Deutsche Wiedervereinigung - Revanche der Geschichte

Soeben veröffentlichte Regierungsdokumente gewären einen neuen Blick auf das Zustandekommen der deutschen Wiedervereinigung – und geben Antwort auf die Frage, ob Moskau vom Westen hintergangen wurde

Erschienen in Ausgabe
Bundeskanzler Helmut Kohl (vorn) und der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow (l) 1990 in Moskau / picture alliance
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Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Im Angesicht des Triumphs auf die Geste der Demütigung zu verzichten, zeichnet echte historische Größe aus. George H. W. Bush, der 41. Präsident der Vereinigten Staaten, und sein Außenminister James Baker III. gelten als Beispiele für diese Staatskunst. Im Herbst 1989 folgten sie nicht den Einflüsterungen derjenigen unter ihren Ratgebern, die damals einer großen Siegesfeier in Berlin nach dem Fall der Mauer das Wort geredet hatten. Der internationale Prozess, der die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit im Jahr 1990 möglich machte, gilt weithin als „Sternstunde der Diplomatie“, so der deutsche Titel eines amerikanischen Standardwerks von Philip Zelikow und Condoleezza Rice, der späteren Außenministerin.

Verhandlungskunst, die Fähigkeit, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen und dessen nächste Bewegungen zu antizipieren, wo nötig, schnelle taktische Wechsel zu vollziehen, das Ergreifen des rechten Augenblicks: All dies zählt zu kluger Diplomatie. Das Jahr 1990 war ein annus mirabilis. Die Geschichte war in Bewegung geraten, und die Vereinigten Staaten konnten den Kalten Krieg unter Umständen beenden, die für sie nicht hätten günstiger sein können. Der Begriff des „unipolaren Moments“ (Charles Krauthammer) erschien für den historischen Augenblick am angemessensten. Neu publizierte Dokumente indes werfen einen Schatten auf den diplomatischen Triumph. Mit lautem publizistischen Begleitgetöse befeuern etliche amerikanische Wissenschaftler schon seit ein paar Jahren eine Debatte darüber, ob mit Blick auf die damals zu verhandelnde Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der Nordatlantischen Allianz Zugeständnisse an die Sowjetunion gemacht worden seien, an die sich der Westen nicht gehalten habe. Der Vorwurf wiegt schwer, als Kavaliersdelikt kann er wohl nicht abgetan werden.

Kontroverse Osterweiterung der Nordatlantischen Allianz

Die renommierte Politikwissenschaftlerin Mary Sarotte, Verfasserin einer Monografie über den Zusammenbruch der DDR, hatte bereits 2014 in einem Artikel in Foreign Affairs ihre These vom „gebrochenen Versprechen“ mit ausführlichen Quellenbelegen begründet. Die jetzt im Netz zugänglichen umfangreichen Dokumente (siehe Kasten) sollen den finalen Nachweis zu dieser These erbringen. Muss auf dieser Grundlage nun die Geschichte über das Ende des Kalten Krieges umgeschrieben werden?

Die Brisanz der These vom gebrochenen Versprechen ergibt sich zuallererst aus seinem Gegenstand. Denn zunächst hat die Nordatlantische Allianz ihre Transformation seit dem Ende des Kalten Krieges ganz wesentlich mit der Erweiterung ihres Bündnisgebiets zulasten des Einflussbereichs der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und der 1991 aufgelösten Sowjetunion vollzogen. Die Osterweiterung der Nordatlantischen Allianz war dann in den neunziger Jahren das große Kontroversthema der europäischen Sicherheit, das die Beziehungen zwischen Amerika und Russland, aber auch die politischen Diskussionen innerhalb Europas nachhaltig belastet hat. Vor allem die ersten beiden Nato-Aufnahmerunden – Polen, Tschechien und Ungarn 1999, sodann 2004 die baltischen Staaten, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien – wurden in Moskau als strategische Schwächung empfunden. Auch changierende Einflusszonenkonzepte, wie das der Doktrin des „nahen Auslands“, mit denen Moskau von Zeit zu Zeit aufwartete, konnten den Nato-Prozess nicht aufhalten. Von Anfang an war die damit verbundene Auseinandersetzung zwischen Russland und der Atlantischen Allianz auch ein Kampf um die Deutungshoheit.

