence Team entdecke Lager konnte neulich vom britischen Sender Sky News aus der vergleichbaren Nähe gefilmt werden.

Beim Conflict Intelligence Team geht man von einem weiteren Lager der Russen im gleichen Bezirk aus. Aber auch darüber hinaus mehren sich die Hinweise, dass Russland längst seine Truppen an der ukrainischen Grenze konzentriert – die Ukraine spricht sogar von 40 000 Soldaten an der eigentlichen Grenze sowie von weiteren 40 000 Militärs auf der 2014 annektierten Krim-Halbinsel. Mitte März hielt Russland ein Übungsmanöver an der Grenze, zog seine Truppen danach jedoch nicht ab. Im Gegenteil: Jeden Tag gibt es im Netz zahlreiche Videos, die Bewegungen der russischen Truppen zeigen. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Ukraine, die ihre Armee im Donbass verstärkt.

Funkstille zwischen dem Kreml und der Ukraine

„Wir haben keine Absicht, dieses Problem militärisch zu lösen“, sagt der ukrainische Vizepremier Olexij Resnikow, der sich mit den besetzten Gebieten beschäftigt. „Es kann nur einen diplomatischen Weg geben. Jegliche Menschenverluste sind inakzeptabel.“ Vom Kremlsprecher Dmitrij Peskow ist zwar ebenfalls zu hören, dass die Möglichkeit eines Krieges in Moskau keinesfalls begrüßt werde. Der Kreml wirft der Ukraine aber vor, sie lasse die Situation im Donbass eskalieren. Deswegen strenge sich Russland an, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Miteinander sprechen beide Seiten offenbar nicht. Gerade beklagte die Pressesprecherin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass die Anfrage zu einem Telefonat mit seinem Amtskollegen Wladimir Putin unbeantwortet bleibe. 

Der Donbass-Krieg hat nach UN-Angaben bereits mehr als 13 000 Menschenleben gekostet. Flammt er wieder vollständig auf? Auszuschließen ist das nicht mehr. Die  Spannung ist jedenfalls spürbar. Die russischen Staatsmedien behaupten, dass es die USA seien, die Kiew in einen Krieg drängen. Selbst ein Scheitern der Ukraine und die halbwegs direkte Einmischung Russlands in den Konflikt wäre demnach für Washington eine gute Vorlage, um Sanktionen gegen Moskau zu verschärfen oder den Bau der Pipeline Nord Stream 2 im letzten Moment doch zu unterbrechen.

Die Ukraine hat sich angreifbar gemacht 

In ukrainischen Medien wird Russland für die Eskalation verantwortlich gemacht. Die Ausgangslage ist aber komplizierter. Das Minsker Friedensabkommen vom Februar 2015 konnte zwar den ganz großen Krieg stoppen und militärische Gefechte auf die 450 Kilometer lange Frontlinie zwischen dem Regierungsgebiet und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk begrenzen.

Die militärisch angeschlagene Ukraine hat jedoch damals ein  Dokument unterzeichnet, das perspektivisch ungünstig ist. Für die Reintegration der Donbasss-Gebiete in die Ukraine ist zum Beispiel die Austragung von international anerkannten Kommunalwahlen notwendig. Diese würden dem Abkommen zufolge aber auf einem Gebiet stattfinden, dass die Ukraine noch gar nicht kontrolliert. Denn die Übergabe der Kontrolle an der ukrainisch-russischen Grenze im Donbass an Kiew würde erst nach der Austragung der Wahlen stattfinden.

Russland verteilt Pässe an die Bewohner der Volksrepubliken 

Daher macht Russland kein Geheimnis daraus, dass sein eigentliche Ziel ist, die Gebiete um Donezk und Luhansk unter diesen Bedingungen an die Ukraine zurückzugeben, damit sie dort etwa mit ihren Extra-Rechten auf autonome Gerichte und eigene Volksmiliz als eine Art trojanisches Pferd fungieren. In Kiew ist verständlicherweise die Angst groß, dass die Volksrepubliken Donezk und Luhansk  dadurch legitimiert werden könnten.

Nach der Wahl des Ex-Komikers Wolodymyr Selenskyj im April 2019 zum Präsidenten war die Hoffnung auf die Normalisierung der Situation im Donbass riesig. Anders als sein Vorgänger Petro Poroschenko ist Selenskyj mit einer etwas liberaleren Rhetorik gegenüber Russland angetreten. Und tatsächlich fanden bald wieder Gefangenenaustausche zwischen Kiew und den Separatisten statt. Im Juli 2020 wurde eine erneute Waffenruhe beschlossen, die überraschend lange hielt. Doch die Erfüllung des Minsker Abkommens bleibt in der Sackgasse, und Russland fing bereits kurz nach dem Wahlsieg Selenskyjs damit an, massenhaft Pässe an die Bewohner der Volksrepubliken Donezk und Luhansk auszugeben. Mittlerweile haben mehrere Hunderttausende der Lokalbewohner einen russischen Pass.

Sanktionen gegen Putins Freund 

Der etwas naive Optimismus, mit dem Selenskyj einst angetreten ist, war also schnell weg. Zuletzt setzte der ukrainische Präsident sogar Schritte um, die selbst unter Poroschenko kaum vorstellbar wären. Unter anderem wurde der Oligarch Wiktor Medwedtschuk, die treibende Kraft hinter der wichtigsten prorussischen Partei und Oppositionsplattform und persönlicher Freund Wladimir Putins, sanktioniert.

Dies führte zur Schließung von drei wichtigen prorussischen Nachrichtensendern um Medwedtschuk, der noch vor zwei Jahren als inoffizieller Botschafter zwischen Kiew und Moskau galt. Die Sanktionen gegen Medwedtschuk wurden vom Kreml als eine Provokation wahrgenommen. Russland waren im Winter dennoch die Hände gebunden. Einerseits beschäftigte man sich mit dem Fall Nawalny. Andererseits ging der Bau von Nord Stream 2 in die Endphase – und dieses Projekt will man ausgerechnet jetzt nicht gefährden.

Nord Stream 2 als Puffer  

Nord Stream 2 ist wohl auch der Grund, warum eine direkte Einmischung Russlands im Donbass in den nächsten Monaten immer noch unwahrscheinlich bleibt. Jedoch zeigt Moskau Kiew die Rote Karten  – und auch den Preis eines möglichen Angriffes. Dieser ist der Ukraine jedoch ohnehin bekannt: Mit der von Russland unterstützten Armee der Volksrepubliken Donezk und Luhansk ist man kräftemäßig auf der Augenhöhe, gegen die reguläre russische Armee hätten die Ukrainer aber keine Chance.

Die aktuelle Zuspitzung ist trotzdem tatsächlich die Größte seit Jahren, und jegliche Provokation kann derzeit zum Wiederaufflammen des großen Krieges führen. Gefährlich ist aber auch das, was mittelfristig passieren könnte. Denn der Frust Moskaus über die Entwicklungen in der Ukraine ist riesengroß. Spätestens, wenn Nord Stream 2 fertig ist, ist damit zu rechnen, dass Russland die Lage weiter eskalieren lässt, um seinen Einfluss in der Ostukraine auszuweiten. 

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