Der Präsident als Verschwörungstheoretiker - Für Putin hat die Fortführung des Krieges Priorität

Gestern wurde im Kreml eine Sitzung über die Situation der russischen Wirtschaft abgehalten. Neben vielen hohen Staatsbeamten dabei: Präsident Wladimir Putin. Die Wirtschaft ist in seinem Referat nur ein Unterthema. Stattdessen sucht Putin fieberhaft nach Kriegsgründen. Und er wähnt sich von Volksfeinden und Verrätern umgeben. Das zeigt nicht zuletzt, dass ihm der Faktor Wirtschaft weitgehend egal ist.

Griff in seiner Rede zu wüsten Beschimpfungen: Wladimir Putin
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Die „realistische“ Denkschule in der Theorie der Internationalen Beziehungen beruht im Grunde auf utopischen Vorannahmen: Jeder Staat, egal ob demokratisch oder nicht, vertritt auf der Weltbühne seine legitimen Macht- und Wirtschaftsinteressen auf eine rationale Weise. Durch Verhandlungen und Zugeständnisse kann man immer auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Der zielorientierte Ansatz lautet hierbei: Wenn man der Gegenseite signalisiert, dass man keinen Krieg will, dann wird sie auch keinen vom Zaun brechen. Denn Krieg ist bloß Politik mit anderen Mitteln.

Es gibt dabei nur ein Problem. Was soll man tun, wenn man es mit einem Akteur zu tun hat, dem nicht nur die Spielregeln der „realistischen“ Außenpolitik, sondern auch die Wirtschaftsinteressen seines eigenen Landes egal sind? Der also bereit ist, um jeden Preis Krieg zu führen? 

Wenn man nach einer Antwort auf Putins Verhalten sucht, darf man nicht nur auf die Berichte von der Front schauen – auf die Bombardements von Krankenhäusern und Flüchtlingstrecks, auf den Einsatz von Fassbomben, Streumunition und thermobarischen Raketen. Man muss auch untersuchen, was in seinem Kopf vorgeht. Erst durch eine Analyse von Putins Motiven kann klar werden, womit wir es bei diesem Krieg zu tun haben und wie sich darauf reagieren lässt. Dankenswerterweise liefert er hierfür selbst regelmäßig die Steilvorlage – wie etwa gestern während einer Rede im Kreml.

Das Narrativ von den unterdrückten Russen im Donbass

Schon seit acht Jahren behauptet Putin, dass die Ursache für den Krieg in der Ukraine innerukrainischer Art sei: Die „Neonazi-Regierung“ unter Petro Poroschenko, die nach dem Sturz Janukowitschs im Jahr 2014 an die Macht gekommen sei, habe die in der Ostukraine lebenden „ethnischen Russen“ brutal unterdrückt. Daher hätten sich die bedrängten Regionen von der Ukraine abgespalten. Die Regierung seines Nachfolgers Wolodymyr Selenskyj würde diese Politik nicht nur fortführen, sondern auch die Rückeroberung des russischen Donbass und der Krim anstreben. Daher hätten die betroffenen Regionen jetzt Russland um Hilfe gerufen, damit es sie vor einem Genozid retten könne. 

In der neuesten Version lautet Putins Kriegsrechtfertigung so: „Es geht darum, unserem Volk im Donbass zu helfen, das seit fast acht Jahren mit barbarischsten Mitteln … einem regelrechten Völkermord ausgesetzt ist. Und wofür? Nur weil sie sich um elementare Menschenrechte bemühten – nach den Gesetzen und Traditionen ihrer Vorfahren zu leben, ihre Muttersprache zu sprechen und ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es wollten.“

Eines muss an dieser Ausführung stutzig machen. Schließlich leben nicht nur in Donezk und Luhansk russischsprachige Menschen, sondern auch in Kramatorsk, Konotop, Cherson, Melitopol, Mariupol und Charkiw. Diese Städte sind neben Donezk und Luhansk ursprünglich Janukowitschs Machtbasis gewesen – es ging ihnen nicht um einen Anschluss an Russland, sondern um eine größere regionale Autonomie. Und ausgerechnet sie wehren sich mit allen Mitteln gegen den russischen Einmarsch: Die russischen Streitkräfte werden dort als Besatzer wahrgenommen. Und die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gelten dort als mafiöse Marionettenstaaten. 

Denn die Menschen in den Nachbarregionen dieser russischen Satelliten haben in den letzten acht Jahren genau beobachten können, wie das Leben in Donezk und Luhansk aussieht: Die Bevölkerung wird dort nicht mehr durch „ukrainische Neonazis“, sondern von russisch-chauvinistisch gesinnten Banditen schikaniert. Die einzige Möglichkeit, dort irgendwie an Geld zu kommen, ist der Dienst als Söldner bei den genannten Rebellenführern. Vor ihnen fühlt sich aber die Bevölkerung nicht sicher: Sie halten sich vor allem durch Einschüchterung an der Macht. „Mit seiner Strategie, Konflikte zu produzieren, hat Putin die pro-russische Stimmung in der Ukraine getötet“ – so bringt der amerikanische Analyst Kamil Galeev auf Twitter die Situation präzise auf den Punkt.

