Coronavirus und Brexit - Auf Großbritannien kommt ein doppelter Schock zu

Trotz Covid-19-Chaos und zu erwartender Wirtschaftsrezession lässt Boris Johnson von seinen harschen Brexit–Plänen nicht ab. Bestsellerautor Philip Pullman möchte den Premierminister dafür vor Gericht stellen.

Boris Johnson ist nach seiner Covid-19-Erkrankung noch nicht nach Downing Street zurückgekehrt / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Der britische Bestsellerautor Philip Pullman möchte Boris Johnson „wegen Verschwörung zum Mord“ anklagen. In einem Essay, das soeben bei Penguin in der Reihe „Perspektiven“ erschienen ist, erläutert Pullman, dass Boris Johnson vor Gericht gestellt werden sollte, falls sich herausstellt, dass Großbritannien sich „aus Brexit-Gründen“ nicht an einem Beschaffungsprogramm der EU beteiligt hat, bei dem sich Mitgliedsstaaten gemeinsam große Mengen an Schutzkleidung bestellen konnten. 

Ein hoher Beamter des Außenministeriums hatte Abgeordnete darüber informiert, die Briten hätten sich „aus politischen Gründen“ nicht an der EU-Initiative beteiligt. Sir Simon McDonald zog diese Aussage zwar am Dienstag zurück und sagte, man habe gar nichts von diesem Beschaffungsprogramm gewusst. In Brüssel gab eine EU-Kommissionssprecherin allerdings zu Protokoll, dass die Briten sehr wohl über die EU-Initiative informiert worden wären und sich dazu entschlossen hätten, nicht teilzunehmen. 

Die Nerven liegen blank

Im Vereinigten Königreich liegen die Nerven blank. Seit Wochen fehlt es in britischen Krankenhäusern an Schutzausrüstung. Laut der Tageszeitung The Guardian sind bereits über 100 Ärzte und Pfleger an Covid-19 gestorben. Die Coronakrise wurde von der britischen Regierung wochenlang mit „Herdenimmunität“ behandelt, eine Strategie, die sich verheerend ausgewirkt hat. Statt Tests, Kontaktprüfung von Infizierten und physischer Distanzierung wie in Deutschland propagierte Premierminister Boris Johnson freie Ansteckung, um Covid-19 zu besiegen.

Erst am 21. März revidierte er seine Strategie, ließ Restaurants zusperren und forderte seine Landsleute auf, zu Hause zu bleiben. Das Resultat: Nach offiziellen Zahlen, die von Boris Johnsons Ministern beim täglichen Briefing in der Downing Street verkündet werden, sind bereits knapp 20.000 Briten am Coronavirus gestorben. Im Vergleich dazu die Covid-19-Opferzahl aus dem bevölkerungsreicheren Deutschland: 5.000.

Zu spät in den Lockdown

Die Tageszeitung „Financial Times“ hat die Zahlen des „Office for National Statistics“ allerdings analysiert und nicht nur die in britischen Krankenhäusern Verstorbenen eingerechnet. Ihr Fazit: „Die Coronavirus-Pandemie hat im Vereinigten Königreich bereits 41.000 Tote gefordert.“ „In öffentlichen Krankenhäusern kann man schneller Todesursachen und Zahlen feststellen, in den zumeist in privater Hand befindlichen Seniorenheimen geht das nicht so schnell“, erläutert der britische Umfragen-Guru Peter Kellner, bis 2016 Präsident des Instituts YouGov, gegenüber Cicero. „Nach der Krise wird es einen Untersuchungsausschuss geben, da wird sich herausstellen, dass wir zu spät in den Lockdown gegangen sind. Spitäler und Pflegeheime waren da längst Virus-Streuer, und man hat den Leuten nicht gesagt, wie gefährlich das war.”

Tatsache ist: Im Vereinigten Königreich kann die Regierung nicht mal genau angeben, wie viele Menschen an der weltweit grassierenden Seuche gestorben sind. Seit einem Monat liegt das öffentliche Leben in Großbritannien still, die gravierenden wirtschaftlichen Folgen sind, wie auch in Deutschland, noch nicht abzuschätzen, weil niemand weiß, ob es zu einer zweiten Infektionswelle kommt, wenn die Isolierung aufgehoben wird. 