Unter den Augen Stalins: Molotow und Ribbentrop unterzeichnen den Nichtangriffspakt / picture alliance

Einen in der Dimension noch größeren Verstoß gegen das Kooperationsziel, wiederum aus russischer Sicht betrachtet, stellte die amerikanische Position des Frühjahrs 2008 dar, beim Nato-Gipfel in Bukarest im selben Jahr Georgien und die Ukraine mit der Vergabe des Membership-Action-Plan-Status die Tür zu einer späteren Mitgliedschaft in der Allianz unumkehrbar zu öffnen. Der Bukarester Gipfel hat dann zu einer leidenschaftlichen Diskussion des Für und Wider dieser Idee innerhalb der Allianz geführt, bei der grosso modo die Frontlinie entlang der Linien der von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in München im Jahr 2003 getroffenen Unterscheidung zwischen „old Europe“ und „new Europe“ verlief. Am Ende stand die sibyllinische Formel, dass Georgien und die Ukraine „eines Tages“ Mitglieder der Allianz sein werden: einer jener diplomatischen Kompromisse, die das Problem in täuschende Ruhe tauchten, Schlimmeres verhüteten, aber keine der beiden Seiten wirklich zufriedenstellten.

Die Erzählung von der Revanche der Geschichte

Zu jener Zeit war schon die im Mai 1997 in der Grundakte als strategische Partnerschaft angelegte Nato-Russland-Zusammenarbeit mehr und mehr ins Stocken geraten. Im Jahr zuvor nämlich hatte Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz mit seiner Rede für einen kurzen Moment den Vorhang weggezogen und die Sicht auf seine antiwestliche geopolitische Gesamtschau offengelegt. Was ein Weckruf hätte sein können, wurde damals bei den meisten nur mit ungläubigem Staunen abgetan, die Schockstarre hielt nicht lange an. Zu der zeitlichen Abfolge der Betrachtung des Verhältnisses gehört schließlich auch, dass nur wenige Monate nach Bukarest, im Sommer 2008, Abchasien und Südossetien mit Moskaus militärischer Unterstützung ihre Unabhängigkeit erklären konnten und der georgische Widerstand in einem duellartigen kurzen Gemetzel ausgeschaltet wurde. Auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine im Jahr 2014 durch Russland stehen, folgt man der russischen Sichtweise, im ursächlichen Zusammenhang mit jenem Prozess, der einst mit der Ausdehnung der Nato auf das Gebiet der ehemaligen DDR begann.

Die in Moskau gerne gepflegte Erzählung von der Revanche der Geschichte, die für erlittenes Unrecht zu nehmen sei, gehört zum Standardrepertoire des Kreml-Narrativs und lässt ein Grundmotiv der russischen Außenpolitik durchscheinen: Rang und Rolle zu bewahren. Es zählt zudem zu deren Wesenszügen, dass sie in längeren Abständen als dem kurzatmigen Stakkato der Zeitungsschlagzeile des nächsten Morgens zu agieren vermag. Von daher sind die wiederkehrend von Kommentatoren präsentierten, scheinbar neuen Einsichten, Russland sei jetzt wieder auf die internationale Bühne zurückgekehrt, von nur beschränktem Erkenntniswert. Denn in Wirklichkeit hat Russland diese Bühne nie verlassen. Zutreffend ist allenfalls, dass die Schachpartie, die Stalin auf den alliierten Kriegskonferenzen so virtuos zu spielen verstand und die in Potsdam, August 1945, auf unbestimmte Zeit vertagt worden war, von den Amerikanern 1990 aufgegriffen und in einem erkennbaren Moment der Schwäche zu Russlands Ungunsten vorerst beendet worden war. Dass Niederlagen indes nicht von Dauer sein müssen, dafür hat die Geschichte viele Beispiele parat.