Der rhetorische Trick der Täter-Opfer-Umkehr

Aber kommen wir noch einmal zu Putins Rede zurück. Für ihn ist selbstverständlich nicht Russland der Aggressor, sondern die Ukraine. Die habe sich nämlich nicht nur den Donbass und die Krim zurückholen wollen, sondern auch – und hier könnte der eine oder andere Leser vom Hocker fallen – Atom- und Biowaffen entwickeln wollen, um dann als Nato-Mitglied einen Angriff auf Russland zu starten. Russland habe also einfach keine andere Wahl gehabt, als die „spezielle Militäroperation“ zu starten, weil die Ukraine Russland bedrohen würde. O-Ton Putin: „Damit sind alle diplomatischen Möglichkeiten vollständig ausgeschöpft. Wir hatten einfach keine Möglichkeit, die Probleme, die ohne unser Verschulden entstanden waren, friedlich zu lösen. So waren wir einfach gezwungen, eine spezielle Militäroperation zu starten.“

Es ist zwar schon seit den 1930er-Jahren innerhalb Krieg führender Staaten unpopulär, den Angriffskrieg einen Angriffskrieg zu nennen und den Kriegsminister einen Kriegsminister. Selbst wenn man die angreifende Macht ist, schreibt man es sich immer auf die Fahne, dass man sich eigentlich nur verteidigen würde. Aber es ist besonders hanebüchen, die Lage rückblickend so darzustellen, als hätte Russland keine andere Wahl gehabt, als diesen Krieg zu beginnen – einen Angriffskrieg, dem unerfüllbare Forderungen an die Ukraine und den Westen vorausgegangen waren. Einen Krieg, über den zuvor nur ein interner Zirkel des Kreml vorab informiert worden war. Und der nach Putins Einschätzung trotz hoher russischer Verluste ganz nach Plan verläuft.

Die russischen Angriffe auf Krankenhäuser oder Kinderheime in Mariupol muss Putin freilich verschweigen. Stattdessen behauptet er, dass es die Ukrainer selbst seien, die im Donbass „wahllos zuschlagen, mit dem Fanatismus und der Raserei der Verdammten – wie die Nazis, die in den letzten Tagen des Dritten Reiches versuchten, so viele unschuldige Opfer wie möglich mit ins Grab zu nehmen“. Die Täter-Opfer-Umkehr wäre hier fast perfekt. Vorausgesetzt den Fall, die Russen hätten nicht die Möglichkeit, sich mithilfe alternativer Quellen selbst zu informieren.

Putin sieht Russland umzingelt

Es fällt zunächst auf, dass Putin alle wirtschaftlichen Fragen als politische und damit also als persönliche Angelegenheiten betrachtet. Russlands Wirtschaftskrise sei allein vom Westen provoziert worden; er sei auch aufgrund seiner Sanktionen dafür verantwortlich, wenn arme Regionen Hungersnöte befürchten müssten. Dass es russische Panzer sind, die zurzeit über ukrainische Weizenfelder rollen, spielt für ihn keine Rolle – Hauptsache, das Feindbild stimmt. Russland wird hier von jeder Verantwortung entbunden. Im Gegensatz zur sonst so lautstark vorgetragenen imperialen Rhetorik vom „großen“ und „starken“ Russland erscheint es hier eher als ein passiver Spielball, der mit bloßen Reflexen auf äußere Reize reagiert und keinen inneren Willen oder eigene Agenda hat. 

In Putins Rechnung sollen die westlichen Sanktionen dabei das Volk nur noch fester mit seiner Führung zusammenschweißen: „Die führenden Politiker des Westens verhehlen nicht mehr, dass die Sanktionen nicht gegen Einzelpersonen oder Unternehmen gerichtet sind, sondern dass sie unsere gesamte Binnenwirtschaft, unseren sozialen und humanitären Bereich, jede Familie, jeden Bürger Russlands treffen“, so Putin. Und die angebliche Diskriminierung russischer Bürger im Westen sei genauso schlimm wie „die antisemitischen Pogrome, die von den Nazis in Deutschland in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts veranstaltet wurden“. Darunter macht es Putin nicht.

„Die Schlüsselrolle bei der Überwindung der derzeitigen Probleme sollte die Privatwirtschaft spielen, die in der Lage ist, die Logistik umzustrukturieren, neue Lieferanten zu finden und die Produktion von gefragten Produkten in kurzer Zeit zu steigern. … Wir müssen auf den Druck von außen mit einem Höchstmaß an unternehmerischer Freiheit und Unterstützung für unternehmerische Initiativen reagieren“, so Putin. Wie unternehmerische Innovation in einem Land aussehen soll, das außer Kalaschnikow-Sturmgewehren kaum etwas aus eigener Kraft und mit eigenen Ressourcen produzieren kann, bleibt Putins Geheimnis. Und es wäre zu fragen, wer unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft im heutigen Russland überhaupt noch Geschäfte machen will – einige Oligarchen mit Offshore-Konten einmal ausgenommen.

