Energieimporte - Interdependenz statt Abhängigkeit

Es ist richtig, die deutsche Energieabhängigkeit von Russland zu beenden. Das kann und darf natürlich nicht heißen, sich von internationalen Handelsbeziehungen abzukoppeln. Und wichtige Rohstoffe können leider nicht allein aus befreundeten demokratischen Staaten importiert werden. Es kommt darauf an, sich nicht von einem einzigen Anbieter abhängig zu machen, um nicht erpressbar zu werden.

Bezugsquellen diversifizieren: Robert Habeck in Katar
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Russlands Angriff auf die Ukraine ist der „11. September“ Europas. Bundeskanzler Scholz hat das erkannt und deshalb von einer Zeitenwende gesprochen. Die offenkundigsten Zeichen dafür sind derzeit die Entscheidung, die Bundeswehr zu Handlungen zu ertüchtigen – denn sie ist für alle ernsten Zwecke aktuell nicht handlungsfähig – und die von einem Angriffskrieg betroffene Ukraine zu unterstützen. Damit will Deutschland bündnisfähig werden.

Das gilt auch für einen anderen Bereich, in dem Deutschland einen Sonderweg verfolgte. Die Energiepolitik muss neu aufgestellt werden, nachdem über zwanzig Jahre lang derzeit nicht mehr vertretbare geostrategische Entscheidungen fielen. Denn die Energieabhängigkeit von Russland war ja Ergebnis bewusster Entscheidungen, zuerst von Bundeskanzler Schröder, der offen das Ziel verfolgt, die Nato aufzulösen, und danach von Bundeskanzlerin Merkel, deren Motive sicherlich noch diskutiert werden. Der Einmarsch Russlands und die Annexion der Krim 2014 lösten jedenfalls keine Neuorientierung aus, weder im Bundeskanzleramt noch bei der SPD. Es mag gut sein, dass nun das Erschrecken über die eigene Handlungsunfähigkeit in militärischen Krisen nun den Entscheidungsschock ausgelöst hat. Das wird später zu erforschen sein.

Das Konzept des Wandels durch Handel ist noch immer kluge Politik

Der Bundeswirtschaftsminister nimmt die Aufgabe an, die Abhängigkeit von Russland bei der Lieferung von Gas zu verringern. Das muss, ebenso wie die Ausrüstung der Bundeswehr, einer Öffentlichkeit erklärt werden, die sechzehn Jahre lang in den öffentlichen Schlaf geredet wurde und nun die Welt nicht mehr versteht. Der Economist hat deshalb zu Recht drei Bedingungen für die Umsetzung der Zeitenwende genannt: dass die Bundeswehr erfolgreich ertüchtigt, dies in eine breitere Strategie eingebunden und von der deutschen Öffentlichkeit unterstützt wird. Letzteres ist von besonderer Bedeutung, denn die Umsetzung wird viele Jahre in Anspruch nehmen, wenn die Schrecken des Krieges möglicherweise nicht mehr so allgegenwärtig sind, sie wird von anderen politischen Kräften unterminiert werden und deshalb immer wieder erklärt werden müssen.

Nach der Pandemie ist der Angriffskrieg Russlands das zweite Ereignis in kurzer Frist, das die Forderung nach Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens in Deutschland aufwirft. Häufig zeigt sich diese Forderung als Quasi-Autonomie, so als müssten Masken, Medikamente und jetzt auch Energie in Deutschland hergestellt werden, um im Falle eines Falles verfügbar zu sein. Das Leitbild scheint internationale Unabhängigkeit zu sein. Das hieße aber, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Nur weil die letzten vier Regierungen die geostrategische Dimension von Interdependenz und deren asymmetrische Ausgestaltung nicht im Interesse der deutschen Gesellschaft berücksichtigt haben, wäre es nun eine zusätzliche Verschlimmerung der Lage, sich weitgehend aus dem internationalen Austausch zurückzuziehen. Der Austausch der Gesellschaften hat kooperationsfördernde Wirkung, und das Konzept des Wandels durch Handel ist noch immer kluge Politik. Leider geht die deutsche Diskussion gerade in eine völlig andere Richtung.

Interdependenz fördert weitere Kooperationen

Wenn Gesellschaften miteinander Handel treiben, beeinflusst das ihre politischen Kosten- und Nutzenkalkulationen. Deshalb fördert Interdependenz weitere Kooperationen, es sei denn, dass eine Seite derart nachlässig ist, dass sie sich in Abhängigkeit begibt. Dann entstehen stark asymmetrische Beziehungen, in der die Kosten für die Auflösung des Verhältnisses (fast) nur bei einer Seite aufschlagen. So wie derzeit in den Energiebeziehungen zu Russland. (Chinas Aufkauf europäischer Unternehmen war ein früheres Beispiel.) Nun ist es nicht nutzbringend, die Wirtschaftsbeziehungen insgesamt einzustellen, weil kein Importeur weiß, wohinein der Exporteur die erlösten Gewinne investiert. Das hätte bei Russland genau beobachtet werden müssen. Auch da waren die vier letzten deutschen Regierungen blind oder haben bewusst weggesehen (das hat nach meiner Kenntnis noch niemand erforscht). Revisionistische Mächte zu Investitionen zu befähigen, ist keine kluge Politik. Allerdings ist nicht immer sicher abzusehen, wann Mächte revisionistisch werden. Gut, bei Russland war das offensichtlich. Gleichzeitig ist mit Blick auf die Versorgungslage wichtig zu akzeptieren, dass wichtige Rohstoffe – ja nicht nur Gas – eben nicht alleine aus befreundeten demokratischen Staaten importiert werden können.

Die Betrachtung der eigenen Interessen in der Energiepolitik führt dann dazu, dass neben der Verfügbarkeit, der stabilen Versorgung und dem Preis (und anderen Faktoren) darauf geachtet werden muss, sich in keine Situation zu begeben, in der man aus der Beziehung heraus verwundbar ist. Verwundbarkeit ist gegeben, wenn keine Alternative verfügbar ist. Dann ist man erpressbar. Das heißt nun nicht, dass sich eine Regierung in einer konkreten Lage auch erpressen lässt. Vielleicht bürdet sie die Kosten ihrer Entscheidungen auch der Gesellschaft auf. Es bedeutet aber, dass die andere Regierung meinen kann, sie erpressen zu können – und auf Grundlage dieser Einschätzung Entscheidungen trifft.

Welche Faktoren auch immer zur Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine beigetragen haben (das werden wir alles viel später erfahren), es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die Uneinigkeit des Westens, die Zerstrittenheit der EU, die Zögerlichkeit der deutschen Regierung und die Energieabhängigkeit dazu beigetragen haben können. Es waren, wie wir jetzt wissen, Fehlkalkulationen seitens Russlands. Das Land hat sich mit dem Krieg politisch und ökonomisch schweren Schaden zugefügt. Deutschland wird sich hingegen weiter auf internationale Handelsbeziehungen einlassen müssen. Wichtig ist, dass dabei keine neuen Abhängigkeiten entsteht. Das weiß jede Kauffrau, die ihre Bezugsquellen diversifiziert und nie von einem Lieferanten allein abhängig sein möchte. Diese Kompetenz war in den letzten vier Bundeskabinetten leider nicht vertreten.

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