Die Verratsthese ist nicht bewiesen

Die Schwere des Vorwurfs und die scheinbar erdrückende Quellenmasse erfordern es, den Verhandlungsprozess selbst Revue passieren zu lassen, nach der Sequenz der Absprachen zu fragen sowie Motive und Kalkül der Beteiligten offenzulegen, mit anderen Worten: klassische Quellenkritik zu betreiben. Es wäre dabei nicht das erste Mal in der Geschichte, dass in geheimen Nebenabsprachen geopolitische Einflusszonen ohne Kenntnisnahme der Zeitgenossen festgelegt worden wären. Mutmaßliche Militärabsprachen zum deutsch-russischen Vertrag von Rapallo 1922 etwa sind bis heute unbestätigt, auch wenn ganz viele Argumente dafürsprechen. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 wurde erst im Nürnberger Prozess einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und sorgte damals für Furore. Und auch jene weitreichende geopolitische Interessenaufteilung, die die Außenminister Ribbentrop und Molotow im November 1940 vollzogen, hätte zum Zeitpunkt ihrer Absprache bei Bekanntwerden wohl ein weiteres politisches Erdbeben in Europa nach sich gezogen.

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts) und der Präsident der USA, George Bush, geben in Camp David eine gemeinsame Pressekonferenz anläßlich ihrer Gespräche über die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten / picture alliance

Um das Ergebnis der Quellenkritik vorwegzunehmen: Die jetzt ins Netz gestellten Schlüsseldokumente sind höchst aufschlussreich, sie werfen auf die damaligen Ereignisse ein bezeichnendes Licht und bestätigen im Wesentlichen die bislang vorliegenden Ergebnisse. Den rauchenden Colt indes, den nachhaltigen Beweis, der Gewissheit für einen historischen Betrug hätte bringen können, bleiben sie schuldig. Zu einer grundlegenden Revision der ereignisreichen Geschichte des Wiedervereinigungsprozesses besteht kein Anlass. Aber es lohnt sich, näher auf die Abfolge und einzelne Akteure zu schauen.

Im Wesentlichen erscheinen mit Blick auf die „Verratsthese“ drei Stränge bemerkenswert, die in ihrem inneren Zusammenhang in jener kurzen Phase zwischen Januar und März 1990 auf russischer Seite zumindest den Eindruck hervorrufen konnten, dass Deutschland nicht als Ganzes Mitglied der Nordatlantischen Allianz würde. Zum einen ist es der Eindruck einer gewissen Isoliertheit von Gorbatschow und seinen innenpolitischen Ratgebern. Der „Mann des Jahres 1990“ (Time Magazine) war damals schon ein Getriebener, stark von innenpolitischen Problemen absorbiert, der den Gang der Geschichte nicht mehr anhalten konnte oder wollte. Die Dokumente lassen Gorbatschows Sorge über einen zu schnellen Ablauf des Wiedervereinigungsprozesses durchscheinen, sie zeigen den Generalsekretär der KPdSU aber bisweilen auch als fahrigen Verhandlungspartner. Zu diesem Bild passt, dass die inzwischen zahlreichen rückblickenden Aussagen Gorbatschows gerade zur Frage der Nato-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands oftmals widersprüchlich und insgesamt wenig verlässlich sind.

Die aufschlussreichen Baker-Memoiren

Sodann, und auch dies ist kein überraschender Befund, sind unterschiedliche Nuancen der Bewertung im amerikanischen National Security Council (Sicherheitsrat) und im State Department (Außenministerium) zu verzeichnen, die sich in den Positionen von Baker und Präsident Bush widerspiegeln. Vernon Walters, der amerikanische Botschafter in Berlin, hatte schon in seinen Anfang der neunziger Jahre veröffentlichten Memoiren die Neigung der siebten Etage des State Department, jenes inneren Zirkels um Außenminister Baker, zur Geheimniskrämerei kritisiert. Seine Berichte aus Bonn wurden Präsident Bush selbst vor der Zusammenkunft mit wichtigen Besuchern aus Deutschland nicht vorgelegt. Baker und Walters waren einander nicht in herzlichem Einvernehmen zugetan.

Dies lässt sich unter anderem aus einer entsprechenden Bemerkung aus den Baker-Memoiren ableiten, die sich kritisch mit Walters Rolle im Herbst 1989 auseinandersetzt. Auch eine Geschichte, der Walters in seinen Memoiren breiten Raum einräumt, erscheint nach der Lektüre der amerikanischen Regierungsdokumente in einem neuen Licht. Danach geriet Botschafter Walters in schwieriges Fahrwasser, als nach einem Hintergrundgespräch in Bonn in der Washington Post ein Artikel erschien, in dem einem amerikanischen Spitzendiplomaten die Aussage zugeschrieben wurde, dass die Einheit Deutschlands wichtiger sei als der Verbleib Gesamtdeutschlands in der Nordatlantischen Allianz.

