Staatsbesuch von Erdogan - „Eure Wut kommt zu spät!“

Die Bundesregierung rollt den Roten Teppich aus für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dagegen regt sich Widerstand, auch in der Politik. Die deutsch-türkische Autorin Tuba Sarica fragt, warum sich die Kritik an Erdogan jetzt erst artikuliert

Nicht nur Kurden protestieren gegen den Staatsbesuch Erdogans. Auch von der Opposition kommt Kritik / picture alliance
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Autoreninfo

Tuba Sarica lebt in Köln und schreibt einen Blog über ihre Beobachtungen als Enkelin eines türkischen Gastarbeiters. Im Mai 2018 erschien ihr erstes Buch: Ihr Scheinheiligen!: „Doppelmoral und falsche Toleranz – Die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen“   

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Um meine Gefühle zum Deutschland-Besuch von Recep Tayyip Erdogan steht es anders als noch vor einigen Jahren. Als die AKP an die Macht kam, war ich 14 und wütend. Denn schon damals wusste ich: Erdogan ist ein waschechter Islamist, und er hat vor, die Demokratie zu stürzen. Das wusste ich nicht etwa, weil ich ein junges Genie war. Ich wusste es, weil eine frühere Rede dieses Mannes für alle frei zugänglich auf YouTube zu sehen war. In dieser Rede sagte Erdoğan, man könne nicht sowohl muslimisch als auch laizistisch sein. Er stellte die Rolle des Volkes als Souverän in Frage. Jeder Mensch, der Türkisch spricht, wusste von Anfang an, was Sache war. 

Trotz ihres Wissensvorsprungs haben sich selbst prominente Deutsch-Türken wie der Grünen-Politiker Cem Özdemir und der Journalist Deniz Yücel bewusst dazu entschieden, ihre deutschen Kollegen, die eben kein Türkisch sprachen, NICHT rechtzeitig eindringlich vor Erdogan zu warnen. Beide echauffierten sich lieber darüber, dass Angela Merkel sehr zögerlich war, wenn es um den EU-Beitritt der Türkei ging. Deniz Yücel behauptet noch heute, die Erdogan-Politik sei zu Anfang „demokratischer“ gewesen als die, die er heute praktiziert. Sie, meine deutschtürkischen „Vorbilder“, haben mich, die 14-jährige Türkin, damals im Stich gelassen. Sie haben als Vorbilder versagt. Jetzt tun sie so, als hätten sie von alledem nichts gewusst. Aber im Internetzeitalter kann das niemand mehr glaubwürdig behaupten. Laut der Definition der Bundeszentrale für politische Bildung fängt Islamismus nicht erst mit Terroranschlägen an, sondern dort, wo Politik über den Islam gemacht wird.

Als sei Demokratie ein Schimpfwort 

Ein großer Teil meiner Verwandten lebt in Deutschland. Trotzdem lösten die Worte Erdogans bei ihnen keinen Alarm aus, im Gegenteil. Zunächst freuten sie sich nur klammheimlich, dass ein wichtiger Politiker ihren eigenen Hass auf die Demokratie in Worte fasste. Doch Erdogans Erfolg bestärkte sie darin, diesen Hass ohne Hemmungen auszusprechen. 

Gleichzeitig wuchsen in mir die Liebe zur Demokratie und auch das Bedürfnis, sie zu verteidigen. Doch da ich unter meinen türkischen Verwandten in Deutschland keine Mitstreiter fand, suchte ich sie in der Türkei. Mein Onkel war dort so etwas wie ein Oberstleutnant bei der türkischen Marine. Ihn bat ich, mir Porträtbilder vom Staatsgründer Kemal Atatürk zu schicken, damit ich sie zu Hause aufhängen konnte. Atatürk hatte die Demokratie in der Türkei auf den Weg gebracht. Diese Bilder sollten mich an meine Verantwortung gegenüber der Demokratie erinnern. Als ich eine kleine Auswahl an Bildern bekam und sie auspackte, war gerade meine kopftuchtragende Verwandte zu Besuch. Sie flüsterte meiner Mutter in meine Richtung zu: „Sie verherrlicht Atatürk.“ Später wurde mir klar, was sie wohl gemeint haben müsste. Da Atatürk in erster Linie für die Errichtung einer Demokratie nach dem Ende der mittelalterlichen Staatsform der Monarchie steht, meinte sie damit auch, ich verherrliche die Demokratie, so als sei die „Demokratie“ etwas zu Verachtendes.