Die Briten sind nicht die Priorität

Was noch erschwerend hinzukommt: Großbritannien, das am 31. Januar aus der EU offiziell ausgetreten ist, sollte in diesen Monaten auf Hochtouren mit der EU über die zukünftigen Beziehungen verhandeln. Davon kann aber derzeit coronabedingt keine Rede sein. Ein weitreichendes Handelsabkommen  - im Umfang etwa mit dem EU-Abkommen mit Kanada zu vergleichen – sollte in wenigen Monaten in groben Zügen stehen, damit es bis Ende des Jahres in Gesetzestext gegossen und EU-weit ratifiziert werden kann. Die britische Regierung hat per Gesetz ausgeschlossen, die Brexit-Übergangsphase, die am 31. Dezember 2020 endet, zu verlängern.

Derzeit fällt es allen Seiten nicht leicht, an ein schnelles Verhandlungsergebnis in so kurzer Zeit zu glauben. Der britische Premierminister erkrankte selbst derart schwer an Covid-19, das er nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation jetzt zur Rekonvaleszenz auf dem Landsitz der britischen Premierminister Checkers Court weilt. Da sich die politische Macht im Staat seit Johnsons überwältigen Wahlsieg im Dezember auf den 55jährigen Konservativen zentriert, können in seiner Abwesenheit keine schwerwiegenden Entscheidungen getroffen werden. Auch EU-Chefverhandler Michel Barnier ist erst gerade wieder von einer Covid-19-Erkrankung genesen. In Brüssel hat man generell die Hände voll zu tun mit der Corona-Bewältigung. Die bereits ausgetretenen Briten sind nicht die Priorität.

Im Brexit-Wald

Klappt das Abkommen nicht, kippt Großbritannien ohne Abkommen aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion. Die britische Wirtschaft müsste einen Doppelschock verkraften: eine Covid-19-bedingte Rezession und eine Neuregelung der Exporte auf Basis der Welthandelsorganisation WTO. Britischen Businessvertretern stehen die Haare zu Berge. Deshalb hoffen alle Seiten, dass Boris Johnson doch noch um eine Verschiebung der Übergangsphase um ein bis zwei Jahre ansucht. Mitten im Coronadrama wäre das ohne Gesichtsverlust möglich. 

Downing Street aber behauptet steif und fest, an eine Verschiebung der Gespräche nicht einmal zu denken. Das hat einen Grund. Der rechtskonservative Daily Telegraph etwa bezeichnet den jetzigen Zustand, in dem sich das Vereinigte Königreich hinsichtlich der EU befindet, mit dem deutschen Wort „Ersatz-Mitgliedschaft“. Johnson hat seine Mannen und die sympathisierenden Medien tief in den Brexit-Wald hineingeritten. So leicht kommt man aus dem sagenumwobenen Dickicht an antieuropäischen Mythen nicht mehr heraus. „Brexit ist der Kitt, der Boris Johnsons Regierung zusammenhält“, schreibt Tony Barber in der Financial Times: „Schrille Rhetorik und offene Lügen über Immigration waren Teil des Rezepts, das den Brexit-Truppen den Sieg beim EU-Referendum 2016 beschert hat“.

Erstmals kein Gedränge

Brüssel hofft, dass London einlenkt und um Verschiebung bittet. London lässt ausrichten, dass selbst dann, wenn Brüssel London darum anfleht, sich noch ein bis zwei Jahre mit dem endgültigen Austritt Zeit zu lassen, dies nicht in Frage komme. Besonnene Stimmen in Downing Street raunen Journalisten zu, dass die Hoffnung besteht, sich auf eine Kompromisslösung zu einigen. Der britische Austrittsvertrag aus der EU sieht die Einrichtung eines gemeinsamen Ausschusses vor, der die Einhaltung des Vertrages überwachen soll. In diesem Joint Committee könnte man sich eventuell auf eine Verschiebung der Brexit-Übergangsphase einigen. Ob sich die besonnenen Stimmen durchsetzen, werden die nächsten Wochen zeigen. Erst muss Boris Johnson nach Downing Street zurückkehren. 

In London wartet die neue Normalität auf ihn. Als die Abgeordneten nach der Osterpause am Mittwoch wieder zu den Prime Minister’s Questions ins Unterhaus strömten, gab es erstmals kein Gedränge auf den grünen Bänken. Nur 50 Abgeordnete durften hinein. Der Rest wurde über Videoscreens zugeschaltet, um Außenminister Dominic Raab, dem Stellvertreter des erkrankten Premierministers, Fragen zu stellen.
 

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