Genau dies aber war die Linie, die Hans-Dietrich Genscher in den ersten Monaten des Jahres 1990 verfolgte. Kein Zweifel: Kohls freidemokratischer Außenminister wollte die Wiedervereinigung, aber er war dafür wohl auch bereit, einen höheren Preis zu zahlen als andere. Genscher war ein glänzender Verhandler, aber eben auch ein Meister des Ungefähren, der sich mit wolkigen Formulierungen auf vieldeutige Andeutungen verstand.

Hans-Dietrich Genschers Alleingang

Doch nun tritt klarer hervor, was seinerzeit kundige Zeitgenossen gemutmaßt hatten: die ganz offenkundigen Positionsunterschiede in der Frage der Nato-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl, seinem außenpolitischen Berater Horst Teltschik und seinem Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg einerseits und Außenminister Hans-Dietrich Genscher andererseits. Die Dokumente belegen, dass Genscher in der Frage der Nato-Mitgliedschaft seinen eigenen Vorstellungen anhing und sich in Gesprächen mit Baker und Schewardnadse weit aus dem Fenster lehnte. Genscher hatte schon in der außen- und sicherheitspolitischen Arbeitsgruppe des Kabinetts zunächst eine Stationierung der Bundeswehr auf DDR-Territorium als blanke Illusion bezeichnet und in öffentlichen Stellungnahmen die Ausdehnung der Nato-Jurisdiktion als ein „Denken in den alten Kategorien“, eine Baker-Formel, bezeichnet.

Beim Arbeitstreffen im Kaukasus im Juli 1990 überreicht Gorbatschow Kohl Blumen / picture alliance

So entwarf Genscher in seiner Tutzinger Rede am 31. Januar 1990 seine Sicht der europäischen Sicherheitsarchitektur, bei der dem KSZE-Prozess eine maßgebliche Rolle zukam. In dem jetzt zugänglichen amerikanischen Drahtbericht wurde ebenso zutreffend wie besorgt vermerkt, dass die alte Nato-Formulierung von den beiden Pfeilern der Allianz – dem amerikanischen und dem europäischen – in Genschers Rede nicht mehr vorkomme, ein wiedervereinigtes Deutschland zwar noch nominell als Nato-Mitglied bezeichnet würde, Ostdeutschland aber von der Nato-Truppenstationierung ausgespart werden sollte. Das Kabel enthält auch eine Genscher-Formulierung, die von Vertretern der Verratsthese als Bestätigung aufgefasst werden könnte: dass die Nato eine Ostausdehnung, also ein Vorrücken an die sowjetischen Grenzen ausschließen solle. Ähnlich missverständlich hatte sich Genscher gegenüber dem britischen Außenminister Douglas Hurd Anfang Februar 1990 geäußert und auf dessen insistierende Nachfragen lediglich zu einer lakonischen Formulierung gegriffen, deren Zusammenfassung im britischen Regierungsdokument ihre Kargheit anzumerken ist: „The German government wanted neither to extend nor to leave Nato. They wanted the two alliances to become integral parts of all-European structures.“

Präsident Bush kritisierte Genschers Sprachgebrauch

Man braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, dass Douglas Hurd nach diesem Gespräch kaum beruhigend auf seine Premierministerin Margaret Thatcher einwirken und deren Sorgen vor einem größeren Deutschland auflösen konnte. Schon seinerzeit beim berühmten Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls, November 1989, hatte Hurd trocken bemerkt, dass ein elfter Punkt fehle, wonach eine deutsche Wiedervereinigung nicht das europäische Gleichgewicht stören dürfe. In seinen Gesprächen mit dem Außenminister Schewardnadse hatte Genscher noch weiter reichende Zusagen an die sowjetische Seite gemacht. Und seine an die Adresse der Italiener gerichtete brüske Bemerkung bei der Open-Skies-Konferenz in Ottawa, ebenfalls vom Februar 1990 („You are not part of the game“), hat im Palazzo Chigi zu einer nachhaltigen Verstimmung geführt. Diese war Präsident Bush bedeutsam genug, um bei seinem nächsten Treffen mit Bundeskanzler Kohl eine deutliche Distanzierung des deutschen Regierungschefs vom Sprachgebrauch seines Außenministers einzufordern.