Kopftuchverbot und Inhaftierung Andersdenkender 

Wegen solcher Szenen flüchtete ich in den Schulferien gerne mal in die Türkei, um dort unter gleichgesinnten Türken zu sein. Ich besuchte meinen Onkel. Ich bewunderte die Frauen und Männer in ihrer Marine-Uniform. Hier lag das Bestreben nach einer westlich orientierten Demokratie und deren Schutz in der Luft. Hier spürte ich Rückgrat. Am 31. August 2006, ich war mittlerweile 18 Jahre alt, standen die alljährlichen Feierlichkeiten zum Abschluss der Absolventen der Marineschule an. An der nahmen auch der Präsident der türkischen Republik, damals noch Ahmet Necdet Sezer und der Ministerpräsident teil: Recep Tayyip Erdogan. Als die beiden hereinkamen, erhoben wir uns von unseren Plätzen auf der Zuschauertribüne des Stadions, in denen die Feierlichkeiten stattfanden. Und wir spürten alle eine Gänsehaut: Wir wussten, was dieser Mensch sich für die kommenden Jahre vorgenommen hatte. 

Und bis heute, 2018, hat er jeden einzelnen dieser Schritte umgesetzt, die wir haben kommen sehen: Von der Aufhebung des Kopftuchverbotes in Universitäten bis hin zur Inhaftierung Andersdenkender. In den Jahren dazwischen habe ich mir den Mund fusselig geredet, gestritten, Rotz und Wasser geheult und versucht, die Öffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam zu machen, die von Erdogan ausgeht. Ich dachte lange, ich müsse vor allem die Deutschtürken in meinem Umfeld vor Erdogan warnen und ihnen deutlich machen, dass seine Politik einzig auf dem Hass auf die moderne Demokratie beruht. Doch irgendwann stellte ich ernüchtert fest: Die Deutschtürken finden seine Politik nicht deswegen gut, weil sie aus bildungsfernen Familien kommen und es nicht besser wissen können. Sie wissen es ganz genau. Sie finden Erdogan und seine Politik einfach nur gut.

Die Wut auf Erdogan kommt zu spät

Es gibt einen gewissen Punkt, bis zu dem man eine Diktatur noch aufhalten kann. Nämlich den, wenn die diktatorische Regierung ihre Tentakel noch nicht um alle politischen Institutionen geschlungen hat – und wenn vor allem die Justiz noch unabhängig ist. Das waren über 12 bis 14 Jahre, in denen Menschen mit Einfluss wie Cem Özdemir und Deniz Yücel etwas hätten unternehmen können. 12 bis 14 Jahre, in denen es angebracht gewesen wäre, wütend zu sein. Da müsste die Arbeit eines Politikers, eines Journalisten und eines demokratieliebenden Bürgers ansetzen. Nach den Gezi-Protesten und dem so genannten Putschversuch, als auch der deutschen Öffentlichkeit endlich auffiel, dass da eine Demokratie untergeht, standen sie auf der Matte und waren total wütend. Jetzt, wo sich die Probleme nicht mehr verschweigen lassen, ist es „in“ geworden, die Erdogan-Regierung zu kritisieren. Vielen Dank auch, liebe „Vorbilder“, für eure Wut. Sie kommt nur leider um ein ganzes Jahrzehnt zu spät. In meinen Augen könnt ihr euch euer Pseudo-Engagement sparen. 

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