Auf der Suche nach Volksfeinden und Verrätern

Dass Putin sich in Russland ständig von Feinden und Verrätern umgeben wähnt, ist nichts Neues. Es ist schon in einigen Medien über die acht Generäle berichtet worden, die Putin aufgrund der ausgebliebenen Einnahme Kiews entlassen hatte. Und darüber, dass sich der Chef der FSB-Auslandsabteilung Sergej Beseda unter Hausarrest befindet. Dieser habe falsche Informationen über die Ukraine verbreitet, sagt Putin – womit etwa die Behauptung gemeint sein dürfte, die Ukraine sei militärisch so schwach, dass man sie in wenigen Tagen erobern könne. Auf den Gedanken, dass das ein hausgemachter Fehler seines eigenen Systems ist, kommt Putin natürlich nicht: In einer Autokratie kommen naturgemäß nur diejenigen nach oben, die dem Staatsoberhaupt nach dem Mund reden. Alle anderen werden aus dem Apparat herausgesäubert oder frühzeitig in den Ruhestand versetzt.

In seiner neuesten Rede greift Putin aber nicht bloß seine Funktionäre an. Es geht ihm auch um die russischen Bürger, die die russische Invasion in die Ukraine missbilligen. Er überzieht sie mit wüsten Beschimpfungen: Sie seien „Landesverräter“, eine vom Westen bezahlte „fünfte Kolonne“, deren Ziel es sei, Russland zu zerstören. „Ich verurteile keineswegs diejenigen, die eine Villa in Miami oder an der Côte d’Azur haben, die auf Gänseleberpastete, Austern oder so genannte sexuelle Freiheiten nicht verzichten können“ – womit wohl einige russische Oligarchen gemeint sein dürften. „Das ist absolut nicht das Problem. Sondern, ich wiederhole, das Problem ist, dass viele dieser Menschen geistig dort sind und nicht hier, nicht bei unseren Leuten, nicht bei Russland.“ 

Es geht weiter mit Beleidigungen, die Putin dem russischen Kriminellen-Slang entlehnt hat: „Solche Leute“ – gemeint sind die „Verräter“ – „sind bereit, ihre Mutter zu verkaufen, wenn sie nur im Vorzimmer dieser Oberschicht sitzen dürfen. Sie wollen so sein wie sie und sie auf jede erdenkliche Weise nachahmen. … Aber jede Nation, und erst recht das russische Volk, kann wahre Patrioten immer von Schurken und Verrätern unterscheiden und sie einfach ausspucken, wie eine Fliege, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist. Ich bin überzeugt, dass diese natürliche und notwendige Selbstreinigung der Gesellschaft unser Land, unsere Solidarität, unseren Zusammenhalt und unsere Bereitschaft, sich jeder Herausforderung zu stellen, nur stärken wird.“

Die Nation als Volkskörper, der „Volksverräter“ als entbehrlicher Parasit, den die Gesellschaft wie eine Fliege „ausspucken“ würde – eine solche Rhetorik müsste uns hierzulande gut genug bekannt sein, um sie als gefährliche Propaganda zu enttarnen. Es zeugt von der Schizophrenie des russischen Regimes, dass gerade derjenige sie in den Mund nimmt, der – in einer klassisch antisemitischen Umkehr – die Ukraine von ihrem jüdischen Präsidenten „denazifizieren“ will.

Putins Wahnwelt und die Antwort des Westens

Ferndiagnosen sind immer heikel. Es sei aber dennoch auf einen Text der Psychoanalytikerin Nancy Hartevelt Kobrin verwiesen, die treffend von „Putins verkehrter Welt“ spricht: „‚Was gut ist, das ist schlecht und was schlecht ist, das ist gut‘ ... Das ist sehr verwirrend und dissoziativ, wenn man nicht in einer psychotischen Welt lebt. Sobald man jedoch beginnt, Putins Verhalten anhand dieser einfachen Regel ‚was gut ist, das ist schlecht‘ zu entschlüsseln, wird es viel einfacher, sich auf ein solches psychotisches, zerstörerisches Verhalten einen Reim zu machen.“

Um also noch einmal auf den Anfang des Artikels zurückzukommen: Es ist geboten, auf Putins „verkehrte Welt“ mit einer Demonstration der Stärke zu reagieren. Das wäre die einzige realistische Option. Wer ununterbrochen blufft, wer sich über alle internationalen Vereinbarungen hinwegsetzt, wer ein Nachbarland überfällt und ihm dann auch noch rückwirkend die Schuld dafür in die Schuhe schiebt, der sollte nicht mit Zugeständnissen des Westens rechnen dürfen.

So viel vorweg: Über die Wahl der jeweiligen Mittel, um Putin zu stoppen, kann gern kontrovers gestritten werden. Das Ziel einer Eindämmung Russlands sollte aber innerhalb der transatlantischen Allianz unumstritten feststehen. Denn nur ein klarer Kurs des Westens kann dem Blutrausch des Kremlführers Einhalt gebieten. Alles andere würde ihn nur dazu ermutigen, weiterzumachen und seine Forderungen gegenüber dem Westen immer weiter in die Höhe zu treiben.

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