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Bundeskanzler Helmut Kohl während der Konferenz am 19. November 1990: „Genschers Kontrapunkt zu Kanzler Kohl kann auch als Loyalitätsverstoß gewertet werden.“ / picture alliance

Kohls gegenüber Bush angeführte Erklärung, Genscher habe Probleme mit seiner Partei, den Freien Demokraten, ist freilich nur die halbe Wahrheit. Aus der Vielzahl der jetzt zugänglichen Quellen tritt eindeutig hervor, dass Außenminister Genscher in den entscheidenden ersten Monaten des Jahres 1990 in einer außenpolitischen Schlüsselfrage für das wiedervereinigte Deutschland andere Wege ging als der mit der Richtlinienkompetenz ausgestattete Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Ganz zwangsläufig musste dies im Ausland zu einem widersprüchlichen Bild führen, zumal die von Helmut Kohl aus taktischen Gründen gegenüber den Amerikanern referierte Einschätzung, Generalsekretär Gorbatschow habe keine Einwände gegen die Wiedervereinigung, vor allem der deutschen Interessenlage entsprach und von Kohl wohl aus diesen taktischen Motiven heraus überstrapaziert wurde.

Kein Anlass zur Umschreibung der Geschichte

Im Blick zurück wird deutlich, dass ein uneingeschränkter Nato-Status für Gesamtdeutschland in der Tat eine zentrale Frage des Wiedervereinigungsprozesses war. Insbesondere auf bundesdeutscher Seite, aber in Teilen auch innerhalb der amerikanischen Administration gab es unterhalb der Ebene des Präsidenten in einem sehr kurzen Moment dazu divergierende Auffassungen. Hans-Dietrich Genscher setzte bewusst einen Kontrapunkt zu Kanzler Kohl, der auch als Loyalitätsverstoß gewertet werden kann. Der zeithistorischen Forschung steht hier wohl noch die Auflösung manchen Rätsels bevor. Dieser Befund darf jedoch nicht mit einer Bestätigung der These vom gebrochenen Versprechen verwechselt werden.

Die These von der Täuschung großen Stiles kann jedenfalls mit den jetzt frei gewordenen Dokumenten nicht gestützt und muss daher ins Reich der Legende verwiesen werden. Es zählt zudem zur Natur von Verhandlungen, dass es dabei immer auch darum geht, in den einzelnen Phasen Positionen auszuloten und das Terrain abzustecken. Eine realistische, dauerhafte Option wäre die Teilung des Bündnisgebiets auf deutschem Boden ohnehin nicht gewesen. Spätestens nach der Wiedererlangung der vollen Souveränität mit dem Inkarnieren des Zwei-plus-Vier-Vertrags im März 1991 hätte sie die deutsche Bundesregierung durch den Antrag auf Vollmitgliedschaft kassieren können. Der Washingtoner Vertrag bestimmt klar den geografischen Geltungsbereich, und der in der Erweiterungsstudie des Jahres 1995 festgehaltene Nato-Grundsatz der offenen Tür hätte auch dem wiedervereinigten Deutschland nicht versagt werden können. Selbst ein gewandeltes Russland könnte, wenn es wollte und die Aufnahmevoraussetzungen erfüllte, eines Tages zu den Mitgliedern der Nordatlantischen Allianz zählen.

Die Dokumente: Im Dezember 2017 wurden vom National Security Archive (http://nsarchive.gwu.edu) amerikanische Regierungsdokumente ins Netz gestellt, die bis dahin als geheim eingestuft waren. Bei deren Veröffentlichung wurde der Anspruch erhoben, dass im Zuge des Einigungsprozesses 1990 der sowjetischen Seite zugesichert worden sei, im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands auf eine Ostausdehnung der Nato zu verzichten. Der Streit darüber, wer in diesem Zusammenhang wem was zugesichert habe, dauert bis heute an.

Dies ist ein Text aus der März-Ausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.












 

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